Aufgeblättert
Gedächtnispolitiken in Mittel- und Osteuropa
"Die neunziger Jahre brachten einen vollständigen Wandel der dominierenden vergangenheitspolitischen Inhalte, die Form ihrer Durchsetzung (...) blieb aber mehr oder wenige die gleiche." Dass dieses Fazit des Historikers Krunoslav Stojakoviæ bezüglich der offiziellen Gedächtnispolitik in den postjugoslawischen Staaten ähnlich auch für andere Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks gilt, zeigt die beklemmende Lektüre des Sammelbandes "Osteuropa - Schlachtfeld der Erinnerung". Die Beiträge widmen sich aktuellen Gedächtnispolitiken in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, Litauen, Ex-Jugoslawien und der Ukraine. Bei aller Verschiedenheit der gesellschaftlichen Bedingungen wird deutlich, dass sich die Struktur hegemonialer Narrative seit Ende der staatssozialistischen Geschichtsdoktrinen vielerorts kaum verändert hat: manichäische Weltbilder, in denen kein Platz für Ambivalenzen ist. Ein Beispiel sind "patriotische Freiheitskämpfer" im Zweiten Weltkrieg, deren Kollaboration mit den Achsenmächten in Litauen und Slowenien als antikommunistische Heldentat gerühmt wird. In vielen Ländern werden solcherart historische Narrative gesetzlich und institutionell abgesichert, etwa in "Erinnerungsgesetzen" oder staatlichen Geschichtsmuseen. Zweck dieser antikritischen Gedächtnispolitik ist, vorherrschende Realität zu legitimieren, eigene Standpunkte zu beglaubigen oder politische GegnerInnen zu diskreditieren. Referenzpunkt ist dabei ein ethnonationalistisches Paradigma, das antikommunistisch, häufig antiliberal und antisemitisch verbrämt ist. So lesenswert der Sammelband für einen ersten Eindruck ist, so problematisch bleibt ein blinder Fleck: Im Gegensatz zu Zeiten des Staatssozialismus ist öffentliche Widerrede heute möglich. Davon liest man in diesem Buch kaum etwas, dabei wäre das der Anknüpfungspunkt für die weitere Diskussion.
Cornelia Siebeck
Thomas Flierl/Elfriede Müller (Hg.): Osteuropa - Schlachtfeld der Erinnerungen. Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 2010. 191 Seiten, 16,90 EUR
Angelika Ebbinghaus
Die von der Stiftung für Sozialgeschichte herausgegebene Textsammlung "Ein anderer Kompass" ist der Sozialwissenschaftlerin, Feministin und linken Aktivistin Angelika Ebbinghaus (geboren 1945) gewidmet. Ein wichtiger Beitrag zur linken Geschichtsschreibung, denn: "Die Erinnerungskultur zu 1968 ist weitgehend männlich geprägt. Die Beiträge dieses Buches öffnen den Blick auf eine andere Geschichte und stellen Persönlichkeit und Schaffen einer Feministin vor, die soziales Engagement und kritische Analyse in beispielhafter Weise miteinander verbindet." So steht es im Vorwort, das man auch eine Laudatio nennen könnte. Es folgen acht "Berichte von Weggefährtinnen". Besonders lesenswert sind die Texte von Angelika Ebbinghaus selbst. Entstanden zwischen 1969 und 2004, zeigen sie eine beeindruckende Themenbreite. Da geht es um 1968, den Operaismus, Taylorismus, Intelligenz und sozialen Fortschritt. Die meisten Texte behandeln den Nationalsozialismus. Gleich zweimal wird das Thema Frauen als Opfer und Täterinnen diskutiert. Als Herausgeberin eines 1986 erschienenen Buches zu diesem Thema stieß Angelika Ebbinghaus eine bis dahin neue Diskussion an. Was uns heute banal erscheint, war damals eine neue Erkenntnis: Frauen beteiligten sich an der sexistischen und rassistischen NS-Sozialpolitik; sie waren "nicht nur Opfer dieser Politik, sondern auch Mitläuferinnen, Profiteurinnen, Akteurinnen und Täterinnen." Im Rückblick zehn Jahre später beschreibt sie, wie das Buch anfangs "in der kleinen akademischen Gemeinde feministischer Historikerinnen auf Ablehnung stieß". Der Streit allerdings war fruchtbar, weil er neue Forschungen anregte - ein Beispiel eingreifender Wissenschaft, für die Angelika Ebbinghaus steht.
Js.
Angelika Ebbinghaus: Ein anderer Kompass. Soziale Bewegungen und Geschichtsschreibung. Texte 1969-2009. Herausgegeben von der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2010. 334 Seiten, 20 EUR
Underground
Die Zeitschrift OPAK erscheint seit März 2009 mit der Unterzeile "wir müssen reden" viermal pro Jahr und ist ein Glücksfall für alle, die sich schon länger eine anregende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kulturellen Themen (aus irgendwie linker Perspektive) wünschen. Untergrund, Avantgarde, Underground - im Leitartikel arbeitet Roger Behrens das Verhältnis dieser Begriffe zueinander und zum "Obergrund" oder Establishment heraus. Orpheus mythologischen Versuch, Eurydike aus der Unterwelt zu befreien, würdigt er als Urmotiv des Underground, Marx, der die verborgenen Fundamente der Gesellschaft analysierte, als Underground-Literaten. Beide hätten gewusst: Nur wer sich dem Untergründigen stellt, kann etwas über die Gesellschaft erfahren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Untergrund vom Fundament zum unsichtbaren Gegenpart der bürgerlichen Gesellschaft - und die Avantgarde zu seiner sichtbaren Speerspitze. Der Underground heutiger Tage schließlich ist vor allem anrüchiges Image, eher Marke als Opposition. Andere AutorInnen setzen sich mit Unterground-Literatur und Underground-Bewegungen auseinander. Ein Glanzstück ist das Interview über die US-Bewegung der Hipster. Mark Greif, Herausgeber der New Yorker Zeitschrift n+1, beschreibt die schwarze Bewegung der Hipster, die sich in den 1940ern gegen die weiße Dominanz wandte, ihre weiße Vereinnahmung in den 1950ern und die Wiederkehr als weiße Subkultur in den späten 1990ern, als Hipster plötzlich die Accessoires des ländlichen White Trash in die US-Städte trugen. Als Kultur des Konventionellen begleitet das Hipstertum der 2000er-Jahre die Gentrifizierung der Innenstädte durch die weiße Mittelschicht. Eine absolut lesenswerte Ausgabe - und dazu ein Geburtstagsheft. Mit dieser Nummer 8 wird OPAK zwei Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch!
Jan Ole Arps
OPAK. wir müssen reden Nr. 8, April-Juni 2011. 66 Seiten, 4 EUR. www.opak-magazin.de
Am Ort der Geschichte
Die antifaschistische Zeitschrift LOTTA bietet seit Jahren fundierte Beiträge zur extremen Rechten, zu Rassismus, Geschichtspolitik u.v.m. Nun beschäftigt sich eine Sondernummer mit Erinnerungsorten an den Nationalsozialismus in Nordrhein-Westfalen - im Buchformat. In "Wege des Gedenkens" geht es um das Schloss Oberhausen, die Villa ten Hompel, das Kriegsgefangenenlager Stukenbrock, die Wewelsburg und weitere Gedenkstätten und Lernorte. Ergänzt werden die Artikel durch vertiefende Interviews. Im Blick sind dabei nicht nur die konkreten Orte, sondern auch die Entwicklung geschichtspolitischer Diskurse seit 1945, die Entstehung von Gedenkstätten und die Kontroversen um diese. "Oft bilden erst die geschichtspolitischen Vorstöße von Neonazis den Anlass, eigene Fragen an den Umgang mit der Vergangenheit zu stellen", heißt es. Der Band will unabhängig davon Interesse an gesellschaftskritischen Zugängen zur Geschichte wecken - nicht zuletzt bei der antifaschistischen Bewegung. Das Ende der Zeitzeugenschaft sowie Tendenzen zur Universalisierung und Anthropologisierung der Shoa werfen drängende Fragen auf. Hier finden Debatten statt, in die sich gerade eine antifaschistische Linke einmischen sollte. Die Sonderausgabe "Wege des Gedenkens" leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
Maike Zimmermann
LOTTA - antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen (Hg.): Wege des Gedenkens. Erinnerungsorte an den Nationalsozialismus in Nordrhein-Westfalen. LOTTA 42/2011. 187 Seiten, 6 EUR