Aufgeblättert
Antisemitismus und Nation
Schwerpunktthema von Nr. 4/2010 der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) ist "Antisemitismus und die Transformation des Nationalen". Eröffnet wird die Debatte von Samuel Salzborn, dem Autor des Buches "Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne". (vgl. ak 551) In seinem Aufsatz "Antisemitismus und Nation" widmet er sich der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung von Hannah Arendt bis Klaus Holz. Während Arendt Antisemitismus als antinationale Ideologie begreift, sieht Holz Antisemitismus und Nationalismus unmittelbar miteinander verknüpft: Für den Antisemiten sei "der Jude" die "Figur des Dritten" - ein Feind nicht nur der eigenen Nation, sondern des als national vorgestellten Ordnungsprinzips schlechthin. Salzborn würdigt diese Erkenntnis, weist aber darauf hin, dass Antisemitismus sich auch mit "nichtnationalen" oder "postnationalen" Ideologien verbinden kann. Diese Beobachtung wird von Mathias Falter und Elisabeth Kübler aufgegriffen: Sie analysieren anhand von Dokumenten der Durban-II-Konferenz gegen Rassismus "Manifestationen des Antisemitismus im kosmopolitischen Umfeld". Zu unterscheiden seien dabei "fünf zentrale Topoi": "die Fixierung auf Israel als alleinig schuldtragend am Nahostkonflikt, die Delegitimierung jüdischer Staatlichkeit, die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus, der Mythos einer jüdischen Weltverschwörung sowie die Kaperung jüdischer Holocausterinnerung". Was sich in dieser Allgemeinheit überzeugend liest, wird kompliziert, wenn man ins Detail geht - etwa bei der "Charakterisierung Israels als jüdischen Staat", welche, wie Falter/Kübler einräumen, "die gesellschaftliche israelische Realität ... nur bedingt widerspiegelt". Was diese Einsicht etwa für die Bewertung der immer weniger staatsloyalen Haltung der arabischen Minderheit in Israel bedeutet, lassen die AutorInnen offen.
Js.
Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP), Vierteljahresschrift, Nr. 4/2010: Antisemitismus und die Transformation des Nationalen. 112 Seiten, 15 EUR plus 2 EUR Versandkosten. www.oezp.at
Piraten und Piratenmythos
Es ist erstaunlich, welchen Einfluss Werke der Mainstream-Medien gelegentlich auf linke Theoriebildung ausüben. In diesem Fall waren es offensichtlich die Filme um die "Piraten der Karibik", die zu einer wahren Piratenbegeisterung und schließlich zu diesem Buch geführt haben. Darin behandelt Gabriel Kuhn das "Goldene Zeitalter" der Piraten als Folge der ersten kolonialen Landnahmen der Europäer im 16. bis 18. Jahrhundert. Die sozialen Hintergründe der Entstehung der Piraterie - grauenhafte Zustände in den frühkapitalistischen Metropolen, noch grauenhaftere Bedingungen, unter denen die Schiffsbesatzungen arbeiten und leben mussten, und als Gipfel der Barbarei die Plantagensklaverei - werden vom Autor nur am Rande erwähnt, ebenso wie die zahlreichen Aufstände und Meutereien, deren Akteure sich häufig mangels Alternativen den Piraten anschlossen. Im Buch werden hingegen umfängliche Debatten dokumentiert, ob es sich bei den "Piraten der Karibik" um ein emanzipatorisches Projekt gehandelt hat. Der Autor hat eine erstaunliche Fleißarbeit geleistet; er zitiert u.a. Friedrich Nietzsche und Eric Hobsbawm, bemüht sich auch um Objektivität, indem er zahlreiche Fälle durch Piraten begangener Grausamkeiten und rassistischer Unterdrückung dokumentiert. Zu Recht verweist er die angeblich egalitäre Piratenrepublik "Libertaria" auf Madagaskar in das Reich der literarischen Utopien. Letztlich kann er sich aber nicht entscheiden, ob es sich bei dem Piratenmythos nun um die nachträgliche Romantisierung einer Totschlägerbande oder um eine parasitäre Ökonomie radikaldemokratischer Sozialbanditen gehandelt hat. Dass Karl Marx die weltweite Plünderung durch das Handelskapital mit Seeräuberei verglichen, Friedrich Engels die englische Aristokratie als Haufen "industrieller Bukaniers und Piraten" charakterisiert hat, wird in dem Buch nicht erwähnt.
Gerd Bedszent
Gabriel Kuhn: Unter dem Jolly Roger. Piraten im Goldenen Zeitalter. Assoziation A, Berlin, Hamburg 2011. 230 Seiten, 18 EUR
Kronstädter Aufstand
Zum 90. Jahrestag der Niederschlagung des Arbeiter- und Matrosenaufstands von Kronstadt veröffentlicht "Die Buchmacherei" Klaus Gietingers Darstellung von Vorgeschichte, Verlauf und Ende des Aufstandes. Erstmals erschienen sind die Texte 1997 in der jungen Welt. Der Autor widerspricht der sowohl von AnhängerInnen Stalins als auch Trotzkis verbreiteten Behauptung, der Aufstand sei von Zaristen und Konterrevolutionären zu verantworten gewesen. Die Erhebung war vielmehr das Ergebnis der Unzufriedenheit über die ökonomische Situation und den beginnenden Bürokratismus in der jungen Sowjetunion. Im Grunde forderte die aufständiche Kommune etwas, was die Bolschewiki nur wenig später gezwungenermaßen nachvollzogen: den Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik. Später von den Bolschewiki als "ultralinks" verurteilte Konzepte, wie die sofortige Abschaffung des Geldes als Zahlungsmittel, wurden auch von den Kronstädtern abgelehnt. Umso verhängnisvoller war, dass Vermittlungsversuche, auch aus den Reihen der Bolschewiki, nicht aufgegriffen wurden. Hier hätte der Autor auch die politischen Fehler auf Seiten der Kronstädter stärker herausarbeiten können. Sie waren wenig kompromissbereit, weil sie meinten, international unterstützte Vorreiter einer dritten Revolution zu sein. Manches in Gietingers Arbeit ist historisch fragwürdig, etwa die These, dass Lenin von Rosa Luxemburg spätestens seit 1911 nichts mehr gehalten habe, oder der Vergleich Lenins mit Noske. Auch dass Trotzki die russische Bauernschaft hasste, kann zumindest aus dessen Schriften nicht begründet werden.
Peter Nowak
Klaus Gietinger: Die Kommune von Kronstadt. Die Buchmacherei, Berlin, 2011. 138 Seiten, 10 EUR
Als "Negerbastard" in Nazideutschland
"Es fällt mir bis heute nicht leicht, über meine Zeit im KZ zu reden. Ich fühle mich jedes Mal aufs Neue in die damalige Situation zurückversetzt, sehe mich auf der Lagerstraße entlanglaufen, auf dem Appellplatz stehen oder in meinem Block sitzen. Doch wenn ich in die Gesichter der jungen Menschen schaue, die in die Veranstaltungen mit mir kommen, spüre ich, dass ich als Zeitzeuge tatsächlich etwas bewirke", schreibt Gerd Schramm am Ende seiner Autobiographie. Geboren wurde er 1928 als Sohn einer Deutschen und eines schwarzen US-Amerikaners in Erfurt. Mit dem Schulbeginn spürte er nicht nur durch den offen rassistischen Lehrer, sondern auch immer mehr durch seine Umgebung, dass er "anders" war. 1944 wurde er als 14-Jähriger an seinem Arbeitsplatz verhaftet und nach mehr als einem Jahr Gestapohaft in das KZ Buchenwald gebracht. Es waren die Kameraden, wie er schreibt, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens dazu beitrugen, dass er überlebte. Sie ließen ihn auf dem Appellplatz möglichst unsichtbar in der Mitte der Häftlinge stehen und sorgten auch dafür, dass er statt im Steinbruch im Baukommando und in der Materialbaracke arbeiten konnte. Nach der Befreiung kam er im Land derjenigen, die ihn gedemütigt und verfolgt hatten, nicht zur Ruhe. Er ging nach Frankreich, kehrte aber in den 1960er Jahren in die DDR zurück und arbeitete erst in Transport- und Baubetrieben und schließlich als selbstständiger Taxiunternehmer in Eberswalde. Nach der Wende hat ihn die Bedrohung durch Neonazis bewegt, sich in der Aufklärungsarbeit gegen Rechts zu engagieren.
Gabi Bauer
Gert Schramm: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Mein Leben in Deutschland. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 267 Seiten, 19,95 EUR