Raus aus dem Elfenbeinturm!
Der Feminismus muss neu über politische Utopien diskutieren
Die Frauenbewegung der 1970er Jahre hat nicht nur die Geschlechterverhältnisse kritisiert, sondern ein umfassendes Emanzipationsprojekt verfolgt. Doch parallel zum Aufstieg neoliberaler Konzepte ging die kapitalismuskritische feministische Vision verloren. Wenn Feminismus mehr sein soll als eine Stichwortsammlung für moderne Unternehmensführung oder eine Nische an den Universitäten, ist eine neue Diskussion über feministische Utopien nötig. Dabei geht es auch um die Frage, wie unterschiedliche Identitätskonzepte in ein aktuelles feministisches Projekt einfließen können. Mit dem Text setzen wir die Debatte über das Verhältnis von feministischen und dekonstruktiven Ansätzen fort.
Feminismus ist politische Theorie und soziale Bewegung. Feminismus ist kein in Stein gemeißelter Begriff, sondern ein Ensemble von Diskussionen, kritischen Erkenntnissen und emanzipatorischen Kämpfen. Historisch hat er unterschiedliche theoretische Konzepte und Ansätze politischen Handelns hervorgebracht. Auch im 21. Jahrhundert sind mit "Feminismus" unterschiedliche Erwartungen verbunden. Diese variieren abhängig vom eigenen (theoretischen, praktischen oder geographischen) Standort: Im Laufe der Geschichte wurde Feminismus mal als Kampfbegriff, mal als Diffamierung und mal als Modebezeichnung verwendet.
Die verlorene feministische Kritik am Kapitalismus
Gisela Notz hat in einem Text über die zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre in den westlichen Industrieländern geschrieben, dass diese den Anspruch verfolgte, die "kapitalistisch-patriarchalisch geprägte Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, die alle Menschen beschädigt und die patriarchalen Geschlechterverhältnisse" zu überwinden. Was damals existierte und heute fehlt, ist ein breit angelegtes Emanzipationsprojekt. Ein Blick zurück ist deshalb essenziell, um eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, die sich den aktuellen Herausforderungen des Kapitalismus stellt.
Nancy Fraser hat in ihrem Aufsatz "Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte" eine detaillierte historische Analyse der zweiten Frauenbewegung unternommen. (1) Sie versteht Feminismus als einen historischen Prozess, der in gesellschaftliche Gesamtverhältnisse eingebettet ist und somit nicht isoliert betrachtet werden kann. Die Ausbreitung der mit der zweiten Frauenbewegung verbundenen kulturellen Ideen sei Teil eines Prozesses gewesen, der die Organisation des Kapitalismus der Nachkriegszeit insgesamt verändert hat. Die Kritik, die die feministische Bewegung formulierte, zeichnete sich dadurch aus, dass sie ökonomische, kulturelle und politische Dimensionen verknüpfte. In den folgenden Jahrzehnten seien diese drei Dimensionen jedoch nicht mehr in einen Zusammenhang gestellt worden; sie hätten sich auch von einer radikalen Kritik am Kapitalismus gelöst. Diese Fragmentierung der feministischen Kritik erlaubte die selektive Einverleibung und Umformulierung einzelner Elemente. Ist diese Aneignung auf eine "Wahlverwandtschaft zwischen Neoliberalismus und Feminismus" zurückzuführen, oder ist es eher dem Zufall geschuldet, dass die zweite Frauenbewegung und der Neoliberalismus gleichzeitig in Erscheinung traten?
Auf diese Frage antwortet Frigga Haug in ihrem Aufsatz "Feministische Initiative zurückgewinnen - eine Diskussion mit Nancy Fraser" mit dem Hinweis auf die Produktionsverhältnisse. (2) Die Forderungen der zweiten Frauenbewegung hätten im Zeitgeist gelegen. Das fordistische Modell der Produktion befand sich bereits in der Krise, als die Frauenbewegung auf den Plan trat. Die Krise des Fordismus habe, so Haug, paradoxerweise auch den linken Feminismus begraben. Mit Blick auf den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci beschreibt Frigga Haug diesen Prozess als "passive Revolution". Die politische Obrigkeit habe politische Forderungen von "unten" aufgenommen und in einem anderen Kontext umgesetzt.
Der Neoliberalismus veränderte das Feld, auf dem sich feministische Forderungen bewegten, indem er die Lebensverhältnisse und -bedingungen der Menschen transformierte. Allerdings wirken nicht nur wirtschaftliche Prozesse auf die Gesellschaft ein, sondern auch sozial und politisch handelnde Akteure. Die dekonstruktivistische Kritik hat die Bedeutung der Akteure feministischer Politik ins Blickfeld gerückt. Insbesondere der feministische Postkolonialismus, die Queer-Theory und die Intersektionalitätsforschung hinterfragen das kollektive Subjekt "Frau", das für die Frauenbewegung der 1970er zentral war. Alle drei Perspektiven betrachten Geschlecht nicht als etwas wesensmäßig Vorgegebenes und wehren essentialistische Subjekt-Konstruktionen ab. Der Queer-Theory beispielsweise thematisiert die Art und Weise, wie "Normalität" konstruiert wird, und Mechanismen und Prozesse gesellschaftlicher Normierungen.
Welche Ausschlüsse produziert Politik für Frauen?
Für die zweite Frauenbewegung bedeutet diese Kritik, dass sie ihre eigenen Normalitätskonstruktionen hinterfragen muss: Reproduziert der Feminismus in Theorie und Praxis selbst normierende Geschlechtskonstruktionen, beispielsweise in Maßnahmen wie Gender Mainstreaming, die sich auf die Subjektkonstruktion "Frau" beziehen?
Die Forderung nach einer Frauenquote oder Frauen fördernden Maßnahmen in männlich dominierten Berufszweigen sind vor dem Hintergrund aktueller Zahlen einleuchtend: Laut Mikrozensus von 2009 liegt in Krankenpflegeberufen der Frauenanteil bei 91,3 Prozent, in Metall- und Anlageberufen aber nur bei 1,6 Prozent. Allerdings sind solche Forderungen höchst widersprüchlich, wenn sie zugleich von ManagerInnen als Bausteine zur Unternehmensphilosophie entwendet werden, etwa indem die "emotionale Intelligenz" von Frauen als Ressource zur Steigerung der Produktivität gefeiert wird. Oder wenn Unternehmen wie Daimler Diversity-Konzepte implementieren, um Frauen in Führungspositionen zu fördern. Das klingt gut, allerdings zielen diese Maßnahmen auf Profitsteigerung durch "Vielfalt" und "Flexibilität". Eine Frauenförderung dieser Art dient vor allem dem Unternehmensinteresse.
Doch auch die dekonstruktivistische Kritik, die die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts verwirft, stellt den Feminismus vor Schwierigkeiten. Zum Beispiel, wenn es um die Lohn-Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht. Die strategische Formulierung eines Subjekts ist notwendig, damit Frauen ihren eigenen Standpunkt geltend machen und für gerechte Entlohnung kämpfen können. Doch dadurch werden andere Personen ausgegrenzt, nämlich jene, die sich nicht als "Frau" wahrnehmen, oder jene, die nicht arbeiten (wollen). Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, ist offen.
Seien wir realistisch und versuchen wir das Unmögliche! - und besinnen uns auf die feministischen Ideale zurück. Die Rückbesinnung kann Folgendes bedeuten: die Analyse der Tiefenstrukturen der Gesellschaft, wie Nancy Fraser sie fordert; die Forderung nach der Rückeroberung der feministischen Initiative in Anlehnung an den Vorschlag von Frigga Haug; und das Entwerfen feministischer Utopien sowie die Verknüpfung der Demokratie- und Ökologiefrage. Einen solchen Vorschlag hat kürzlich Barbara Holland-Cunz in ihrem Aufsatz "Krisen und Utopien: Eine Rückbesinnung auf den Feminismus als visionäres Projekt" formuliert.
Elemente einer neuen feministischen Utopie
Diese drei Ideale der feministischen Diskussion bieten genügend Stoff, um eigene Gedanken über das Utopische zu entwickeln. Nancy Fraser stellt die Forderungen nach Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation in den Mittelpunkt und verlangt, dass diese Forderungen aufeinander bezogen werden müssen. Mit ihnen sind die Sphären der Ökonomie, der gesellschaftspolitischen Kultur und der Demokratie und Organisation des Staates angesprochen. Frigga Haug findet in dem Programm Frasers in abgeschwächter Form ihren eigenen Ansatz der "Vier-in-einem-Perspektive" wieder. Darin geht es Haug um Gerechtigkeit bei der Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesen und Entwicklungschancen. Mit dieser Perspektive verfolgt Haug den Anspruch, Prämissen für eine eingreifende feministische Politik und zugleich eine Utopie zu entwerfen. Verbesserungen im Diesseits seien nicht ausreichend, um das Patriarchat und den Kapitalismus zu überwinden. Erfrischend an dieser Perspektive ist, dass hier ein Anfang für eine langfristige und nachhaltige Debatte über feministische Utopien gemacht sein könnte.
Diese notwendigen Diskussionen sollten indes nicht dazu verleiten zu vergessen, wo "wir" selbst stehen. Für die feministische Debatte betrifft das vor allem den Rückzug an die Hochschulen, in den Berufsfeminismus. Dieser in der Bundesrepublik zunehmend akademisch gewordene Feminismus hat sich mehr und mehr von alltäglichen Problemen vieler Frauen entfernt. Er muss sich fragen lassen, wer von seinen Ideen und Erkenntnissen überhaupt noch angesprochen wird, will er nicht zu einem Projekt von und für Privilegierte werden. Um den Feminismus aus dem Elfenbeinturm Hochschule herauszuholen und die feministischen Diskussionen wieder zu beleben, sind Auseinandersetzungen über utopische Ideen jenseits des Kapitalismus nötig.
Die feministische Debatte braucht Räume, in denen das Streiten und Ringen um unterschiedliche Positionierungen frei von Homogenisierungen möglich ist. Was ihr derzeit fehlt, ist der Mut sich wieder politisch zu justieren, ist eine Provokation. Wir brauchen politische Strömungen, die über eine gerechte Gesellschaft streiten, in der die Emanzipation aller Menschen möglich wird. Denn noch immer gilt der von dem Frühsozialisten Charles Fourier formulierte Satz: Der Grad der Befreiung der Frau ist gleichzeitig der Prüfstein einer Gesellschaft und der Maßstab für die menschliche Entwicklung.
Katharina Volk
Anmerkungen:
1) Der Aufsatz ist auf deutsch erschienen in den Blättern für deutsche und internationale Politik Nr. 8/2009.
2) Der Text von Frigga Haug erschien in der Zeitschrift Das Argument Nr. 3/2009.
3) 2008 lag der Anteil weiblicher Führungskräfte bei Daimler bei 8 Prozent.
Queer vs. Feminismus? Die Debatte bisher:
In ak 558 kritisierte Tove Soiland, die dekonstruktiven Ansätze hätten sich auf die Kritik geschlechtlicher Identitäten zurückgezogen, statt die Stellung der Frau in der kapitalistischen Ausbeutung zu analysieren. Flexible queere Identitätskonzepte passten perfekt in den neoliberalen Kapitalismus.
Tim Stüttgen widersprach in ak 559. Queere Lebensweisen seien nicht erfolgreich, sondern prekär. Statt nach falscher Einheit zu streben, sollten feministische Kämpfe die vielfältigen Gender-Identitäten zum Ausgangspunkt nehmen.
Lea Steinert und Kristin Ideler forderten in ak 560, sich den Auseinandersetzungen um Reproduktions- und Sorge-Arbeit zuzuwenden - und zwar mit queer-feministischen Methoden im Gepäck.
Feministische Gesellschaftskritik braucht queere, postkoloniale und rassismuskritische Perspektiven, meinte Nadine Lantzsch in ak 561. Dekonstruktivistische Ansätze könnten helfen, die Komplexität gesellschaftlicher Probleme zu begreifen.
Katharina Volk fordert nun eine neue feministische Debatte über politische Utopien, die sich den Fragen stellt, die die dekonstruktivistische Kritik aufgeworfen hat.