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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 560 / 15.4.2011

Die Wut auf die Regierung wächst

Ein Bericht aus den Straßen von Damaskus

Syrien erlebt bewegte Zeiten, in Damaskus gehen die Menschen auf die Straße. In der syrischen Hauptstadt lebt auch der Theaterregisseur R.Z. In seinen Stücken geht es um die Menschlichkeit in einer verlogenen und von Autoritätsdenken geprägten Gesellschaft, um die Isolierung des Individuums und das Gefühl der Ausgegrenztheit bei Verweigerung politischer und gesellschaftlicher Normen. Im Folgenden schildert er seine Eindrücke aus den letzten beiden Märzwochen in Syrien.

Die Ereignisse überschlagen sich in den letzten Tagen. Hintergrund sind zum einen die Ereignisse der letzten Monate in der arabischen Welt. Zum anderen wurden Anfang März ca. 15 Schulkinder über zwei Wochen im Gefängnis festgehalten. Sie hatten das "Das Regime muss fallen" an Häuserwände geschrieben.

15.3.11: Es kommt zu einer kleinen Demonstration in der Altstadt von Damaskus. Sofort werden die Rufe nach Freiheit unterdrückt. Dies wird auf Handy aufgenommen und in ausländischen Medien gesendet, vor allem in einem syrischen Sender in Dubai namens Orient. Daraufhin werden alle syrischen Mitarbeiter des Kanals von Funktionären des Geheimdienstes telefonisch kontaktiert und bedroht. Viele Mitarbeiter kündigen, der Sender kann für mehrere Tage nicht berichten.

16.3.11: Sit-in vor dem Innenministerium in Damaskus, Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen. Die ca. 50 friedlichen Teilnehmer werden gewaltsam auseinander getrieben, die Hälfte festgenommen. Darunter auch prominente Oppositionsführer wie Soheir Al Atassi und der Philosoph und Universitätsprofessor Al Tayeb Al Tazini, 80 Jahre alt.

Scharfe Munition gegen friedliche Demonstranten

18.3.11: Demos in kleineren Städten, eine Demo von ca. 30 Personen in der Omayaden-Moschee von Damaskus (der wichtigsten Moschee im Land) wird mit Gewalt unterdrückt. In der südsyrischen Stadt Deraa demonstrieren nach Ende des Freitagsgebets 1.000 Menschen wegen der Festnahmen der Kinder. Slogan: "Gott, Syrien, Freiheit und sonst nichts!" Das Regime reagiert mit Gewalt, scharfe Munition wird auf die Demonstranten gefeuert, mehrere Personen werden getötet. Die Situation eskaliert. Die Menschen verfolgen die Ereignisse auf Facebook und ausländischen TV-Sendern. Die Regierung schweigt zunächst, dann Propaganda-Nachrichten: Bewaffnete Gangs würden dahinter stecken, Palästinenser, islamistische Extremisten, ausländische Geldgeber (Israel).

22./23.3.11: In der Nacht zum Mittwoch wird eine Moschee mit Demonstranten gestürmt, Leute werden erschossen, angeblich Waffen und Geld sichergestellt. Die Tötung der Demonstranten, darunter ein elfjähriges Mädchen, empört die Menschen, welche sich dank BBC Arabic informieren können. Die Regierung versucht, alles herunterzuspielen. Die Stimmung in Damaskus wird immer angespannter. Noch stärkere Präsenz des Sicherheitsapparates als üblich. Man hört ständig Sirenen von Polizei und Krankenwagen, aber auch Autokorsos von Regimeanhängern, die nachts mit Parolen wie "Gott, Syrien, Bashar und sonst nichts" durch die Straßen fahren. Die Menschen werden immer wütender. Sie wollen sich angesichts der neuen Opferzahlen von ca. 20 Toten in Deraa mit den Menschen dort solidarisieren und versuchen kleinere Kundgebungen abzuhalten, doch der Unterdrückungsapparat reagiert sofort mit aller Härte.

24.3.11: Erste politische Reaktion nach sechs Tagen: Die Beraterin des Präsidenten, Botheina Shaaban, verspricht auf einer Pressekonferenz Reformen: Abschaffung des Ausnahmezustandes, Erhöhung der staatlichen Gehälter, Freilassung der Gefangenen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Deraa festgenommen wurden, Zulassung anderer Parteien - keine Aussagen zu den Toten in Deraa, außer dass eine Kommission die Ereignisse untersuchen werde und der Gouverneur von Deraa entlassen wurde. Alles sehr allgemein und unpräzise. Die Antwort der Bevölkerung: "Bothein Shaaban, das syrische Volk ist nicht hungrig. Es will Freiheit." Zugespitzt wird das Ganze durch das Staatsfernsehen: Bilder von angeblichen Freudenmärschen angesichts der Reformankündigungen aus verschiedenen Städten - auch aus Deraa. Es ist ein Schlag ins Gesicht all der Familien, deren Angehörige erschossen und verhaftet wurden.

25.3.11: Nach dem Freitagsgebet explodiert die Stimmung im ganzen Land. In fast allen Städten Syriens finden Demonstrationen statt, aus Solidarität mit den Opfern in Deraa. Ausländische Medien werden auch diesmal nicht nach Deraa gelassen.

Das Volk ist nicht hungrig, es will Freiheit

Hier in Damaskus demonstrieren Hunderte, ich versuche, dazu zu stoßen, doch als ich bei der Demo ankomme und gerade mit dem Handy die brutale Verhaftung eines Demonstranten dokumentieren will, werde ich an den Armen gepackt und verhaftet, man nimmt mir mein Handy weg und verlangt das Löschen des Aufgenommenen. Nach einem kurzen Verhör werde ich freigelassen. Das verdanke ich nur dem Umstand, dass der Sicherheitsapparat bereits mit den vielen anderen Festgenommenen zu tun hat.

Ca. 1.000 Leute befinden sich auf dem Platz, einige laufen durcheinander. Die Demonstranten fordern Freiheit, die Sicherheitskräfte antworten mit Brutalität und knüppeln die Menschen auseinander. Über 300 Festnahmen, darunter auch befreundete Journalisten.

Ich treffe mich mit Freunden in einem Café in der Nähe und erfahre, dass es weitere kleine Demos in anderen Vierteln der Stadt gab und auch andere Freunde von uns aus dem Künstlerkreis festgenommen wurden (Männer und Frauen). Wir fühlen alle eine starke Wut in uns, und wir fühlen uns hilflos, da die starke Präsenz der Sicherheitskräfte in Damaskus jegliche Demo in Kürze zerschlägt.

Zu Hause kehre ich zurück zu Fernseher und Internet. Seit über zwei Wochen kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, verbringe meine Zeit auf der Facebookseite gegen das Regime und für die Revolution, diskutiere dort mit Freunden und Unbekannten über die Ereignisse, ärgere mich über die plumpen Versuche des Geheimdienstes, sich dort reinzuschleichen, lese die Ankündigungen für neue Demos.

Dann erneut schlechte Nachrichten: In mehreren Städten - in Lattakia, Homs, Damaskus und in Deraa - wurden die Demonstrationen mit scharfer Munition beschossen, viele Tote und noch mehr Verletzte. Genaue Zahlen habe ich auch heute am Samstag, dem 26.3., noch nicht, da das Regime keine Zahlen verkündet. Die ganze Nacht laufen im staatlichen TV Bilder von "spontanen" Demonstrationen für die Regierung, nicht aber die Bilder des Abfeuerns scharfer Munition auf friedliche Demonstrationen. Und schon gar nicht die nun zum ersten Mal zu hörenden Rufe "Sturz des Regimes". Das war bis dahin in Syrien nicht zu hören. Noch ungeheuerlicher sind die Bilder, die ich später auf Facebook und YouTube finde: In Homs wurden Bilder des vorherigen und des jetzigen Präsidenten zerrissen, in Deraa die Statue "zu Ehren" von Hafez Al Assad gekippt.

Beim Schreiben dieser Zeilen bin ich mir sehr wohl bewusst, dass auch ich vielleicht bereits morgen in einem der Gefängnisse sitzen könnte. Aber es gibt kein Zurück mehr, oder wie es nun in den Straßen Syriens zu hören ist: Seit heute haben wir keine Angst mehr!

R. Z., syrischer Theaterregisseur