Die zweite Welle
Mit der Flucht Ben Alis setzte in Tunesien eine neue Dynamik sozialer Kämpfe ein
Mit der Verjagung von Ben Ali am 14. Januar hat die tunesische Revolution nicht geendet. Im gesamten Frühjahr 2011 verbreiteten sich neuartige Sozialbewegungen. Doch seit Anfang Mai werden Demonstrationen auch in Tunis mit Gewalt zerschlagen und JournalistInnen misshandelt. 629 Personen wurden zwischen dem 5. und 9. Mai von Polizei und Militär verhaftet - es gab Putschgerüchte. Seit dem 2. Mai gilt für den Großraum Tunis eine nächtliche Ausgangssperre.
Nach dem erfolgreichen tunesischen Aufstand, der Mitte Januar mit der Flucht des Autokraten Ben Ali seinen Höhepunkt erreichte, setzte eine neue Dynamik sozialer Kämpfe ein. Der Druck ging vom Landesinneren aus, das schon die revolutionäre Erhebung maßgeblich bestimmt hatte. Da die Wirtschaftsversprechen auf Arbeit und Einkommen nicht eingehalten wurden, ging die Bevölkerung von Sidi Bouzid, Kasserine, Thala, Gafsa, El Kef und vieler anderer Städte wieder auf die Straße und griff Rathäuser und Gouverneurssitze an. Ziel war zum einen die Verjagung der "kleinen Ben Alis", der lokalen Statthalter und der Despoten vor Ort. Zum anderen richtete sich die Botschaft an Tunis.
Da aus der Hauptstadt keine entscheidenden Veränderungen kamen, brachen die Jugendlichen aus dem Landesinneren erneut nach Tunis auf - ganz wie in den Tagen vor der Flucht von Ben Ali. Eine Phase neuer Sit-Ins direkt vor dem Regierungssitz an der oberen Kasbah, der Altstadt von Tunis, begann. AnwohnerInnen unterstützten die angereisten Jugendlichen mit Decken und Essen. Der Regierungsvorplatz entwickelte sich zum berühmtesten Debattierplatz des Landes. MinisterInnen traten reihenweise zurück und die ersten beiden Übergangsregierungen fielen. Wer an der Erneuerung der Revolution maßgeblich teilhaben wollte, musste sich aus dem Milieu der eigenen Lokalkämpfe aufmachen und bei dem Kasbah-Sit-In mitdiskutieren. Immer wieder begann Polizei und Militär gegen die Bevölkerungen im Landesinneren und dann auch gegen die Sit-Ins in Tunis vorzugehen - immer wieder gab es Tote.
Betriebsinterne Kämpfe und Blockade vor der Werktoren
Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, brach nach der Flucht Ben Alis eine unkoordinierte Streikwelle im gesamten Land aus. Die Belegschaften setzten oftmals auf dem Betriebsgelände die Chefs fest. Diese gehörten durchweg zum System Ben Ali, entweder als ParteifreundInnen oder als direkte FunktionsträgerInnen der kleptokratischen Wirtschaftsmacht. Ausländische FilialleiterInnen, die in das System eingebunden waren, hatten sich aus dem Staub gemacht. Mancherorts montierten die ArbeiterInnen auf dem Werksgelände brauchbare Maschinen ab. Nach zwei, drei Wochen Stillstand kamen die neubesetzten Unternehmensleitungen wieder aus der Deckung, boten generelle Lohnerhöhungen um ca. 20 Prozent an und versuchten, mit neuem Management die verlängerten Werkbänke Europas wieder in Stand zu setzen. Doch mit dem Neustart will es bis heute nicht so richtig klappen. Vor allem die Niedriglohnsektoren der Textil- und Lederverarbeitung verzeichnen tiefe Einbrüche.
Zu den betriebsinternen Kämpfen kommen die Blockaden an den Werktoren: Die umliegende Bevölkerung verlangt, dass Leute aus dem Umkreis eingestellt werden. Bekannt wurde die Lahmlegung von British Gas in Sfax: drinnen wurde gestreikt, von draußen blockierten die AnwohnerInnen und HafenarbeiterInnen die Zugänge, und die Versorgungslogistik ist zusammengebrochen.
An der südtunesischen Küste, wo der Schmuggel nach Libyen versiegt ist und von wo die jungen Leute nach Lampedusa aufbrechen, kam es im April zum Aufstand. In der Hafenstadt Zarzis hatte die Polizei Leute verhaftet, die den Aufbruch der Schiffe mitorganisiert haben sollen.
Die tunesische Bevölkerung stand im letzten Jahrzehnt mit Europa und vor allem mit dem Nachbarland Libyen in einem lebhaften, zuweilen halbklandestinen Mobilitätsaustausch. LibyerInnen aus der Mittelschicht kamen - in gleichem Umfang wie EuropäerInnen - nach Tunesien, um Urlaub zu machen, einzukaufen und sich in medizinische Behandlung zu begeben. Die libysche und tunesische Armutsbevölkerungen betrieben über die Grenze hinweg regen Kleinhandel. Der Schmuggel versorgte Tunesien mit zollfreien Elektrogeräten und Textilien aus der Türkei und aus China.
Als Gaddafi ab dem 21.2.11 seine Truppen in den Krieg gegen den Aufstand im eigenen Land schickte, begann die Flucht aus Libyen nach Südtunesien. Ein Report der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zur libyschen Krise beziffert die libyschen Flüchtlinge in Tunesien auf knapp 150.00, die geflohenen DrittstaatlerInnen auf fast 178.000 und die rückgekehrten Tunesier auf über 36.000 - das sind zusammen 365.000 registrierte Geflohene. Vor allem die arme Bevölkerung der gesamten Südregion versorgt die Ankommenden mit Essen, organisiert die Unterkunft oder nimmt sie direkt bei sich auf.
Kurzum: Seit Frühjahr 2011 befindet sich Tunesien in einem einzigartigen sozialen Aufbruch. Die Demonstrationen, Sit-Ins, Streiks, Unternehmensblockaden, Emigrationen und die Aufnahme der Flüchtlinge aus Libyen haben eine Schicht von neuen AktivistInnen hervorgebracht. Seitens des US-amerikanischen Think-Tanks Foreign Policy hieß es bereits, dass sich in Nordafrika und Nahost eine aktive "arme Mittelklasse" herausgebildet hat, die die Aufstände und Umwälzungen trägt.
Marshall-Plänen und Maßhalteappellen
In der Tat gibt es unter ihnen viele arbeitslose HochschulabsolventInnen, und auch die Nutzung von Facebook spielt bekanntermaßen eine Rolle. Aber das Wort von der "armen Mittelklasse" trifft nicht den Kern: Denn die jungen Leute entwickeln keinen entsprechenden Habitus. Sie agieren nicht als autonome Individuen oder als Lifestyle-Szenen wie die linken Gruppierungen in den westlichen Industriestaaten, sondern sind auf widersprüchlich aber enge Art mit Familie, Nachbarschaft und Stadtteil verbunden. Sie sind von den Armutsstrukturen geprägt und wirken auf diese zurück.
Am ehesten könnte man von "organischen Intellektuellen" sprechen, die Antonio Gramsci vor 80 Jahren im italienischen Mezzogiorno ausmachte und charakterisierte. Im Unterschied zu damals sind die heutigen AktivistInnen mobil und sehen sich in einem tendenziell transnationalen Verbund, der durch keine Partei, keinen Verein und keinen einheitlichen ideologischen Diskurs strukturiert ist. Sie sprechen vor allem mit den und zu den Menschen in ihrer sozialen Umgebung. Ihr Thema ist Würde und Gerechtigkeit im Lande wie auch im Verhältnis zu Europa, und ihre Anklage richtet sich gegen die MachthaberInnen. Doch ein alternatives Regierungsprogramm haben sie nicht. Ihre Stärke ist, dass sie die soziale Kritik lebendig werden lassen und auch in Zukunft jede Regierung zu Fall bringen könnten.
Seit Ende April 2011 ist zu beobachten, wie die tunesische Revolution als "tunesische Krise" internationalisiert wird. IWF, G8, Wirtschaftsgruppen und Think-Tank vor allem aus den südwesteuropäischen EU-Staaten bieten der Übergangsregierung Rat und Tat an. Die NATO soll angefragt haben, ob sie in Südtunesien eine Basis eröffnen kann. Es sind dieselben internationalen Agenturen und Instanzen, die bis zur Flucht von Ben Ali ein kohärentes Diktaturenprogramm am Südrand der EU vertraten und nach Kräften förderten. Im Vergleich dazu nehmen sich die neuen Konzepte zur Eindämmung der Revolution widersprüchlich und bruchstückhaft aus. Die Empfehlungen reichen von wirtschaftsfreundlichen "Marshall-Plänen" bis zu Maßhalteappellen, da die Löhne schneller stiegen als die Produktivität - so Ahmed Masood, Direktor der Abteilung, die beim IWF für den nahen Osten und Nordafrika zuständig ist. Die EU-Kommission profiliert sich in ihrem Strategiepapier "On Migration" (4.5.11) mit ewiggestrigen Abschottungsparolen. Es wird deutlich, dass die Arabellion das gesamte südliche Gefüge der EU erschüttern wird und die "global player" keine schnelle und umfassende Antwort parat haben.
Ende April riefen die Jugendlichen aus Kasserine und dem Landesinneren zu einem neuen Dauerprotest vor dem Regierungssitz aus, zu einem sogenannten Kasbah-3-Sit-In. Zeitgleich besetzten TunesierInnen, die über Lampedusa nach Frankreich gekommen sind, ein Haus in Paris. Eine zweite Welle der tunesischen Revolution ist angekündigt. Unruhen, Aufstände und ein Anprangern der sozialen Missstände im Lande waren und sind zu erwarten. Am Abend des 4. Mai veröffentlichte Farhat Rajhi, Innenminister der ersten Übergangsregierung, auf Facebook ein Interview, das große Empörung auslöste und erste Antworten auf diese neue Revolutionsphase erkennen lassen. Halbwahrheiten und Bedrohungsszenarien werden in dem Interview miteinander vermengt: Es gebe in Tunesien in Wirklichkeit eine Schattenregierung des Ancien Regimes, in dem die Militärs aus der Küstenregion den Ton angeben. Von dort kommt die ehemalige Staatskaste.
Von den arabischen Revolutionen lernen
Der jetzige Premierminister Béji Caïd Essebsi sei am 15. März zu Sondierungen nach Algier gefahren, um sich der Unterstützung bei einem Militärputsch zu versichern. Falls die IslamistInnen - gemeint ist die Ennahda, vergleichbar der türkischen AKP des Regierungsschefs Erdogan - die anstehenden Wahlen zur Verfassungsversammlung am 14.7.11 gewinnt, würde die Armee putschen. Diese Kulisse ist in der Tat aus Algerien bekannt: Unter der Regie der Militärs stehen sich IslamistInnen und "aufgeklärte" ModernisierInnen unversöhnlich gegenüber - während sie hinterrücks auf das Beste zusammenarbeiten. Die Schein-Polarisierung überlagert die offenen sozialen Proteste und Aufstände; sie zwingt zu falscher Lagerbildung, denn auf beiden Seiten ziehen die Militärs die Fäden. Unabhängige Sozialbewegungen werden unterdrückt.
Am 5.5.11 waren in Tunis und zahlreichen anderen Städten Protestdemonstrationen angekündigt. Die aktuelle Übergangsregierung gilt als gescheitert. Sie hat keine flächendeckenden Sozialprogramme aufgelegt, ist nicht von sich aus gegen den Lokaldespotismus vorgegangen und hat die Ben-Ali-Clique nicht glaubhaft zur Rechenschaft gezogen. Lediglich die alte Regierungspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD) wurde am 9.3.11 verboten.
Zudem hat die Regierung nicht die politische Polizei wie verkündet zerschlagen. Sie kommt offensichtlich derzeit zum Einsatz. Die laufenden, täglichen Demonstrationen werden seit dem 5. Mai auch in Tunis mit Tränengas und Polizeiknüppel brutal auseinandergetrieben. Besondere Opfer der Polizeigewalt waren die JournalistInnen. 15 von ihnen wurden verletzt, vor allem durch Schläge auf den Kopf, ihre Ausrüstung zerstört oder beschlagnahmt, ein Journalist wurde sogar bis in seine Zeitungsredaktion verfolgt und dort zusammengeschlagen.
Nachts brachen in diesen Mai-Tagen in praktisch allen ärmeren Stadtteilen der Hauptstadt Unruhen aus. Es kam zu Plünderungen, zu Einbrüchen, zu organisierten großen Diebstählen an Straßenbarrikaden. Wer waren die Akteure? Soziale Wut hat sich aufgestaut, aber wahrscheinlich schickte die politische Polizei bezahlte Schläger in die Unruhen hinein. Der soziale Protest soll diskreditiert und desorientiert werden. Als lokale Ordnungsmacht empfahl sich die Ennahda, die gemäßigte Islamistenpartei.
Es ist überfällig, die soziale Revolution in Tunesien und den arabischen Ländern in Europa aktiv und offensiv aufzugreifen. Auf der Tagesordnung sollte schon heute die Aufhebung der Mittelmeer-Seeblockade von Frontex und NATO stehen. Sie sind für das Massensterben der Boat-People vor der tunesisch-libyschen Küste unmittelbar verantwortlich. Dinglich ist des Weiteren eine Kampagne für die Abschaffung der Schengen-Visapflicht rund ums Mittelmeer.
Von den arabischen Revolutionen können wir nur lernen. Solidarität tut not. Je mehr der revolutionäre Aufbruch als "regionaler Krisenherd" internationalisiert wird, desto mehr wird unser Beitrag gefragt sein, hier in den Metropolen. Ein enger Austausch ist im Entstehen. Im Sommer sollten wir nicht nach Teneriffa, sondern nach Tunis oder nach Kairo fahren. Und nach dem Sommer stehen dann hoffentlich globale Solidaritätskonferenzen zur arabischen Revolution an: In Tunis, Kairo, aber auch in Rom, Paris und Berlin!
Helmut Dietrich