Die Befreiung einiger auf Kosten vieler
Queer-Feminismus kommt ohne Kritik an Rassismus und Postkolonialismus nicht aus
Die Debatte um Feminismus und Dekonstruktivismus läuft weiter. Begonnen hatte diese in ak 558 mit einer Kritik dekonstruktivistischer Ansätze durch Tove Soiland, weitere Beiträge folgten. (siehe Kasten) Feministische Gesellschaftskritik braucht jedoch auch queere, postkoloniale und rassismuskritische Blickwinkel, meint Nadine Lantzsch. Sie räumt mit dem Missverständnis auf, bei der Dekonstruktion von Kategorien gehe es um deren Abschaffung.
Hat sich Feminismus mit der Etablierung postmodernen Denkens sein gesellschaftskritisches Moment genommen? Tragen Queer Theory und das Streben nach Dekonstruktion von Geschlecht zur Dethematisierung patriarchaler Gewaltverhältnisse innerhalb neoliberal-kapitalistischer Gesellschaften bei? Tove Soiland beantwortet diese Fragen in ak 558 positiv. Sie fordert die Rückbesinnung auf radikale Ökonomiekritik samt Wiedereinführung des Kollektivsubjektes "Frau".
Dabei bedient sich Soiland in ihrer Argumentation gegen Queer nicht nur einer dominanten Geschichtsschreibung über Feminismus. Sie unterliegt wie viele vor ihr dem Fehlschluss, bei der Dekonstruktion von Kategorien ginge es in der Konsequenz um deren Abschaffung. Soiland entzieht so dekonstruktivistischen Ansätzen die Legitimationsgrundlage für Kritik an sozioökonomischen Verhältnissen. Gleichzeitig stilisiert sie das Kollektivsubjekt "Frau" zum Dreh- und Angelpunkt feministischer Gesellschaftskritik.
Schafft Geschlecht mehr Ungleichheit als Herkunft?
Was Tim Stüttgen in ak 559 als "Sehnsucht nach dem feministischen Hauptwiderspruch" benennt, ist der Versuch Soilands, marxistische Theoriestränge (erneut) in den Fokus feministischen Interesses zu rücken. Das ist legitim, da das Geschlechterverhältnis stets in Bezug zu ökonomischen Verhältnissen gesetzt werden muss: Die aktuelle neoliberale Ausformung kapitalistischer Akkumulationslogik konstituiert nicht nur prekäre und flexibilisierte Subjekte, sondern vergeschlechtlicht diese zugleich. Die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse affirmieren also nicht nur Geschlecht auf unterschiedliche Weise, sie schreiben zudem ein hierarchisch gegliedertes Geschlechterverhältnisses fort. Somit muss Geschlecht eine zentrale Analysekategorie feministischer Gesellschafts- und Ökonomiekritik bleiben.
Doch es gibt berechtigte Einwände gegen dieses Vorgehen. Und die lassen sich nicht einfach mit der Begründung wegwischen, es handele sich vorrangig um eine gesellschaftstheoretische Perspektive:
1. Eine Analyse kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse, die sich auf ein binäres Verständnis von Geschlecht einigt, missachtet die Prekarisierung und Zurichtung von Nicht-Frauen und allen, die sich nicht innerhalb der zweigeschlechtlichen Ordnung verorten können oder wollen. Damit wird das Gewalt- und Ausschlusspotenzial einer heteronormativen Zwangslogik reproduziert.
2. Steht Geschlecht als hauptsächlich gesellschaftsstrukturierend im Mittelpunkt, aktualisiert dies die Hierarchisierung von Differenzkategorien und Herrschaftsverhältnissen zugunsten weißer Subjekte. Ist Sexismus "schwerwiegender" als Rassismus? Schafft Geschlecht mehr Ungleichheit als beispielsweise Hautfarbe oder Herkunft? Ein "Ja" als Antwort auf diese Fragen würde bedeuten, die jahrzehntelangen Kämpfe von Women of Color, MigrantInnen und Flüchtlingen sowie deren Bedeutung für feministische Theoriebildung und Entwicklungen innerhalb der Gender Studies auszublenden. Mit einem solch verkürzten Blick können sozialökonomische Phänomene wie ethnische Unterschichtung und Prekarisierung von rassifizierten Gruppen nicht erklärt, geschweige denn überhaupt sichtbar gemacht werden.
3. Werden die Produktionsverhältnisse als Hauptnarrativ in der Vergesellschaftung von Individuen angesehen und dabei nicht geopolitisch kontextualisiert, reproduziert dies ein eurozentristisches Denken: Kapitalistische Ausbeutungsformen werden ohne rassistische und postkoloniale Konstituenten und Kontinuitäten universalisierend für alle Individuen gleich gewaltförmig gesetzt. Ein neoliberaler Kapitalismus agiert stets global. Er kann sich auf ein postkoloniales Machtgefälle zwischen Metropole und Peripherie "verlassen" und daraus schöpfen. Daher ist es dringend notwendig ist, Ökonomiekritik mit Rassismuskritik und Erkenntnissen aus den Postcolonial Studies zu verbinden.
Die skizzierten Einwände machen vor allem eines deutlich: Feministische Gesellschaftskritik darf sich nicht darauf beschränken, allgemein gültige Aussagen zu produzieren und daraus politische Forderungen abzuleiten. Feministische Gesellschaftskritik braucht queere, postkoloniale und rassismuskritische Blickwinkel und muss sich von der Zielsetzung lösen, einzig die Emanzipation von "Frauen" aus unterdrückerischen Strukturen zu wollen.
Dekonstruktivismus, der als Denkrichtung und Herangehensweise in Queer-, Rassismus- und postkoloniale Theorie eingeflossen ist, kann hierbei behilflich sein. Denn es geht bei Dekonstruktivismus wie gesagt nicht um die Abschaffung begrifflicher Grundlagen. Vielmehr geht es um die Untersuchung, wie sich Wissen und Macht zueinander verhalten und wie Subjekte in dieses Geflecht eingebunden sind. Wie werden Ausschlüsse produziert, was bleibt in der Formulierung von Gesellschaftskritik ungesagt und intransparent? Dekonstruktivismus ermöglicht eine kritische Relektüre des bereits Gedachten und Gesagten und macht so in der Konsequenz die Widersprüchlichkeit, die Heterogenität und Komplexität gesellschaftlicher Phänomene sichtbar.
Für queere Politiken bedeutet dies ferner, Heterosexualität und die Norm der Zweigeschlechtlichkeit als Zwang und Herrschaftsprinzip zu entlarven sowie gewaltförmige gesellschaftliche Normalisierungen entlang von sexuellen Identitäten und Körpern zu kritisieren. Diese Kritik ist immer im jeweiligen ökonomischen wie politischen Kontext zu betrachten, in dem sie geäußert wird. Es muss also hinterfragt werden, warum es vorwiegend weiße homosexuelle Frauen und Männer aus der Mittelschicht sind, die ihr Recht auf Eheschließung einfordern. Genauso, wie es nachdenklich stimmen muss, wenn diese sich mit konservativen Kräften die Hände reichen im Kampf gegen Homophobie, die wiederum nicht mehr als gesamtgesellschaftliches Problem kritisiert, sondern als "kulturelle" Eigenschaft den rassifizierten Anderen zugeschrieben wird - dieselben konservativen Kräfte, die sich gegen Affirmative Action Programme in der Privatwirtschaft aussprechen und vehement die Privatautonomie und Liberalisierung der Märkte verteidigen.
Die kritische Reflexion aller Machtmechanismen
Nicht nur queere AktivistInnen intervenieren dort, wo die Forderung nach Gleichberechtigung sich in eine Privilegienvergabe für Einzelne zu verwandeln droht. Vor allem People of Color und MigrantInnen äußern immer wieder Kritik an der Unsichtbarmachung oder Aneignung ihrer Perspektiven durch weiße FeministInnen. Bereits vor 40 Jahren hat der feministische Universalgedanke, alle Frauen aus der Herrschaft des Patriarchats zu befreien oder eine fundamentale Angleichung an das männliche Ideal einzufordern, zu Entsolidarisierung und Spaltung geführt.
Obwohl seitdem postkoloniale und rassismuskritische Perspektiven einbezogen werden, bleiben Machtmechanismen fernab von Sexismus und vielfältige soziale Positionierungen, die eine Person auf sich vereinen kann, häufig unterreflektiert. Die Belange von People of Color, MigrantInnen und Flüchtlingen werden als Partikularprobleme der feministischen Bewegung deklariert, als solche, die besser unter dem Label Antirassismus zu führen seien, Probleme, die der Feminismus nicht auch noch bearbeiten könne. Oder sie werden dafür instrumentalisiert, vermeintlich westliche Errungenschaften hervorzuheben.
Aktuelles Beispiel: die Burka-Debatte. Hier müsste nach dekonstruktiver Devise eigentlich zunächst geklärt werden, wer sich anmaßt, für wen zu sprechen, und was mit der "Befreiung der muslimischen Frau" eigentlich gemeint ist und bezweckt wird. Tatsächlich aber koalieren reaktionäre und feministische VertreterInnen, entwerfen Schreckensszenarien über den "gefährlichen" Islam und rechtfertigen damit eine rassistische Integrations- und Flüchtlingspolitik in Europa - eine Politik, die selektiv Menschenrechte zugesteht oder aberkennt und MigrantInnen nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit einteilt.
Nicht zuletzt müssen sich die KritikerInnen postmoderner Feminismen fragen lassen, ob sie nicht die eine oder andere feministische Forderung aus den Augen verloren haben, die lange vor der Einführung dekonstruktivistischen Denkens aufgestellt wurde: Wir erinnern uns an die Vorschläge zur Aufwertung von Weiblichkeit im Bereich der (zum Teil unbezahlten) Reproduktionsarbeit (Stichwort: Ethik der Fürsorge). Diese erschwerten oder verunmöglichten gar eine umfassende Ökonomiekritik: Die Geschlechterdifferenz und ihre ökonomische Verwobenheit wurden als gegeben hingenommen. Es wurde sogar versucht, diese positiv zu besetzen. Hier gerieten strukturelle Verhältnisse aus dem Fokus feministischer Kritik, obwohl gesellschaftstheoretische Überlegungen bereits zur Analyse zur Verfügung standen.
Die essenzialisierenden Sichtweisen auf Geschlecht führten zu einer identitären feministischen Praxis. Sie konnte sich nicht vom kritisierten patriarchalen Vorgang der Aufspaltung und Erklärung von Welt und Sein in dichotome und ausschließliche/ausschließende Entitäten lösen. Das Kritisierte wurde reproduziert. Darüber hinaus wurde ausgeblendet, dass auch Frauen an Gewalt und Herrschaft beteiligt sind.
Es spricht also viel dagegen, Gruppen für widerständige Politiken und Kritik an sozialen Ungleichheiten zu vereinheitlichen. Dekonstruktivistische Perspektiven im feministischen Denken und Handeln einzunehmen heißt, die Gleichzeitigkeit, Verwobenheit und Überlagerung von Unterdrückungs- und Dominanzverhältnissen mitzudenken und kritisch gegen sich selbst zu wenden, um diese konsequent zu kritisieren.
Das Ziel: Destabilisierung der unterdrückenden Strukturen
Wenn das Ziel feministischen Denkens und Handelns die Selbstbestimmung und Emanzipation von Individuen und die Destabilisierung von unterdrückenden Strukturen und Dominanzen ist, muss Feminismus immer ein Ort sein, wo selbstreflektierend und selbstkritisch nach Ausschlüssen und Unsichtbarem gefragt wird. Denn Wissensproduktion und die Erarbeitung von widerständigen Politiken sind stets auch Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse.
Eine von globalen Machtverhältnissen losgelöste feministische Ökonomiekritik, die Zweigeschlechtlichkeit und Geschlecht als soziale Kategorie unkritisch wie priorisierend zum Gegenstand der Analyse macht, reifiziert und reproduziert hegemoniale Wissensvorräte und Herrschaftsformen. Wer die Produktionsverhältnisse nicht an ihre historischen Ermöglichungsbedingungen rückkoppelt und mit anderen Unterdrückungsmechanismen verknüpft, will die Befreiung einiger auf Kosten der Unfreiheit vieler. Feministische Gesellschaftskritik muss Rassismus- und postkoloniale Kritik sowie neuere Erkenntnisse feministischer, Gender- und Queertheorie anerkennen und einbeziehen. Schon allein deshalb, weil sich ein neoliberaler Kapitalismus herrschaftlicher Ideologien und Prinzipien bedient, um sich unter ihrem Deckmantel einzurichten.
Nadine Lantzsch
Queer vs. Feminismus? Die Debatte bisher:
In ak 558 kritisierte Tove Soiland, die dekonstruktivistischen Ansätze hätten sich auf die Kritik geschlechtlicher Identitäten zurückgezogen, statt die Stellung der Frau in der kapitalistischen Ausbeutung zu analysieren. Mit ihren flexiblen Identitätskonzepten passten queere Praktiken perfekt in den neoliberalen Kapitalismus.
Tim Stüttgen widersprach in ak 559. Queere Lebensweisen seien nicht erfolgreich, sondern prekär. Feministische Kämpfe sollten nicht nach falscher Einheit streben, sondern die vielfältigen Gender-Identitäten zum Ausgangspunkt nehmen.
In ak 560 forderten Lea Steinert und Kristin Ideler, sich den Auseinandersetzungen um Reproduktions- und Sorge-Arbeit zuzuwenden - und zwar mit queer-feministischen Methoden im Gepäck.
Feministische Gesellschaftskritik braucht queere, postkoloniale und rassismuskritische Blickwinkel, meint nun Nadine Lantzsch. Dekonstrukivismus kann dabei durchaus helfen, die Komplexivität gesellschaftlicher Probleme sichtbar zu machen.