Eine Militärdiktatur - und keiner merkt's
Die ägyptische Armee geht immer härter gegen AktivistInnen vor
Als in Ägypten Hunderttausende gegen das Mubarak-Regime protestierten, griff das Militär nicht ein. Die Weigerung der Armee, auf DemonstrantInnen zu schießen, trug entscheidend zum Erfolg der Revolte bei. Nun häufen sich Berichte über Verhaftungen und Folterungen von AktivistInnen. Die Armeeführung arbeitet an der Wiederherstellung der Ordnung und versucht, Proteste zu unterbinden. Das Fazit von AktivistInnen: Der Diktator ist gestürzt, aber die Diktatur noch nicht beseitigt.
"Es hat keine Revolution stattgefunden. Wir leben in einer Militärdiktatur, es merkt nur keiner", sagt Hamid und zieht an einer Wasserpfeife. Er sitzt mit seinen FreundInnen in einem Straßencafé und kann ihrer hitzigen Debatte über die bevorstehende Verfassungsabstimmung wenig abgewinnen.
Ägypten hatte seit der Unabhängigkeit 1952 nur drei Präsidenten, Diktatur ist Normalität. Bis in die jüngste Vergangenheit war das Land de facto ein Ein-Parteien-Staat, der mit Hilfe einer allmächtigen Staatssicherheitsbehörde politische Opposition nahezu unmöglich machte. In den letzten Jahren wuchs der Widerstand: Es etablierte sich eine kritische Blogger-Szene; sinkende Reallöhne, Perspektivlosigkeit und Klientelismus verschafften Basisgewerkschaften Zulauf. Diese organisierten Streiks und wurden unterstützt von der Jugendbewegung "6. April". Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten entwickelten eine wachsende Wut auf die verbreitete Polizeiwillkür.
Für den 25. Januar dieses Jahres plante eine Koalition verschiedener Netzwerke, den nationalen Tag der Polizei in einen Tag des Protests gegen polizeiliche Willkür zu verwandeln. Dann begann die Revolution in Tunesien und auch in Ägypten protestierten die Menschen massenhaft. Der Staatsapparat war überrumpelt. Niemand hätte geglaubt, dass so viele ihre Angst auf die Straße zu gehen in so kurzer Zeit überwinden.
Nach Mubaraks Rücktritt ist der Enthusiasmus grenzenlos
Die Proteste beginnen in Kairo; ihre ProtagonistInnen sind junge Menschen aus der Mittelschicht. Am nächsten Tag radikalisiert sich der Widerstand in Suez, das eher proletarisch geprägt ist. Hier gelingt es zum ersten Mal, die Polizei zu vertreiben, was wiederum einen Motivationsschub für die Proteste in Kairo, Alexandria und anderen Städten bringt. Je brutaler die Polizei vorgeht, desto entschlossener werden die Aufständischen, desto mehr Menschen schließen sich spontan an. Als Mubarak am 11. Februar zurücktritt, ist der Enthusiasmus der Bewegung grenzenlos, jetzt scheint alles möglich. Jeder diskutiert in den Cafés und Straßen über die Zukunft des Landes. Auf die Frage, ob sie sich keine Sorgen macht, dass das alte Regime wieder erstarken könnte, antwortet eine junge Aktivistin lächelnd: "Wir wissen jetzt, wo der Tahrir ist."
So oder so ähnlich ist die Geschichte dieser unerklärten Revolution um die Welt gegangen. Es fehlt allerdings ein entscheidender Teil des Bildes: die Rolle des Militärs.
Das Militär kontrolliert große Teile der ägyptischen Wirtschaft, besitzt Fabriken, Hotels, Strände, Nahrungsmittelunternehmen und Land. Schon immer war es eine eigenständige Kraft im Machtgefüge des Regimes. Sie hatte es allerdings dank Mubarak, seiner Nationaldemokratischen Partei (NDP) und der Sicherheitspolizei nicht nötig, selbst als Repressionsorgan aufzutreten.
Das Militär genießt ein hohes Ansehen, was einerseits auf seine Rolle bei der Befreiung aus der Kolonialherrschaft, andererseits auf die starke Verankerung in der Bevölkerung wegen der allgemeinen Wehrpflicht zurückzuführen ist. Als am 29. Januar zum ersten Mal Panzer und Soldaten in den Straßen Kairos zu sehen waren, wurde dies von den Protestierenden positiv aufgenommen. Die Rolle des tunesischen Militärs bei der Absetzung des dortigen Präsidenten war in Ägypten genau beobachtet worden und eine zeitweise Militärregierung schien gegenüber dem folternden, korrupten System Mubaraks das kleinere Übel. Nun, nach dem Sturz Mubaraks, erscheint die zuvor schon enorme Macht der Armee grenzenlos.
Doch die Flitterwochen zwischen Militär und Protestbewegung sind schnell zu Ende: Am 26. Februar geht die Armee zum ersten Mal mit Gewalt gegen eine Kundgebung auf dem Tahrir-Platz vor. Am 9. März wird das Protestcamp von einem mit Knüppeln und Steinen bewaffneten Mob angegriffen. Der erste Angriff wird abgewehrt, doch als ein zweiter, größerer folgt, greift das Militär ein und verhaftet über 200 Protestierende. BeobachterInnen zufolge zeigen Personen in Zivil auf AktivistInnen, die dann von den Soldaten festgenommen werden. Die Gefangenen werden auf das Gelände des Ägyptischen Museums gebracht und dort schwer misshandelt. Sie werden ausgezogen, verprügelt, mit Elektroschocks gequält und mit Dreck beschmiert. Frauen werden der Prostitution angeklagt und nackt gefilmt. Viele von ihnen sind noch in Haft und warten auf Prozesse vor einem Militärgericht.
Die Armee verhaftet und misshandelt AktivistInnen
Ramy Essam ist einer derjenigen, die wieder frei sind und den Mut hatten, die Geschehnisse öffentlich zu machen. Er stellte ein Video ins Netz, auf dem er erzählt, was ihm widerfahren ist und seine Verwundungen zeigt. Unter den besser vernetzten AktivistInnen zirkulieren mehr und mehr solcher Berichte. Sie zwingen zu einem schnellen Umdenken in Bezug auf den Militärapparat. Doch die ägyptische Presse berichtet nur zögerlich. Es wird deutlich, dass bei aller Offenheit der Berichterstattung weiterhin ein großes Tabu besteht: negativ über das Militär zu schreiben. Entgegen dem ersten Eindruck, die Soldaten seien überfordert und schlecht auf die neue politische Lage vorbereitet, häufen sich mittlerweile Indizien, die eher für eine präzise Strategie sprechen.
Die Rekonstruktion der Rolle des Militärs im ägyptischen Frühling ist mutigen Einzelpersonen wie dem Kriegsdienstverweigerer und Blogger Maikel Nabil Sanad zu verdanken, dessen Dossier vielen die Augen geöffnet hat. (Siehe Kasten) Anhand zahlreicher Dokumente widerlegt er die Mythen, die das Militär mit Hilfe einer ausgefeilten Medienstrategie geschaffen hat. Seine zentrale These: Das Militär stand zu keinem Zeitpunkt auf der Seite der ReformerInnen, sondern verfolgte Ziele, die mit denen der Revolution unvereinbar sind. Der Umsturz, sagt er, habe zwar den Diktator beseitigt, nicht aber die Diktatur. Die Militärführung versuche nun, einflussreiche Personen aus der Bewegung mit Hilfe von Posten und Zugeständnissen zu korrumpieren. Die Militärpolizei sei gezielt gegen eine Aufarbeitung der Ereignisse durch Menschenrechtsorganisationen vorgegangen.
Die Strategie, die nach seiner Einschätzung vom sogenannten Incorporal Affairs Department, der Abteilung des Militärs für psychologische Kriegsführung, umgesetzt wurde, beschreibt Maikel Nabil folgendermaßen: "Das erste, was die Abteilung für psychologische Kriegsführung machte, war das Fotografieren und Filmen auf dem Tahrir-Platz zu verbieten." Auf diese Weise sollte die stark emotional geprägte Kommunikation zwischen den Protestierenden vor Ort und der Masse an den Computer-Bildschirmen unterbrochen werden. Das Ziel sei es gewesen, eine Entfremdung zwischen den noch Protestierenden und der Rest-Bevölkerung zu erreichen.
Andere AktivistInnen berichten auch von Zeitungsartikeln, die behaupten, auf dem Tahrir-Platz seien vor der Räumung nur noch Drogendealer und Obdachlose gewesen. Auch hier vermuten sie eine Beeinflussung der Berichterstattung durch das Militär.
Die Methoden zur Einflussnahme sind vielfältig: Einberufung der Chefredakteure wichtiger Zeitungen, Agenda-Setting bei den TV-Sendern und vorauseilender Gehorsam durch JournalistInnen. Maikel Nabil schreibt: "Sie bekamen den klaren Befehl, jede Diskussion über Mubaraks Reichtum zu unterbinden." Gleichzeitig habe Incorporal Affairs auch eigene Leute in vielen Redaktionen, die aktiv an einem positiven Image der Generäle arbeiten, auch solcher, die unter Mubarak hohe Ämter bekleideten.
Einschüchterung, Folter, psychologische Kriegsführung
Um während der heißen Phase der Proteste Einfluss auf die allgemeine Stimmung zu nehmen, verschickte die Armeeführung mit Hilfe der Telefongesellschaften auch massenweise Propaganda-SMS. Diese Kurznachrichten lauteten zum Beispiel: "Die Sit-Ins, die trotz der normalisierten Situation weiter durchgeführt werden, verhindern, dass wir voran kommen.", "Es ist die Pflicht eines echten Patrioten, sich unverantwortlichen Individuen in den Weg zu stellen." oder "Wir sind uns der Bedürfnisse der Menschen bewusst und arbeiten hart, um ihre Erwartungen zu erfüllen."
Die Liste der von Maikel zusammengetragenen Dokumente und Informationen ist lang und bestechend. Am Morgen des 29. März wird er von Soldaten festgenommen. Die Anklage lautet "Beleidigung des Militärs" und "Störung der öffentlichen Sicherheit". Sein Prozess vor einem Militärgericht wurde mehrmals verschoben. UnterstützerInnen stehen unter enormem Druck, Prozessbeobachtung und öffentliche Proteste sind von massiver Repression bedroht.
Am 1. und 8. April waren zum ersten Mal seit Wochen wieder massenhaft Menschen auf der Straße, um ihre Revolution zu verteidigen. Sie fordern die Absetzung der verbliebenen Regime-Mitglieder und eine konsequente Strafverfolgung, ein Ende der Militärprozesse gegen ZivilistInnen und das Recht, frei protestieren und streiken zu können. Am 8. April nahmen auch Soldaten in Uniform teil - obwohl die Militärführung das ausdrücklich untersagt hatte. Eine Machtprobe mit unklarem Ausgang. "Es fühlt sich an wie eine Wiedergeburt, viele Leute begreifen endlich, was wirklich los ist", sagt Hamid.. "Aber ich habe das Gefühl, die nächsten Tage werden härter als alles, was wir bisher erlebt haben."
Philipp Löffler, 8. April 2011
Aktuelle Meldungen in deutscher Sprache über die Ereignisse in Kairo gibt es auf www.springtime-egypt.blogspot.com
Ein Dossier über die Rolle des Militärs
Auf seinem Blog www.maikelnabil.com berichtet Maikel Nabil Sanad kritisch über das ägyptische Militär. Unter dem Titel "The army and the people wasn't ever one hand" veröffentlichte er dort am 8. März ein ausführliches Dossier über Anti-Protest-Maßnahmen, Verhaftungen und Folter durch die Armee. Es umfasst Ereignisse von Beginn der Proteste am 25. Januar bis Ende Februar. Wir dokumentieren Auszüge über die Periode bis zu Mubaraks Rücktritt am 11. Februar:
28. Januar: Die Polizei geht mit Tränengas, Gummigeschossen und scharfer Munition gegen DemonstrantInnen vor. Als einer Einheit gegen 18 Uhr der Nachschub ausgeht, beobachten DemonstrantInnen, dass ein Jeep der Militärpolizei sie mit scharfer Munition versorgt. Danach eröffnet die Polizeieinheit erneut das Feuer auf die Protestierenden.
30. Januar bis 6. Februar: Die Militärpolizei verhaftet mehrere bekannte Blogger, darunter Maikel Nabil, und zahlreiche DemonstrantInnen. Sie werden geschlagen, sexuell misshandelt und mit Elektroschocks gefoltert.
2. und 3. Februar: Schläger attackieren die DemonstrantInnen auf dem Tahrir-Platz. Zehn Menschen sterben, über 1.500 werden verletzt. Die Armee steht daneben und greift nicht ein.
3. Februar: Die Militärpolizei stürmt die Büros von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen, stellt Daten sicher und verhaftet MitarbeiterInnen.
4. bis 10. Februar: Armee-Einheiten versuchen wiederholt, DemonstrantInnen vom Tahrir-Platz zu vertreiben. Es kommt zu Zusammenstößen.
www.maikelnabil.com