Die letzte schöne Nacht vom Tahrir
Eine Reise ins aufständische Kairo
Als Pedram Shahyar in Kairo ankommt, steuert er sofort den Tahrir-Platz an - den symbolischen Ort des ägyptischen Aufstands. Er trifft liberale Pazifisten, die ihm von der Organisation des Aufstands erzählen, StudentInnen, die sich in Hotelbars zum Feiern treffen - und endlich auch die chronisch übermüdeten Linken. Als er Kairo nach einer Woche wieder verlässt, hat die Armee den Tahrir-Platz geräumt, und die Meldungen über verhaftete AktivistInnen häufen sich. Eindrücke aus einer Stadt zwischen revolutionärem Optimismus und der Sorge, dass die schwierige ökonomische Lage der Revolution den Atem raubt.
Am Freitag, den 4. März, haben sich wieder Zehntausende Menschen auf dem Tahrir-Platz mitten im Zentrum von Kairo versammelt. Das ist nichts Besonderes, aber an diesem Freitag ist der neue Premierminister der vom Militär installierten Regierung unter ihnen: Issam Sharaf. Er war 2004 unter Mubarak Transport-Minister, gab sein Amt aber aus Protest gegen die Korruption wieder auf. Das "Komitee der revolutionären Jugend" (KRJ), eine wichtige Koordination des Aufstands, hatte dem Militär unter anderem seinen Namen als Wunschkandidaten für das Amt genannt. Er war von Anfang an auf der Seite der DemonstrantInnen, und heute spricht er zu ihnen und bittet um Vertrauen.
Es ist schon nach 22 Uhr, und ich bin eben auf dem Platz angekommen. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Ich frage den ersten Menschen mit Englischkenntnissen nach dem Grund. Es ist ein älterer Mann, der in Dubai arbeitet und heute mit Frau und Tochter noch zur späten Stunde über den Tahrir spaziert. "Es gab die Ankündigung, Tahrir solle heute wieder besetzt werden. Daraufhin wurde der Mubarak-Vertraute Ahmed Shafik als Premier abgesetzt." "Woher kam die Ankündigung?", frage ich ihn. "Tja, es machte einfach die Runde. Das ist das Besondere unserer Revolution, es gibt keine Führer." Wir wandeln noch bis in die Morgenstunden über den Platz, in dessen Mitte eine Zeltstadt aufgebaut ist. Überall hängen Transparente und Plakate, viele Bilder der Gefallenen der Revolution. Es sind fast alles junge Gesichter. Hunderte waren es, die genaue Zahl ist nicht bekannt. Bis zu 1.000 weitere werden noch vermisst.
Der nächste mit gutem Englisch, den wir treffen, ist Max. Er trägt eine Baseballmütze und eine stylische Jacke, aber seine Hose und Schuhe sind zerschlissen. Viele wollen mit uns reden, wollen wissen, wie Menschen in Europa über sie denken. Ahmed sticht heraus, er ist ein Freund von Max, ein etwas molligerer Typ, mittellanger Bart, vielleicht Mitte 20. Er hat einen Text bei sich, eine Art Manifest, das er verfasst hat, und fragt uns, ob wir das für ihn ins Englische übersetzen können. Er nimmt mich zur Seite und fragt: "Wir wollen den Weltfrieden, was können wir zusammen mit den Menschen in Europa dafür machen?" Sie sind vielleicht naiv, aber voller Stolz auf das, was sie erreicht haben. Und sie haben ein unglaubliches Selbstbewusstsein.
Max nimmt mich am Arm und flüstert: "Mubaraks Leute wollen das Land destabilisieren. In meinem Stadtteil Giza gehen sie plündern und greifen Frauen an. Ich fahre gleich noch hin, wir helfen der Armee dabei, für Sicherheit zu sorgen." Was er vom neuen Premier hält, frage ich ihn. Er zuckt mit den Schultern. "Die meisten Leute meinen, wir sollten ihm Zeit geben. Okay, sagen wir zwei Wochen, wenn er bis dann nichts ändert, stürzen wir ihn eben auch." Bis zum Abschied bleibe ich umzingelt von Leuten, vom Interviewer bin ich zum Interviewten geworden. Sie stellen permanent Fragen, bringen Tee und Datteln und immer wieder werde ich umarmt. Von der Ausgangsperre um Mitternacht ist lange nichts zu spüren, es wird viel getanzt und gesungen. Es ist vorerst die letzte schöne Nacht auf dem Tahrir, dem man auf den ersten Blick seine Erschöpfung nicht ansieht.
Nach sechs Wochen Besetzung haben sich die meisten AktivistInnen zurückgezogen. In den kommenden Tagen wird die Stimmung deutlich aggressiver; es wimmelt von Spitzeln. Der Bevölkerung im Zentrum Kairos ist die Besetzung zusehends lästig, und als am Mittwoch Schlägerbanden und die Armee den Platz brutal räumen, ist der Widerstand nicht mehr stark.
Am nächsten Morgen treffe ich Mohammad. Meine Freundin Kristin, die in Kairo lebt, hatte ihn mir per Facebook vorgestellt, und ich habe ihm Bücher mitgebracht, die er in Kairo nicht bekommt. Eines über Gouvernemental Studies ist dabei, den Marx-Engels-Reader, um den er mich gebeten hatte, habe ich leider nicht bekommen. Mohammad studiert englische Literatur und versucht sich als Freelance Journalist. Er umarmt mich fest und freut sich sehr über das Buch. Er zeigt mir sein Handy: "Schau mal, eine SMS von der Armee: ,Bauen wir zusammen das neue Ägypten auf` und blablabla." Ich merke, dass Mohammad unruhig ist. Seine Knie wackeln, er sitzt richtig auf Kohlen. "Wir greifen eine Zentrale der Sicherheitskräfte an", sagt er dann. Wow, da will ich mit. Aber Mohammad verneint. "Bitte,ich pass auch auf." Er gibt sein Okay. Dann denkt er nochmal nach: "Nein, bei Ausschreitungen reagieren auf beiden Seiten manche komisch auf Ausländer. Lass es."
Eine Stunde später sitze ich im Taxi in die islamische Altstadt, als das Radio den Überfall der AktivistInnen auf Amn Al-Dawla im Stadtteil Madinat-Nasr meldet, das Hauptquartier des ägyptischen Staatssicherheitsdienstes, den die AktivistInnen "SS" nennen. Die angeblich 500.000 Mann starke Organisation war das Machtzentrum des Mubarak-Systems. Während wir uns durch den Stau schlängeln, erzählt der Taxifahrer allen anderen Taxis von der Aktion.
"Es war unglaublich," berichtet Mohammad am nächsten Morgen. Das Gebäude ist ein Riesenkomplex. Gefangene sind immer mit verbundenen Augen auf Lastwagen hineingefahren worden. Durch die Fahrt vermutet man große Katakomben, auch die Folterkeller sind dort. Nachdem AktivistInnen in Alexandria am Freitag zufällig gesehen hatten, wie Laster mit geschreddertem Papier aus dem dortigen Gebäude fuhren, hatten sie es gestürmt. Es wurde scharf geschossen, es gab Schwerverletzte. Für den Samstag wurde über Facebook und Twitter zum Sturm auf die Sicherheitszentralen im ganzen Land aufgerufen: "Madinat-Nasr, 4 Uhr Nachmittag," hieß es für Kairo.
Dass knapp 1.000 Leute das Gebäude stürmen konnten, ging auf ein unausgesprochenes Einverständnis der Armee zurück. "Sie standen mit nur drei Panzern dort. Und der neue Premier hatte uns am Tahrir grünes Licht gegeben," sagt Mohammad. Drinnen haben sie unglaubliches Material gefunden. Details über das Privatleben vieler AktivistInnen waren dort dokumentiert, Pläne zur Fälschung von Wahlen, ein ganzer Raum mit Sex-Aufnahmen von Geschäftsleuten und Prominenten. Verschieden Abteilungen hätten sich gegenseitig überwacht, es gibt Gerüchte, dass sogar Mubarak beobachtet wurde. Bis spät nachts hätten sie alle Computer durchsucht, so viele Dokumente wie möglich gesichert und online gestellt und das Gebäude dann an einen öffentlichen Verwalter der Justiz übergeben. "Der Fall des Imperiums der State Security", titelt am nächsten Tag die liberale Tageszeitung Al-Shuruq. "Die Aktivisten nehmen einen Spaziergang durch die Folterkeller." Unsere Freunde in Kairo sind alle aufgeregt und voller Freude. In den kommenden Tagen schwingt aber auch die Unsicherheit mit, was alles an privaten Affären nun an die Öffentlichkeit kommt. Zwei Wochen später erklärt der Innenminister den Staatsschutz für aufgelöst und erfüllt damit eine der zentralen konkreten Forderungen der Revolutionäre.
Maikel Nabil ist ein smarter Typ, Mitte 20, der pünktlich zu unserer Verabredung kommt und sich viel Zeit für mich nimmt. Er ist Liberaler, sagt er, war schon auf Seminaren der Friedrich-Naumann-Stiftung und sogar zu einem Empfang für Guido Westerwelle eingeladen, als der Kairo besuchte. Als ich noch mal nachfrage, erklärt er, er sei sozialliberal. Eine Antwort, die man von fast allen bekommt. Maikel hat sich schon sehr früh politisiert, 2004 mit der Kefaya-Bewegung ("Es reicht") und der liberal-demokratischen Al-Ghad-Partei von Aiman Nur. Die Kefaya Bewegung war das erste größere Anzeichen von Dissidenz, als sie sich 2004 erstmals gegen die Regierung auf die Straße wagte.
"Die Beschwörung der Gefahr eines Krieges mit Israel war immer ein zentrales Herrschafts-Instrument unsere Diktatoren", erklärt Maikel. Also hat er sich auch mit FriedensaktivistInnen in Israel vernetzt. Er ist der erste Wehrdienstverweigerer in Ägypten und sehr gegen die Armee eingestellt. Er war deswegen schon zwei Mal im Gefängnis. Das dritte Mal wurde er während der Unruhen inhaftiert. Er wurde geschlagen und sexuell belästigt, alles bei verbunden Augen. Maikel ist gut vernetzt und klärt mich über die Strukturen des Aufstands auf: Da war zunächst die Gruppe "6. April", benannt nach den Massenstreiks von 2008 und dem Aufstand in Mahalla al-Kubra nahe Kairo. Es ist ein pluralistisches Netzwerk, in dem Linksliberale und SozialistInnen zusammenarbeiteten. Später schloss sich auch der Sprecher der Jugend der Muslimbrüder dem Netzwerk an.
Die Jugend von "6. April" war eine der zentralen organisatorischen Strukturen des Aufstandes. Das, was sie auszeichnete, meint Maikel, war ihre organisatorische Stärke, Erfahrung, bekannte Gesichter. Dann natürlich die Facebook-Gruppe "We are all Khaled Said", die zum Gedenken an dem von der Polizei ermordeten Blogger eine Aktion ausgerechnet zum Tag der Polizei am 25. Januar ansetzte. Kurz davor brach die Revolution in Tunesien aus, und in Ägypten brachen alle Dämme. Die Ankunft Mohammad El Baradeis war ein weiterer wichtiger Katalysator des Revolutionsprozesses. Die Kampagne für seine Präsidentschaft war aber schon vorher gestartet und die "Jugend für El Baradei", ein junges Netzwerk, leistete wichtige Arbeit im Vorfeld des Aufstandes. Und zu guter Letzt gab es die jungen Linken. Maikel, aber auch andere bestätigen, dass die Linken auf dem Tahrir-Platz in den ersten Wochen das Rückgrat des Protests waren, allen voran das Netzwerk "Jugend für Freiheit und Gerechtigkeit". Er ist der Meinung, sie hätten die besten internen Strukturen.
All diese Netzwerke hatten am 25. Januar vielleicht jeweils 200 Aktive. "So Wenige?", frage ich ihn. "Das ist viel für Ägypten", antwortet er. In seiner antimilitaristischen Gruppe seien 20 Aktive, und auch damit hätten sie einen Unterschied gemacht. Während wir reden, vibriert mehrmals sein Handy. Die meisten Anrufe ignoriert er, aber dann muss er lachen: "Eine SMS von der Armee. Sie bittet die Leute, alle Dokumente aus den Staatssicherheits-Zentralen bei ihnen abzuliefern."
Ich mache mich auf den Weg, die Netzwerke genauer kennen zu lernen, und treffe Salma. Sie ist Anfang 20. Die Frage ob sie studiert oder arbeitet, ist falsch gestellt. "Beides, im Bereich Medien." Niemand studiert nur in Kairo, alle müssen arbeiten, sofern sie eine Arbeit finden können, und zwar zu Löhnen, die wir uns nicht vorstellen können. Salma war aktiv in der "Jugend für El Baradei", ist ebenfalls sozialliberal und nun Sprecherin der Jugendorganisation der neuen Partei in Giza. Sie erzählt mir detailliert von der Vorbereitung des Aufstandes. Mit den anderen Netzwerken hatten sie überlegt, wer über welche Straßen am besten auf den Tahrir-Platz gelangt, wo gute Fluchtwege sind. Ganz wichtig war der Start. Sie haben in einem armen Stadtteil begonnen, mit dezidiert sozialen Parolen. "Brot und 150 Euro Mindestlohn, damit haben wir angefangen. Als sich die Demo richtig formiert hatte, riefen die Leute von sich aus ,Nieder mit Mubarak`."
Auch sie war von der Dynamik überrascht, von der kollektiven Intelligenz der Leute und davon, wie gut sie sich auf dem besetzten Tahrir-Platz organisiert haben. "Wir bildeten mehrere Gruppen: Schutz, Nahrung, Medizin, Putzen." Aber die überregionalen Strukturen würden nicht sehr gut arbeiten. Das "Komitee der revolutionären Jugend" (KRJ) ist die oberste Repräsentation der Aufstandsorganisationen, aber diese Struktur entferne sich bereits von ihrer Basis. Oft hätten sie von den Beschlüssen erst aus dem Fernsehen erfahren, berichtet Salma. In ihrer lokalen Organisation versucht sie es anders zu machen: "Arbeit gut verteilen und Teamwork - das sind die Schlüssel."
Am Abend treffe ich sie zufällig wieder. Es ist der Geburtstag von Badawi, einem recht bekannten Blogger. Die jungen Leute, StudentInnen mit wenig Geld, feiern ihre Geburtstage häufig in den Dach-Bars von Hotels. Es fehlt an Orten, wo man günstig trinken und tanzen kann. Auch hier auf dem Dach des Carlton ist es nicht besonders günstig, das Bier kostet drei Euro. Sie können sich auch alle nur ein, allerhöchstens zwei Getränke leisten. Es gibt eine Art Juke-Box, an die jeder sein iPod anschließen kann. Die Gruppe geht ab und zu zusammen hin, sie legen arabische Hits auf und tanzen. Zu den meisten Hits laufen auf dem Bildschirm Videos über die Revolution - sie ist allgegenwärtig. Auch ich werde zum Tanzen gezwungen, das ist Ritual, alles wird zusammen gemacht. Dann lerne ich Peter kennen, er ist Arzt, nach sieben Jahre Studium das erste Jahr in der Praxis.
Peter verdient 20 Euro im Monat. "Tut mir leid, das sind traurige Geschichten, ich will dich nicht runterziehen." Ich kann es nicht glauben und frage zwei Mal nach: "20 Euro?" Es stimmt. Dementsprechend würden die Ärzte auch nicht besonders motiviert arbeiten. Sie sind oft müde, haben keine Lust, viele Patienten sterben, obwohl es zu verhindern wäre. "Ich kann das nicht, ich muss raus, am liebsten nach Europa. Aber das ist schwer, also versuche ich es in den USA", sagt er.
Niemand hat eine eigene Wohnung, solche Abende sind die seltenen Treffpunkte. Oder die Cafés im Zentrum, wo sie sich einen Tee und eine Shisha leisten können. Privatheit ist ein großer Luxus, der hier selten vorkommt. Bei den Mädchen klingelt permanent das Handy: "Papa!" sagt Heidi und rollt mit den Augen. Die Eltern kontrollieren die Kinder auf Schritt und Tritt, und je näher die Ausgangsspeere rückt, desto öfter klingeln die Handys. "Oh, Mama", heißt es beim nächsten Mal.
Später treffe ich Johan, einen der liberalen RepräsentantInnen der Bewegung im KRJ. Er sagt, dass sie nicht mehr zu den Freitagsdemos aufrufen. "Wir werden das Spiel mit Zahlen verlieren, wir können es nicht mehr steigern." Er unterstützt ausdrücklich El Baradei. Doch Amr Moussa, langjähriger Minister unter Mubarak und Generalsekretär der Arabischen Liga ist der Favorit für die Präsidentschaft. "Aber Moussa war Teil des Systems, und er hat noch nicht dafür bezahlt. Bei El Baradeis Ankunft waren 20.000 Leute am Flughafen. Er ist unser Aufbruch. Wir sollten unbedingt eine Kampagne gegen Moussa machen."
Johan stellt mir Ahmed vor, der in der Organisation "6. April" aktiv war. Ich frage nach ihrer Struktur. Es gibt eine Art Koordination und Arbeitsgruppen, die die verschiedenen Arbeitsbereiche organisieren. Der "6. April" war die wichtigste Organisation im Vorfeld, aber nun hätten sie ein Problem. Ihr Ziel war die Absetzung Mubaraks, nun gibt es kein gemeinsames Ziel mehr. Das Netzwerk droht auseinanderzufallen. Ahmeds Fuß ist verletzt, er geht auf Krücken. Die Polizei? "Nein nein, ich war in Bengasi mit einer NGO, wir haben Medikamente und Lebensmittel hingebracht. Auf dem Rückweg hatte ich einen Unfall."
Die Liberalen zu treffen, war leicht. Sie warten das Kommende ab, vor allem die Wahlen und die Parteibildung um El Baradei. Die Linken waren dagegen sehr schwer zu treffen, und wenn, dann nur in großer Eile. Man erkennt die Linken an ihren tiefen Augenringen. Sie waren und sind wenige, haben aber scheinbar eine wichtige Rolle im Aufstand gespielt und müssen nun eine Verantwortung tragen, die größer ist, als es ihre organisatorischen Kräfte hergeben. Dank der Vermittlung von Maikel treffe ich endlich die ersten organisierten Linken in Borsa, einer großen Café-Straße im Zentrum in der Nähe der Börse. "Die Straße ist der Thinktank der Aktivistenszene in Downtown", sagt Maikel lächelnd. Borsa ist an jedem Abend voller junger Leute. Paare, die diskret zusammensitzen, Gruppen die diskutieren. In den größeren Cafés gibt es einen großen Fernsehbildschirm, auf dem die Songs der Pop-Größen laufen - eine Art arabisches MTV. Es ist der einzige Ort in Kairo, wo die Frauen mit Kopftuch in der Minderheit sind.
Nagib und Pahir sind Aktivisten der "Jugend für Freiheit und Gerechtigkeit" (JFG), einem pluralistischen Netzwerk, in dem auch Liberale und Muslime mitarbeiten, die Linken aber in der Mehrheit sind. Sie sind noch mitten im Gespräch und bitten mich zu warten. Dann reden wir, und obwohl sie gleich zum nächsten Treffen müssen, nehmen sie sich Zeit, antworten ruhig und präzise und holen aus, wo es sein muss. "Wir von der JFG haben 4.000 neue Eintritte seit dem Aufstand und Kontakt zu 40.000 Leute aus den Komitees", sagt Nagib, der in der Koordination des Netzwerks arbeitet. Sie wüssten nicht, ob sie sich an den linken Parteigründungsprozessen beteiligen sollen. "Die neuen Parteien werden weniger an Programmen, sondern an Gesichtern und Namen gebildet werden, mehr gibt unsere politische Kultur noch nicht her." Nagib ist nachdenklich. "Bei einer Parteigründung gefährden wir unseren pluralistischen Charakter, aber wir brauchen auch politische Festigung."
Ihr Netzwerk entstand nach dem Aktionstag zum 6. April 2010, der viele Verhaftungen nach sich gezogen hatte. Eine Gruppe von vielleicht 20 Leuten machte sich damals an den Aufbau eines neuen Netzwerks. Der feste Anfangskern von erfahrenen Leuten schaffte es auch, die Infiltration von Spitzeln abzuwehren. Nun konzentriert sich die Gruppe auf die lokalen Komitees. Diese waren entstanden, als die Polizei von den Straßen verschwand und die alte Regierung gleichzeitig Schwerverbrecher aus den Gefängnissen entließ, damit diese zusammen mit den Spitzeln des Staatsschutzes plünderten und die Bevölkerung terrorisierten. Die Komitees hätten zunächst eine Sicherheitsfunktion für die Nachbarschaft gehabt, aber an einigen Orten würden sie sich mehr und mehr in lokale Belange einmischen. Die Linken ermutigen sie dazu. Sie unterstützen sie in der Hoffnung, dass die Komitees eine Politisierung der Nachbarschaften bewirken. "Die Komitees sind so etwas wie lokale Räte, Sowjets, weißt du", sagen sie mir.
Diese Macht von unten ist überall spürbar, und darauf konzentriert sich ihre Arbeit. Hassan, ein Freund von Pahir erzählt mir später von seiner Arbeit in den Komitees. In Hadayat al-Ghob, einer Region Kairos mit etwa 5 Millionen Einwohnern, gäbe es jetzt fünf bis sechs "Volksversammlungen", die sich regelmäßig treffen. AktivistInnen diskutieren permanent in den Nachbarschaften mit den Leuten. "Die beste Gelegenheit ist freitags nach dem Gebet, da sind alle Leute in den Cafés und diskutieren."
Die Muslimbrüder, so erzählen mir die AktivistInnen, würden sich nun an den alten Apparat annähren, um die Dynamik der Revolution zu dämpfen. Dazu kommt, dass die Konterrevolution eine neue Welle gestartet hätte. Ihr wichtigstes Projekt ist das Anstacheln von religiösen Konflikten. "Das machen vor allem die alten Staatssicherheits-Leute und Teile der Salafisten", erzählt Pahir. Gegenüber den Salafisten, einer militanten islamistischen Strömung mit Verbindungen in den Sicherheitsapparat, seien die Muslimbrüder wie Engel.
Am nächsten Morgen lese ich dann bei Al-Jazeera, dass es bei Übergriffen auf christlichen Gemeinden an diesem Abend 14 Tote gab, während in der Nacht vor meinem Hostel die Angriffe auf den Tahrir-Platz beginnen. An diesem Mittwoch, den 9. März, räumt die Armee den Platz. Die Hauptarbeit machen aber Gruppen in zivil. Man kann die verschiedenen Lager kaum unterscheiden, junge Leute mit Holzlatten und Metallstangen. Die Verteidiger des Tahrir halten sich zurück, die Räumung ist brutal, es gibt 150 Festnahmen. Im Netz kursieren anschließend Bilder von Folterungen.
Aber die BewohnerInnen des Stadtzentrums sind erleichtert. Sie haben die dauerhafte Anwesenheit der Armen auf dem Platz zunehmend als Belastung empfunden. Der Verkehr auf den permanent verstopften Straßen Kairos staute sich noch mehr als sonst, die permanente Gefahr von Ausschreitungen ermüdete die Nachbarschaft. Aber vor allem ist es die ökonomische Lage, die der Revolution den Atem raubt. Der Tourismus ist zusammengebrochen, ausländische Konzerne haben ihr Personal abgezogen und die Arbeit eingestellt, die Börse ist bis zur letzten März-Woche geschlossen, alle Investitionen sind gestoppt. Das tägliche Brot zu verdienen, ist seit der Revolution noch schwieriger geworden. Die Sehnsucht nach Normalität wird täglich stärker, eine Normalität, die wieder Sicherheit, Touristen und ökonomischen Aufschwung bringen soll. Viele meinen, dass nur die Armee sie garantieren kann.
Am Feitag nach der Räumung sind wieder Zehntausende auf dem Platz, dieses Mal vor allem, um gegen religiösen Hass zu demonstrieren. Ihre Parole: "Muslim, Massihi, iid wahda" ("Muslime und Christen sind eine Hand"). Der General der Armee in Kairo spricht auf dieser Kundgebung, er nimmt die Hand eines Imams links und eines koptisch-christlichen Bischof rechts, einen Koran und eine Bibel, und führt sie zusammen: "Wir sind ein Land." Als einzelne AktivistInnen ihn wegen der Räumung kritisieren wollen, werden sie von der Menge ausgebuht. Die Leute haben andere Sorgen. "Bauen wir zusammen das neue Ägypten auf" - das ist die revolutionär klingende Parole, hinter der sich aber auch ein konservatives Projekt neu formiert.
Am 12. März habe ich Kairo wieder verlassen. Eine Stadt in der Schwebe. Am 19. wurde über die Verfassungsänderung abgestimmt. Der Militärrat hatte eine Expertenkommission eingesetzt, diese schlug elf Änderungen an der bestehenden Verfassung vor. Aus Sicht der AktivistInnen viel zu wenig. Sie fordern eine ganz neue Verfassung und ausreichend Zeit bis zu den Neuwahlen, um neue Organisationen aufbauen zu können. Doch obwohl alle AktivistInnen gegen die Annahme waren, stimmten 77 Prozent dafür. Danach erklärte das Militär Streiks für illegal, und drohte jedem mit Gefängnis, der öffentlichen Ärger verursache. Dabei gibt es eine enorme Streikwelle, die Leute wollen mehr Geld, aber auch die Absetzung der Betriebs-Chefs, die fast immer Mubarak-Günstlinge sind. Immer häufiger ist nun von Festnahmen von AktivistInnen zu hören.
Am 28. März traf es dann Maikel Nabil. Ich erfuhr über Twitter von seiner Verhaftung; wegen Beleidigung des Militärs wurde er am 31. März vor ein Militärtribunal gestellt. "Es wird noch viele mehr treffen", schreibt mir Mohammad im Chat. Die alten Mächte Ägyptens sind geschwächt, aber sie versuchen zu retten, was zu retten ist. Momentan besteht ihre Strategie darin, die Köpfe der Revolution zum Schweigen zu bringen, sie von der Bevölkerung zu isolieren.
Am Freitag, den 1. April, versammeln sich wieder tausende Menschen auf dem Tahrir-Platz, mehr als in den Vorwochen. Den Bildern nach zu urteilen könnten es über 50.000 gewesen sein. Viele sprechen von einem Marsch, um die Revolution zu retten. Möge der Versuch gelingen.
Pedram Shahyar, 2. April 2011