Die Sehnsucht nach dem feministischen Hauptwiderspruch
Eine Antwort auf Tove Soiland
"Dekonstruktive Ansätze haben den Feminismus entwaffnet." Statt die Stellung der Frauen in der kapitalistischen Ausbeutung zu kritisieren, hätten sich die Gender Studies auf die Kritik geschlechtlicher Identitäten zurückgezogen, schrieb Tove Soiland in ak 558. Die queeren Konzepte passten perfekt zu den Markterfordernissen im flexiblen Postfordismus. Dieser These widerspricht Tim Stüttgen. Queere Lebensweisen seien nicht besonders erfolgreich, sondern besonders prekär. Und die Geschichte des Feminismus zeige: Anstatt vermeintliche Vereinheitlichungen anzustreben, sollten antisexistische Kämpfe aus einer Position vielfältiger Gender-Identitäten sprechen.
Ich muss zugeben, ich habe Tove Soilands Artikel "Queer, flexibel, erfolgreich" in der letzten Ausgabe von ak mit einer Mischung aus Faszination und Enttäuschung gelesen. Grundsätzlich ist es sicher sinnvoll, die jüngeren Entwicklungen der Gender und Queer Studies mit marxistisch-feministischen Grundfragen zu konfrontieren. Das fade Ergebnis dieser an sich spannenden Konfrontation besteht darin, dass queere Politiken den Feminismus zersetzt hätten und ein neoliberales Erfolgprojekt seien. Diese Brandmarkung ist jedoch ebenso langweilig wie kurzsichtig.
Soilands Kritik an queeren Konzepten ist altbacken
Es gibt eine etwas zynische Anekdote zu einem Text des marxistischen Kulturkritikers Frederic Jameson. Um zwischen einer gehaltvollen und kritischen Moderne und einer angeblichen affirmativen und warenförmig geblendeten Postmoderne zu unterscheiden, betrachtet Jameson zwei Gemälde. Das erste Bild ist von Vincent Van Gogh, es zeigt zwei geschundene Arbeiterstiefel, die sofort auf den Zusammenhang von Kapitalismus, Arbeit und Alltag verweisen. Diesem Bild stellt James - als dialektisches Negativ und Zeugnis postmoderner Verblendung - eines von Andy Warhol gegenüber, das neonfarbene High Heels abbildet. Jamesons Urteil: Andy Warhols Bild sei oberflächlich und sensationsheischend wie die angeblich apolitische Postmoderne. Es dauerte nicht lange, bis queere Theoretikerinnen darauf hinwiesen, dass Warhols Bild die High Heels einer transsexuellen Sexarbeiterin abbildete.
Ich würde diese Anekdote von der transsexuellen Sexarbeiterin gerne im Hinterkopf behalten, wenn ich Soilands Argumentation betrachte.
Tove Soiland meint, die performative Wende der Gender Studies habe die materiellen Grundlagen des Feminismus untergraben. Durch Akademisierung und popkulturellen Hype habe sie die Subjekte feministischer Kämpfe in eine Vielzahl sozialer Positionen aufgesplittert; die feministische Kollektivität ist versaut. Schuld an dieser Fragmentierung sei die Dekonstruktion. Sie habe die Geschlechtskategorien und das System der Zweigeschlechtlichkeit dermaßen dekonstruiert, dass die gemeinsame Basis für feministische Kämpfe verschwunden sei. Alles, was übrig bleibe, seien selbstbezogene Individualismen: Popfeminismus und queerer Maskenball.
Diese Diagnose ist falsch. Sicher kann die Vulgärnormalisierung der Theorien von Judith Butler, die in deutschsprachigen Kontexten zu beobachten ist, auch an ihre Grenzen kommen. Eine Theorie von Macht auf soziale Positionen und Geschlechter-Performanzen zu begrenzen, führt nicht immer weit genug. Ich gebe auch gerne zu, dass der akademische Alltag Disziplinen mit politischem Anspruch auf die Dauer selten gut tut. Doch die Dekonstruktion mit der Begründung zu verabschieden, dass sie die Formierung der Frauen zum kollektiven Subjekt verhindere, ist ungefähr so sinnvoll wie zu behaupten, dass die Dekonstruktion des Warenfetischs die Arbeiterklasse zerstöre. Ideologie- und diskurskritische Ansätze sollten eigentlich ohne Probleme mit kapitalismuskritischen und marxistischen Ansätzen Hand in Hand gehen.
Wenn wir noch einmal an die transsexuelle Sexarbeiterin in Andy Warhols Kunstwerk denken, dann ist eines eindeutig: Die Transgender-Person gehört trotz glamouröser Farben und Oberflächen - ihrer High Heels oder anderer Teile ihres Körpers - nicht zu den GewinnerInnen des derzeitigen Systems. Weder geht es der Transgender-Person um einen Maskenball, wie es Soiland nahe legt, noch performt sie ihren Gender mit dem Ziel, subversiv zu wirken.
Queere Lebensentwürfe sind prekär, nicht erfolgreich
Der erste Teil von Soilands These, dass Befreiungskämpfe von 1968 für andere Lebens- und Arbeitswelten im Laufe der Zeit zu Bausteinen im Programm des Neoliberalismus wurden oder gar sein Erscheinungsbild prägten, ist noch nachvollziehbar. Dass jedoch gerade minoritäre und vormals ausgegrenzte Subjekte heute als angeblich flexible Markt-Gewinner auf der Bühne stehen, ist falsch. Transgender-Frauen, um bei dem Beispiel zu bleiben, sind nämlich nicht nur sehr häufig arbeitslos und in größeren Gruppen einzig in der Sex-Industrie anzutreffen. Sie sind offensichtlich prekär - sowohl in ihrer Geschlechterposition als auch in ihren Arbeitsverhältnissen.
Diese Prekarität wegen einer Handvoll dekonstruktiver Phrasen zu einem neoliberalen Projekt zu erklären, ist vielleicht das brutalste Manöver Tove Soilands. Hier setzt sie gesellschaftliche Kämpfe mit den Folgen ihres Scheiterns gleich und erklärt darüber hinaus gleich noch VerliererInnen der gesellschaftlichen Ordnung zu ihren GewinnerInnen. Ebenso gut könnte man aus Gangster-Rap-Videos schließen, dass alle MigrantInnen schnelle Autos fahren und goldene Ketten tragen.
Etienne Balibar hat einmal beschrieben, wie im Spätkapitalismus das widersprüchliche Gezerre um Identität doppelt gewaltvoll gestaltet wird. Einerseits fordert der Markt immer mehr Flexibilität. Andererseits verlangen der Staat und seine Institutionen von seinen BürgerInnen identitäre Vereindeutigung. Neue Formen der Überwachung der BürgerInnen als Konsum- wie als Staats-Subjekte entstehen synchron zu angeblich neuen Freiräumen der Handlungsfähigkeit. Wenn die entgrenzenden Kräfte des Neoliberalismus alte Geschlechterregime in Teilen wegspülen, kann das den meist unter Repression - nicht unter Erfolg - leidenden und lebenden Queers nur recht sein. Trotzdem ist es unwahr, den Neoliberalismus als endlose Welle polysexuellen Glücks zu beschreiben, von dem gerade Queers am meisten profitieren würden.
Feminismus braucht Vielheit, keine falsche Einheit
Leider wiederholt Tove Soiland mit ihren Thesen eine alte, ressentimentgeladene Argumentationsstruktur, die gerade die dogmatischeren Teile der Linke anfangs gegen feministische Positionen vorbrachten: Es ist die so altbekannte wie altbackene Aufteilung der Welt in Haupt- und Nebenwidersprüche, die sich in dem Artikel findet. Für Soiland scheint eine fast existenzialistisch gesetzte "Frage der Frauen" näher an der Realität zu liegen als queer-feministische Bündnispolitiken, die auf der Dekonstruktion der gegenwärtigen Zustände aufbauen und das Ziel verfolgen, aus einer Vielheit, nicht einer reduktiven Einheit von Positionen zu sprechen. Doch wieso sollten sich nur Frauen um die Abschaffung gesellschaftlicher Sexismen kümmern müssen? Gerade die Vielheit der Stimmen teilt der Feminismus mit dem Queerismus. Den Feminismus als eindeutig marxistisch und in Übereinstimmung mit der Kategorie einer weiblichen Arbeiterklasse zu erinnern, ist historisch falsch und wird seiner eigenen Mannigfaltigkeit nicht gerecht.
Tim Stüttgen