Strahlendes Proletariat
Leiharbeit ist auch in Deutschland elementarer Bestandteil der Atomindustrie
Mit der Katastrophe von Fukushima rückten auch die Arbeitsverhältnisse in Atomkraftwerken ins öffentliche Bewusstsein - vom japanischen "Strahlenproletariat" war die Rede, die Frankfurter Rundschau (4.4.11) spürte den französischen Nuklear-Nomaden nach. Dabei ist Leiharbeit in AKWs nicht nur im Ausland ein Problem. Auch in Deutschland bekommen LeiharbeiterInnen bei der gefährlichen Arbeit durchschnittlich mehr Strahlung als die Festangestellten ab - ein Problem, um das sich die Gewerkschaften nicht offensiv kümmern.
LeiharbeiterInnen, hieß es schon in Robert Jungks Klassiker "Der Atomstaat", sind die "Söldner, die Lumpenproletarier der Atomindustrie", denen man "alles zumuten darf". Etwa für Reinigung und Wartung brauchen die Betreiber kurzfristig deutlich mehr Personal als im Normalbetrieb. Es geht um gefährliche Arbeiten, bei denen Beschäftigte erhöhter radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind: Jobs für LeiharbeiterInnen.
Arbeitnehmerüberlassung, so der Überbegriff für Leiharbeit, Personalleasing und Zeitarbeit war bis 1967 in Deutschland verboten und seit 1972 nur streng reguliert zugelassen. Mit der Agenda 2010 wurden ab 2004 fast alle Beschränkungen aufgehoben. Vor allem in der Atomindustrie legte die Leiharbeit schon früh eine steile Karriere hin. Verwendet wurde jedoch vor allem der Begriff "Fremdpersonal".
Keine 10 Jahre nach der Zulassung von Leiharbeit 1967 gab der damalige Abteilungsleiter des AKW Gundremmingen Norbert Eickelpasch zu Protokoll, dass "durch erhöhten Einsatz von Fremdpersonal und verbesserte technische und organisatorische Maßnahmen ... die Dosisbelastung des Wartungs- und Strahlenschutzpersonals in der Abschaltzeit 1972 gegenüber dem Vorjahr reduziert werden konnte." Wie viele LeiharbeiterInnen von ihnen in deutschen AKWs zum Einsatz kommen, ist nicht leicht zu ermitteln. Auch die Gewerkschaften, denen das Thema sonst so am Herzen liegt, zeigen sich wenig auskunftsbereit. Einen Anhaltspunkt bieten die Strahlenpässe, die 1977 mit der Strahlenschutzverordnung eingeführt wurden. Das gelbe Heft im A6-Format soll sicherstellen, dass ArbeiterInnen nicht zu viel Strahlung abbekommen. Wer seine "Dosisreserve" aufgebraucht hat, wird nicht mehr eingesetzt.
Leiharbeit: Frühe und steile Karriere in deutschen AKWs
Wurden im ersten Jahr, 1977, weniger als 4.000 Pässe ausgestellt, hatte sich ihre Zahl zwei Jahre später bereits verfünffacht. Ende der 1980er waren bereits rund 60.000 Strahlenpässe vergeben, 2009 zählte das Umweltministerium 75.000 Inhaber des Dokuments - wobei offen ist, wie viele davon AKW-LeiharbeiterInnen sind. Aufschluss könnte eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag geben, die bis Ende Mai 2011 von der Bundesregierung beantwortet werden muss. In 34 Fragen soll diese zu Werk- und Leiharbeit in AKWs in Deutschland Rede und Antwort stehen. Auch dem Münchner Stadtrat liegt eine Kleine Anfrage zu Leiharbeit in Isar II vor.
Die über die Jahre gewachsene Bedeutung der Leiharbeit in Atommeilern bestätigt jedoch eine 2000 veröffentlichte Studie des Otto-Hug-Strahleninstituts: Sie gibt für 1973 knapp 3.000 LeiharbeiterInnen an, 1990 wurden bereits rund 28.000 gezählt. Und 2009 arbeiteten nach Angaben des Umweltministeriums rund 24.000 "externe MitarbeiterInnen" in deutschen AKWs. Üblicherweise sprechen die Energiekonzerne von insgesamt 30.000 bis 40.000 Beschäftigten in der Kernenergieerzeugung.
Der hohe Anteil an sogenanntem Fremdpersonal ist nicht zuletzt auf den Versuch zurückzuführen, die strahlenintensivsten und gefährlichsten Arbeiten "umzuverteilen". Mit Leiharbeit werden gesundheitliche Risiken gewissermaßen outgesourct: In den 1980er und 1990er Jahren kamen drei Viertel aller ArbeiterInnen, die in AKWs radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, von Fremdfirmen. Seit Mitte der 1980er Jahre ist ihre Belastung höher als die der Stammbelegschaften - laut Otto-Hug-Institut "um etwa 75 Prozent". Das deckt sich in etwa mit Frankreich, wo es nicht nur mehr AKWs gibt, sondern auch Leiharbeit eine wichtigere Rolle spielt. Die Soziologin Annie Thébaud-Mony untersuchte die dortigen Arbeitsbedingungen und kam zu dem Ergebnis, dass die LeiharbeiterInnen etwa 80 Prozent der problematischen Strahlendosen abbekommen. (Focus, 14.4.11) Wenn sie die zulässige Jahreshöchstdosis von 20 Millisievert überschreiten, werden sie entlassen.
Die Gefahren für AKW-ArbeiterInnen vervielfachen sich, wenn unter Zeitdruck gearbeitet werden muss. Und der ist seit der Liberalisierung des Energiesektors größer geworden. So wurde zum Beispiel zwischen 1994 und 1999 die Revisionszeit im Atomkraftwerk Neckarwestheim II auf die Hälfte reduziert - von 33 auf 17 Tage. Schon länger kritisiert die Ärzte-Organisation IPPNW, dass in Atomkraftwerken "regelmäßig ungelernte Hilfskräfte und Leiharbeiter eingesetzt" würden.
Der Siemens-Konzern etwa soll 1996 beim Austausch der für die Reaktor-Schnellabschaltung erforderlichen Steuerstäbe des AKW Isar-1 rund 40 Prozent Hilfskräfte eingesetzt haben. Die 14 Steuerstabantriebe wurden in Rekordzeit ausgetauscht, was nach Meinung von IPPNW nichts anderes bedeutet, als dass die ArbeiterInnen intensiver und länger radioaktiver Strahlung ausgesetzt wurden.
Mit welchen Folgen das womöglich einhergeht, zeigte ein Bericht des Fernsehmagazins Report Mainz. Ein Dekontaminationsarbeiter, der zwischen 2001 und 2007 für ein Unternehmen in zwölf AKW die Becken für Brennelemente gereinigt hatte, starb vor zwei Jahren an Blutkrebs. Während die Berufsgenossenschaft abstreitet, dass die Krankheit wesentlich auf seine Arbeit in tödlicher Umgebung zurückzuführen ist, kam ein Gutachten der Universitätsmedizin Göttingen zu einem ganz anderen Schluss. Die Radioaktivität sei "eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Leukämie".
Laut seinem Strahlenpass hatte der Mann übrigens keine übermäßige Strahlung abbekommen. Die bisher gültige Regelung geht davon aus, dass eine chronische Belastung weniger schädlich ist als ein akute - ohne dass es hierfür eine Begründung gebe, kritisiert die Grüne Sylvia Kotting-Uhl. Deshalb fordert sie eine Senkung der Grenzwerte. Wegen des erhöhten Zeitdrucks bei den Revisionen der Meiler ist aber vor allem die Nichteinhaltung von Vorschriften das zentrale Problem. Die würden oft ignoriert, hatte der verstorbene Dekontaminationsarbeiter gegenüber der Berufsgenossenschaft zu Protokoll gegeben. So seien beispielsweise Räume trotz erhöhter Strahlung für Revisionsarbeiten freigegeben worden - für ihn mit offenbar tödlichen Folgen.
Nichteinhaltung von Vorschriften durch Zeitdruck
Der durch Report Mainz bekannt gewordene Fall, der nun vor Gericht ist, hat die Gewerkschaften verunsichert. Es werde ein politischer Prozess unterstreicht Wolfgang Niclas von der IG Metall Erlangen, der für Areva zuständig ist und zugleich den Vorsitz des DGB Erlangen innehat. Wenn entschieden wird, dass die Krebserkrankung auf die Reinigungstätigkeit in den Atommeilern zurückzuführen, also eine Berufskrankheit ist, wäre es ein Urteil mit Signalwirkung.
Aber auch der Gewerkschafter Niclas kann wenig über Leiharbeit in den Meilern sagen, die von Areva "betreut" werden. Zehn Prozent der Beschäftigten des Konzerns sind Leiharbeiter, wie viele im sogenannten AKW-Service eingesetzt werden, ist unbekannt. Hinter dem harmlosen Begriff "Service" verbirgt sich unter anderem die Überprüfung der Sicherheitsvorrichtungen bei einer Revision, das Auswechseln der Brennstäbe sowie vor allem der Rückbau von stillgelegten AKWs.
Ein besonderes Programm für LeiharbeiterInnen in AKWs gibt es in der IG Metall nicht. Dafür sei die Gewerkschaft zu schlecht aufgestellt, sagt Niclas. Zudem sei die IG Metall seit Jahrzehnten konsequent für den Ausstieg aus der Atomenergie, was die Verhandlungsbedingungen mit den Unternehmen der Branche nicht unbedingt verbessert habe. Und dennoch: Auch für diese LeiharbeiterInnen macht sich die IG Metall stark, für sie sollen die allerbesten Sicherheitsbedingungen gelten und eine möglichst umfassende Gleichbehandlung. Die IG Metall hat wie in allen Betrieben das Interesse daran, Leiharbeit auf ein "vernünftiges Maß" zu bringen, so Niclas. Was das konkret heißen soll, ist unklar.
LeiharbeiterInnen bekommen 75 Prozent mehr Strahlung ab
Ungleich mehr Engagement bringt die IG Metall Erlangen hingegen für die Verteidigung des Weltmarktführers in Nukleartechnik auf. Das zeigte sich nach dem ersten Mai 2011. Der Erlanger Oberbürgermeister Siegfried Balleis hatte in einem Grußwort auf der 1.-Mai-Kundgebung des DGB darauf hingewiesen, dass man Areva nicht in eine "Schmuddelecke" stellen solle. Für die Gewerkschaften war diese Aussage verwirrend, da Areva "zu den vorbildlichen Unternehmen in Erlangen gehört" - also alles andere als ein Schmuddelunternehmen sei und das auch niemand behauptet habe.
Areva stelle im Gegenteil, so die IG Metall in einer Stellungnahme, "nicht nur über 4.000 sehr gute und hochqualifizierte Arbeitsplätze zur Verfügung. Die Areva sei in Erlangen ein wesentlicher Baustein der Unternehmenslandschaft der zur hohen Qualität des Wirtschafts- und Arbeitsstandorts Erlangen beiträgt." Die weiteren Ausführungen lesen sich wie ein Werbeblock für das strahlende Geschäft: Areva sei in vielerlei Hinsicht ein "vorbildliches Unternehmen", mit vielen zusätzlichen Sozialleistungen wie beispielsweise einem Betriebskindergarten und öffentlichem Kultursponsoring.
Während sich die IG Metall seit Jahren in der Atomfrage eindeutig positioniert und sich selbst DGB-Chef Michael Sommer auf der großen Anti-AKW-Demonstration nach der Katastrophe von Fukushima in Berlin für einen Ausstieg aussprach, ticken in Erlangen die Uhren anders. Mehr noch: Die Frage nach der Atomkraft wird einfach an die politische Klasse delegiert. Die kritischen Positionen des DGB und seiner Gewerkschaften zu AKWs seien bekannt - es sei aber Sache der Politik über die Zukunft der Atomkraft zu entscheiden. Die Gewerkschaften könnten weder den Beschäftigten noch der Firmenleitung vorwerfen, dass Areva Produkte auf "höchstem Niveau" anbietet. Gewerkschafter Niclas schließt mit der Bemerkung: "Wir klagen auch nicht Porsche an, wenn irgendwo ein Unfall wegen überhöhter Geschwindigkeit passiert."
Während diese Positionen noch wenig überraschen sein mag (ak 560), so verwundert es doch, dass sich die Gewerkschaften kaum um die in AKWs eingesetzte Leiharbeit interessiert. Dass diese aber ein Problem ist gestehen indirekt sogar die Betreibergesellschaften ein. Das zeigt vor knapp zwei Jahren ein Bericht der Internationalen Zeitschrift für Kernenergie, einem von der wichtigsten Atom-Lobby-Gruppe Atomforum herausgegebenen Blatt. Dort war von einem von RWE eingeführten Programm "Führungskräfte vor Ort" die Rede, das in den Meilern Biblis A und B etabliert wurde und zu einem "deutlichen Rückgang der Arbeitsunfälle" bei Revisionen geführt habe. Einer davon ereignete sich 2002 - und sollte offenbar unter der Decke gehalten werden.
Die hessische Atomaufsicht jedenfalls erfuhr seinerzeit erst aus den Medien, dass ein Leiharbeiter bei einem Unfall leicht verstrahlt und in die 1991 eingerichtete Spezialabteilung der Unfallklinik Ludwigshafen eingeliefert wurde. RWE sah keinen Meldebedarf, stattdessen sprach der Konzern zunächst nur von einem "Treppensturz". Inzwischen gibt es bei dem Konzern ein "Fremdfirmenarbeitsschutzmanagement".
Ingo Stützle