Rechte Gewalt mit staatlichem Segen
Für die ungarischen Roma besteht kein Anlass zur Entwarnung
Seit Anfang März eskaliert die Gewalt in Ungarn. Rechte "Bürgerwehren" greifen Roma massiv an, die Polizei schreitet zunächst nicht ein, schließlich wehren sich die Angegriffenen. Eine dieser "Bürgerwehren" ist die Jobbik-nahe Gruppierung "Schönere Zukunft". Seit den Wahlen 2010 ist die extrem rechte Partei Jobbik die drittstärkste Partei im ungarischen Parlament. Die Regierungspartei Fidesz präsentiert sich derweil im Ausland als einzig wirksame politische Kraft gegen Jobbik.
Gyöngyöspata ist ein kleines Dorf im Norden Ungarns. Sechs Wochen lang sind hier extrem rechte "Bürgerwehren" aktiv und greifen die dort lebenden Roma an - ohne dass die Polizei einschreitet. Am 12. April erfolgt dann eine Rüge der EU-Kommission: Die Einschüchterungen von Roma durch Angehörige einer rechtsextremen Miliz seien "unannehmbar", so Justizkommissarin Viviane Reding nach dem Treffen der EU-Justizminister in Luxemburg.
Am nächsten Tag wurde die Polizei erstmals gegen Mitglieder der "Bürgerwehr" aktiv. Schnell waren diese jedoch wieder auf freiem Fuß. Nach der Eskalation in Gyöngyöspata ergänzte das ungarische Parlament in großer Eile das Strafrecht. Laut Presse soll das "Erschrecken von Minderheiten" als "Straftaten in Uniform" künftig mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Nach Interpretationen ausländischer Medien könnten paramilitärische Organisationen nun per Gesetz verboten werden, die Roma seien also ausreichend gegen rechte Übergriffe geschützt. Dabei wird ausgeblendet, dass die gesetzlichen Vorschriften von Anfang an ausreichend gewesen wären, um gegen die "Bürgerwehren" vorzugehen. Nicht die Gesetzeslage war das Problem, sondern die inkonsequente Anwendung und der fehlende politische Wille. Noch am 18. April sagte Máté Kocsis (Fidesz), Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Heimatschutz und öffentliche Sicherheit, die Polizei hätte die Lage im Griff. Zu Gesetzesverstößen sei es nicht gekommen. Außerdem sei "Einschüchterung" ein subjektiver Begriff.
Es fehlt nicht an Gesetzen, sondern an politischem Willen
Das neue Gesetz ist so formuliert, dass es sich auch auf Roma anwenden lässt, die sich gegen rechte Angriffe wehren. Denn ihre Angreifer lassen sich als völkische Magyaren unter den Begriff der nunmehr geschützten "nationalen, ethnischen, rassischen Gruppen" fassen. Zumindest ist dies bisher die gängige Auslegung des "Rassismusparagrafen" (1). Mit diesem Paragrafen, der eigentlich Minderheiten schützen soll, wurden bislang nicht etwa Rechte verurteilt, sondern Roma, die sich gegen Angriffe seitens "Angehöriger der Volksgruppe der Magyaren" wehren wollten.
Seit den Krawallen von 2006 sind Polizeieinsätze gegen "regierungskritische Demonstranten" in Ungarn ein Thema, mit dem völkische Politik gemacht wird. Damals war es bei schweren Straßenschlachten mit Rechtsextremen zu Übergriffen der Polizei gegen Unbeteiligte gekommen. Von Fidesz und Jobbik wird dies seither politisch instrumentalisiert, um die Vorgängerregierung als Diktatur und Polizeistaat darzustellen. Dementsprechend leistet die Jobbik-nahe "Nationale Rechtsstiftung" (NJA) den "Opfern der Polizeigewalt" Rechtsbeistand und präsentiert sie als politisch Verfolgte. Die NJA vertritt unter anderem den Rechtsextremen György Budaházy, die verbotene Ungarische Garde und die extrem rechte Organisation Lelkiismeret 88 (Gewissen 88). Prominentester Mandant ist derzeit der Naziverbrecher Sándor Képíró. Leiter der NJA ist der Jobbik-Jurist Tamás Nagy-Gaudi, seit 2010 Parlamentsabgeordneter. Er ist Vizevorsitzender des Parlamentsausschusses "zur Untersuchung der Menschenrechtsverstöße des Staates in der Periode 2002-2010".
Im November 2010 legte Nagy-Gaudi seinen Untersuchungsbericht vor. Darin wirft er den damaligen Regierungen "eklatante Rechtsverstöße" gegen "die Ausübung grundlegender politischer Freiheitsrechte" vor. Die Polizei sei dabei in mehreren Fällen "zum Exekutivinstrument des rechtswidrigen Staatswillens" geworden. Dazu gehörten die "rechtswidrige Auflösungen unerwünschter Demonstrationen gegen die Regierung" und Verhaftungen Demonstrierender, die "Verabschiedung von Gesetzen zur Einschränkung der Freiheitsrechte" sowie die "Kriminalisierung von Bürgern, die nur ihre Grundrechte ausüben" würden. Dieses Vorgehen, so Nagy-Gaudi, erinnere an "diktatorische Regime".
Von den aufgeführten Fällen rechtswidriger Polizeigewalt gegen "regierungskritische Demonstranten" handelt es sich fast ausschließlich um Nagy-Gaudis NJA-Fälle - um das Vorgehen der Polizei gegen extrem rechte Gruppen, die sich mit ihnen schwere Straßenschlachten lieferten: Lelkiismeret 88, die ultra-rechte ungarische Jugendorganisation HVIM, Jobbik sowie die Ungarische Garde.
Wenn es darum geht, die beiden Vorgängerregierungen nachträglich zur Diktatur umzudeuten, sind sich Fidesz und Jobbik einig. Nagy-Gaudis Bericht wurde am 26. November 2010 gemeinsam von Fidesz, Jobbik und der grünen LMP (!) verabschiedet. Die Täter-Opfer-Umkehr der NJA ist nunmehr staatlich abgesegnet und der extrem rechte "Widerstand" rehabilitiert. Die Folge: Polizeimaßnahmen gegen "patriotische Magyaren" werden im rechten Spektrum der Bevölkerung als Menschenrechtsverstöße betrachtet.
Am Galgen hängen Nelken und Orangen
Trotz der bestehenden ideologischen Gemeinsamkeiten versucht Jobbik die Orbán-Regierung als Fortsetzung der "judeobolschewistischen Diktatur" der Vorgängerregierungen zu "enttarnen". Der Unmut gegen die Sparmaßnahmen der Orbán-Regierung artikuliert sich in ähnlicher Weise, in der von Fidesz und Jobbik gegen die Gyurcsány-Regierung mobilisiert wurde. So wurde die Regierung auf einer Demonstration der Gewerkschaften der Ordnungskräfte am 6. Mai symbolisch exekutiert: Orbán und Innenminister Pintér wurden als Maden dargestellt, ihnen wurde Insektengift in Aussicht gestellt. An einem Galgen hingen rote Nelken (MSZP) und eine Tüte Orangen (Fidesz). Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, verbrannte ein pensionierter Feuerwehrmann unter Applaus eine Israelflagge.
Für die ungarischen Ordnungskräfte scheint es dabei kein Problem zu sein, gemeinsam mit Rechtsextremen zu demonstrieren. So war die größte ungarische Polizeigewerkschaft, die extrem rechte TMRSZ, auf der Demonstration massiv vertreten. Die Teilnahme der Jobbik-"Bürgerwehr" "Schönere Zukunft", gegen die sich das neu verabschiedete Gesetz richtet, wurde von den Organisatoren ausdrücklich begrüßt. Man könne "trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen Zusammenhalt und Solidarität bezeugen". Mindestens eine Roma-Organisation, die an der Demonstration teilnehmen wollte; zog ihre Teilnahme aus Sicherheitsgründen zurück, nachdem die Beteiligung der Jobbik-"Bürgerwehr" bekannt wurde.
Dem Ausland erzählt die ungarischen Regierung unterdessen, was es hören will. Für die ungarischen Roma besteht jedoch kein Anlass zur Entwarnung.
Pusztaranger
Der Blogger Pusztaranger beobachtet seit 2009 die ungarische extreme Rechte und seit 2010 auch die Orbán-Regierung, http://pusztaranger.wordpress.com.
Anmerkungen:
1) Rassistisch motivierte Verbrechen werden in Ungarn durch den 174/B des bürgerlichen Gesetzbuches sanktioniert. Der Begriff heißt közösség elleni erôszak, wörtlich "Gewalt gegen eine Gemeinschaf", und bezieht sich auf ethnische Minderheiten, aber auch auf Homosexuelle. Das Strafmaß ist mit zwei bis acht Jahren Haft bedeutend höher als bei Körperverletzung und Landfriedensbruch.
2) Zur "Vergangenheitsbewältigung" mittels Täter-Opfer-Umkehr siehe Magdalena Marsovszky: Die Märtyrer sind die Magyaren. Der Holocaust in Ungarn aus der Sicht des Hauses des Terrors in Budapest und die Ethnisierung der Erinnerung in Ungarn, in: Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska, Volker Weiß (Hg.): Die Dynamik der europäischen Rechten. Wiesbaden 2011, S. 55-74