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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 560 / 15.4.2011

Aufstände gegen den Liberalismus

Wirtschaftliche Hintergründe der Revolten in Ägypten, Tunesien und Libyen

In fast allen arabischen Ländern gehen inzwischen die Menschen gegen ihre autokratischen Herrscher auf die Straße. Von Marokko bis Irak, von Syrien bis Jemen fordern sie Freiheit, Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Doch soziale Rechte sind ihnen nicht weniger wichtig, in vielen Ländern sind die Demokratiebewegungen durch Streiks für höhere Löhne erst in Gang gekommen. Was sind die ökonomischen Hintergründe der Proteste? Ein Blick auf die wirtschaftspolitische Vorgeschichte in Ägypten, Tunesien und Libyen.

Mit dem Referendum am 19. März haben die Muslimbrüder und das alte Regime einen Sieg errungen. 77 Prozent der WählerInnen haben für eine Handvoll Verfassungsänderungen gestimmt, obwohl die TrägerInnen der Revolte davor gewarnt hatten. Fast alle Oppositionsparteien forderten eine gänzlich neue Verfassung, vor allem wollten sie mehr Zeit bis zu den ersten freien Wahlen. Das ägyptische Militär verhaftet derweil DemonstrantInnen und foltert sie. Ein ähnliches Bild in Tunesien: Hier liefern sich DemonstrantInnen Straßenschlachten mit der Polizei, auch hier werden willkürlich AktivistInnen verhaftet. Die Masse der TunesierInnen solidarisiert sich nicht mit ihnen.

Nach dem Referendum in Ägypten gab der ägyptische Blogger Sandmonkey den AktivistInnen einen Tipp: Kümmert euch endlich um die Wirtschaft! "Ihr wollt demonstrieren? Dann demonstriert für einen Mindestlohn, und viele Ägypter werden euch folgen."

Sozialistische Experimente im nachkolonialen Nordafrika

Die meisten Wirtschaften in der arabischen Welt sind desolat. Durch Deregulierung und Exportorientierung, oft erzwungen durch Internationalen Währungsfonds und Weltbank, hat sich die Schere zwischen arm und reich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter geöffnet. Als in der Weltwirtschaftskrise vor drei Jahren die Nachfrage aus Europa zusammenbrach, hat das die Lage noch verschärft. Das gilt für ein sehr armes Land wie Ägypten genauso wie für das durch den Tourismus prosperierende Tunesien oder das ölreiche Libyen.

Die Diktatoren, die heute zum Teufel gejagt werden, waren einst Kämpfer gegen den Kolonialismus - oder zumindest deren Nachfolger. Von Algerien bis Syrien übten sich die Potentaten in den 1950er und 1960er Jahren in sozialistischen Experimenten: Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Landreform, Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Garantie eines Arbeitsplatzes für HochschulabsolventInnen - so lautete das populäre Rezept. Der Preis war die politische Repression Andersdenkender. Die Politik des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdul Nasser unterschied sich kaum von der des tunesischen Präsidenten Habib Bourguiba oder Algeriens Ahmed Ben Bella.

Einen eigenen Weg ging Muammar al-Gaddafi mit seinem Mix aus Islam und Sozialimus: In seiner Jamahiriya (ein von ihm geschaffenes Wort in Abgrenzung zur "Jumhuriya" - der Republik) sollte jeder zur Politik beitragen können. Basisdemokratisch waren die Menschen in lokalen Komitees organisiert. Das Ergebnis war totale Kontrolle: AbweichlerInnen von der revolutionären Linie konnten in den Komitees schnell identifiziert werden. Wirtschaftlich ging Gaddafis islamischer Sozialismus noch einen Schritt weiter als Nassers arabischer Nationalismus: Bis in die 1990er hinein waren private Unternehmen verboten, mehr als 70 Prozent der Bevölkerung arbeiteten für den Staat.

In den 1970er Jahren läuteten die meisten arabischen Länder eine vorsichtige wirtschaftliche Liberalisierung ein. Exemplarisch steht dafür die Politik der Infitah (Öffnung) von Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat. Ägypten brauchte Devisen. In den 1950ern hatte das Land noch Nahrungsmittelüberschüsse produziert, nun importierte es zwei Drittel seines Getreidebedarfs. Das lag zum Teil am enormen Bevölkerungswachstum. Hinzu kam der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion: Für viele mit sowjetischer Hilfe gebaute Industrieanlagen waren Ersatzteile nur noch gegen Devisen im Westen erhältlich. Vor allem aber trieben die von USA und Europäischer Gemeinschaft (EG) hoch subventionierten Nahrungsmittelsexporte die ägyptischen Kleinbauern in die Produktion von Futtermitteln und Cash Crops (1), vor allem Baumwolle.

Sadat lockerte die engen Bindungen zur Sowjetunion und wandte sich dem Westen zu. Das zahlte sich zunächst aus: Nachdem er einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet hatte, entschuldeten die USA Ägypten und erhöhten ihre Entwicklungs- und Militärhilfe für den neuen Partner drastisch. So brauchte er zunächst nur milde wirtschaftliche Einschnitte vorzunehmen: Importkontrollen wurden gelockert, das Außenhandelsmonopol auf Grundnahrungsmittel, Erdöl und Baumwolle beschränkt, die Bedingungen für ausländische Investoren verbessert.

In der Folge der wirtschaftlichen Öffnung klaffte die soziale Schere bald weit auseinander. Die verschiedenen Oppositionsgruppen von Nasseristen bis Islamisten erhielten starken Zulauf. Als das Regime versuchte, den Brotpreis zu erhöhen, kam es zu den Brotunruhen von 1977. Sadat nahm die gerade erst eingeführten politischen Freiheiten zurück. Der kurze demokratische Frühling endete endgültig 1981 mit einer Verhaftungswelle gegen Muslimbrüder, Linke, Intellektuelle und koptische Geistliche.

Als Sadat im selben Jahr einem islamistischen Attentat zum Opfer fiel, verhängte sein Nachfolger Hosni Mubarak den unbefristeten Ausnahmezustand und schaffte damit Rechtsstaat und politische Freiheiten für die nächsten 30 Jahre ab. In wirtschaftlicher Hinsicht trat er in die Fußstapfen seines Vorgängers, legte aber nach 1989 erheblich an Tempo zu. Das war vor allem den Gläubigern IWF, Weltbank und Pariser Club geschuldet, die nach dem Umbruch in Osteuropa den Liberalisierungsdruck erhöhten.

Der 1991 ausgehandelte Strukturanpassungsplan sah zur Schuldenreduzierung unter anderem vor: die Privatisierung der Staatsbetriebe (damals 85 Prozent der ägyptischen Produktionskapazität), die Deregulierung der Gesetze über Arbeitsplatzgarantien, Entlassungen und Löhne, den Abbau der Subventionierung von Medikamenten, Lebensmitteln und Energie, sowie von Zoll- und Handelshemmnissen. 1992 nahm Mubarak die Nassersche Landreform zurück: Ab 1997 mussten Bauern das Land zu Marktpreisen pachten. Tausende der von kapitalkräftigen Investoren und ehemaligen Großgrundbesitzern verdrängten Kleinbauern landeten in den Slums der Städte.

Auch in Tunesien wurde staatliches Land an Großgrundbesitzer verpachtet - allerdings zu Preisen, die weit unter den Marktpreisen lagen. Da nur große Flächen vergeben wurden, konnten Kleinbauern gleichwohl nicht von den niedrigeren Landpreisen profitieren. Die finanzierende Weltbank argumentierte, dass größere Betriebe produktiver seien. In Tunesien bewirkte die Privatisierung auf dem Lande durch die Benachteiligung der Kleinbauern jedoch einen Rückfall in feudale Strukturen.

Liberalisierungspolitik lässt Armut und Reichtum wachsen

Auch vom Verkauf staatlicher Unternehmen profitierten allein die Wohlhabenden. Der Staat stellte mit Hilfe der Geber günstige Kredite und andere Anreize für Investoren zur Verfügung. Die kleinen Gewerbetreibenden, laut Weltbank 95 Prozent der tunesischen Unternehmen, bekamen von diesen Subventionen nichts ab. Die sozialen Folgen dieser Politik waren so verheerend, dass das Regime über Jahre den im Auftrag der Weltbank erhobenen Gini-Index - den Maßstab für soziale Ungleichheit - unter Verschluss hielt.

Das alles ging nicht ohne Protest vor sich. Als die Islamisten 1989 in Algerien die Wahlen gewannen, demonstrierten auch tunesische Islamisten für mehr Rechte. Ben Ali reagierte mit einem fast vollständigen Verbot jeglicher politischer Aktivität.

In Ägypten artikulierte sich die Opposition hingegen regelmäßig und zuweilen lautstark. Brotrevolten zwangen die Regierung 1977 und 1984, Erhöhungen der Brotpreise zurückzunehmen. Zu Beginn der 1990er wurde fast ununterbrochen irgendwo gestreikt. 1993 betitelte die Zeit eine Ägypten-Reportage mit "Angst vor der Revolte".

Libyen hat indes völlig andere wirtschaftliche Voraussetzungen. Erdöl macht 95 Prozent des Exports aus und 80 Prozent der Staatseinnahmen. Damit ist Libyen ein klassischer Rentierstaat. (2) Doch setzte Gaddafi den Ölreichtum weit weniger als die Golfstaaten für Infrastrukturprojekte und zur Bekämpfung der Armut ein. Vor allem bereicherte sich die politische Klasse. Zudem brauchte er Waffen für seinen Krieg mit dem Tschad. Der Fall des Ölpreises in den 1980ern traf das Land hart.

Als die UN 1993 wegen terroristischer Aktivitäten, unter anderem wegen des Lockerbie-Anschlags, Sanktionen gegen Libyen verhängte, kam ein Großteil der wirtschaftlichen Aktivität zum Erliegen. Allein das Ölgeschäft blieb - das war von den Sanktionen ausgenommen. Der Staat versuchte mit Subventionen auf alle Güter des täglichen Gebrauchs gegenzusteuern. Mit dem Verfall des libyschen Dinars entstand eine Schattenwirtschaft. Die subventionierten Güter wurden dadurch so billig, dass kleine und größere Schmuggler ein lukratives Geschäft damit machten, sie aufzukaufen und in den Nachbarländern zu verkaufen. Insbesondere in der Cyrenaika, wo jetzt die Menschen gegen Gaddafi kämpfen, kam es zu Lebensmittelengpässen.

Als sich Gaddafi nach dem 11. September 2001 zur Überraschung der Weltöffentlichkeit in den "Kampf gegen den Terror" einreihte, war sein Land wirtschaftlich am Ende. Es wurde gestreikt, Islamisten erhielten Zulauf. Seit dem Ende der Sanktionen 2003 hat sich die Wirtschaft etwas erholt. Eisen-, Stahl- und Aluminiumproduktion sowie einige wenige landwirtschaftliche Produkte haben nun immerhin einen Anteil von 20 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Doch eine stabile wirtschaftliche Basis neben dem Öl gibt es nach wie vor nicht. Ähnlich wie in Tunesien und Ägypten liegt das meiste Eigentum in der Hand der politischen Klasse. Allerdings in Tunesien und Ägypten aus anderen Gründen.

Im Jahr 2011 sind die Märkte Tunesiens und Ägyptens fast vollständig liberalisiert. Freilich "privatisierte" die Regierung Mubarak das Staatsvermögen weder an die Meistbietenden, noch gar an das Volk. Die sogenannte Privatisierung erfolgte vielmehr unter den Bedingungen der allgemeinen Günstlings- und Vetternwirtschaft. Einige der dicksten Brocken gingen gleich an Sohn Gamal Mubarak. Nordafrika ähnelt heute eher der postsozialistischen Oligarchie Russlands, als einer bürgerlichen Gesellschaft - ähnlich schwer wird es die Demokratie dort haben.

Wirtschaftlich gibt es Licht und Schatten. Tunesien richtete seine Textil- und Agrarproduktion auf den europäischen Markt aus. Ägypten investierte in die Erdgasindustrie und in erneuerbare Energien. Große Agrarbetriebe setzten auf ökologischen Landbau, um die Nachfrage in Europa zu bedienen. Wachstumsraten von bis zu sieben Prozent scheinen der Politik der wirtschaftlichen Öffnung Recht zu geben. Die Alphabetisierungsrate ist in Ägypten von 57 Prozent im Jahr 1990 auf 72 Prozent gestiegen. Heute besitzen 80 von 100 ÄgypterInnen ein Telefon, 1990 waren es nur drei. Tunesien liegt in den Bereichen Gesundheit und Bildung deutlich über dem arabischen Schnitt. Auch das Außenhandelsdefizit konnte Tunesien verkleinern. Das Land ist aber immer noch auf Entwicklungskredite angewiesen.

Neue Regierungen erben die wirtschaftlichen Probleme

Ägypten hingegen importiert, wie schon seit den 1970er Jahren, weiter Waren im doppelten Wert seiner Ausfuhren. Mit jährlich zwei Milliarden Dollar ist Ägypten einer der größten Absatzmärkte für amerikanisches Getreide.

Dennoch fuhren die Geberländer ihre Entwicklungshilfe stark zurück. War Ägypten in den 1980ern, nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Israel, der größte Empfänger von US-Hilfen, ist es jetzt auf die hinteren Plätze gerückt. Mit derzeit 1,3 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe pro Jahr erhält jede Ägypterin und jeder Ägypter umgerechnet nur 16 Dollar an internationaler Hilfe. Hinzu kommen 1,3 Milliarden Dollar US-Militärhilfe. Das viel kleinere Tunesien ist mit 48 Dollar pro Einwohner deutlich besser gestellt - und entsprechend abhängiger.

Die neuen, hoffentlich demokratischeren Regierungen werden diese wirtschaftliche Lage erben. In Ägypten müssen die neuen Staatslenker genau wie in Libyen zudem der Versuchung widerstehen, sich an den üppigen Renteneinnahmen zu bereichern. Denn nach wie vor sind die Haupteinnahmequellen Ägyptens Erdöl, Erdgas und die Suezkanalgebühren.

Hannah Wettig

Anmerkungen:

1) Landwirtschaftsprodukte, die für den Weltmarkt bestimmt sind.

2) Als Rentierstaaten bezeichnet man Staaten, die sich nicht in erster Linie durch die Besteuerung der StaatsbürgerInnen finanzieren, sondern durch Einnahmen aus Rohstoffexporten oder internationalen Zahlungen. Diese Struktur der Staatsfinanzen mindert für die Regierung den Druck, sich in der Bevölkerung zu legitimieren, und begünstigt Korruption.