Aufgeblättert
Umberto Eco zum Achtzigsten
Im kommenden Jahr wird Umberto Eco 80 Jahre alt. Michael Nerlichs Eco-Biografie ist also so etwas wie ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Darüber freuen wird sich der Jubilar mit Sicherheit: Der Romanist Nerlich (geboren 1938) ist unverkennbar ein "Fan", dem kein kritisches Wort über Ecos Werk aus der Feder fließt. Angenehm zu lesen ist das Buch dennoch: Handelt es sich doch erstens um eine "Biographie", die auf Anekdoten und zweifelhafte Enthüllungen verzichtet - der Autor hat das Objekt seiner Bewunderung nie getroffen. Zweitens verfolgt er ein unterstützenswertes Anliegen: Ohne Rücksicht auf Verluste attackiert er die Ignoranz der bundesdeutschen Kulturindustrie in Gestalt des Feuilletons. Dessen vermeintliche Edelfedern meinten es sich viele Jahre lang leisten zu können, Ecos Romane - auch den genialen Erstling "Der Name der Rose" - als langweilige Professorenprosa abtun zu können. Und Nerlich zeigt immer wieder, dass Eco ein durch und durch politischer Autor ist, würdigt seine Kommentare zum Alltagsgeschehen und seine Gegnerschaft zu Berlusconi. Störend ist allenfalls Nerlichs Neigung zu endlos langen Schachtelsätzen. Von Eco hat er die nicht - in dessen immer wieder neu aufgelegtem Buch "Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt" ist auch zu diesem Thema alles Wesentliche gesagt.
Js.
Michael Nerlich: Umberto Eco. Die Biographie. Francke Verlag, Tübingen 2010. 350 Seiten, 29,90 EUR
Gespenstisches Kapital
Die Presse ist von Joseph Vogls Buch "Das Gespenst des Kapitals" begeistert: "ein Text, dem es an Sprengkraft nicht mangelt" (FAZ); "eine Entzauberung der Finanzwissenschaft" (SZ); "ein frontaler Angriff auf die dorischen Säulen der Wirtschaftswissenschaften - eine brillante Studie" (Die Zeit). Ausgangspunkt für das Buch ist die Krise 2008ff. Der Literaturwissenschaftler Vogl interessiert sich jedoch weniger für deren konkrete Ursachen als vielmehr für die zugrunde liegenden Wahrnehmungsweisen in Theorien, vor allem den Wirtschafts- und Finanzwissenschaften, die mit der Krise diskreditiert schienen. Stark ist das Buch dort, wo Vogl die wissenschaftliche Literatur seit dem 17. Jahrhundert analysiert, die in Form von Selbstbeschreibungen die entstehende bürgerliche Gesellschaft plausibel macht und zugleich neue soziale Realitäten hervorbringt. So den "homo oeconomicus" und die scheinbar mathematisch und in Formeln abbildbare Effizienz von Märkten. Das Buch ist aber auch oberflächlich: Vogl hätte die Marx'sche Analysen durchaus ausführlicher berücksichtigen sollen. Zwar stellt er das Gleichgewichtstheorem als zentrales Ideologem heraus, analysiert aber nicht die konstitutive Rolle des Geldes. Seine Krisenbeschreibungen hängen damit in der Luft, da erst das Geld die moderne Form der Krise ermöglicht. Vogl erschließt somit auch nicht, was die ökonomische Gegenständlichkeit wie Geld und Kapital überhaupt ist - und eben ihr gespenstischer Charakter, den der Titel zumindest ankündigt. Er beschreibt eher wissenschaftliche Diskurse und analysiert weniger die realen ökonomischen Gewalten. Das Buch ist aber dennoch radikal. Vogl kritisiert, dass die Wirtschaftstheorie religionsähnlich den Kapitalismus als die beste aller möglichen Welten "verkaufe" - obwohl das Marktprinzip nicht zum Gleichgewicht, sondern zum Chaos tendiere. Vor allem deshalb müsse die gesellschaftliche Abhängigkeit von Märken zurückgedrängt werden.
Ingo Stützle
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes, Zürich 2010. 224 Seiten, 14,90 EUR
K-Gruppen
Die "K-Gruppen" sind Geschichte. In den 1970er Jahren waren in ihnen Tausende vornehmlich junger Linker organisiert: viele Studierende, aber auch ArbeiterInnen. Ihre gemeinsame Weltanschauung war der "Marxismus-Leninismus" (ML), über dessen Auslegung und Anwendung allerdings erhebliche Differenzen bestanden. Groß war auch die organisatorische Zersplitterung. Während einige Grüppchen dreist behaupteten, die Kommunistische Partei und damit die "Avantgarde des Proletariats" zu sein - u.a. KPD/ML und KPD/AO - traten andere bescheidener auf. Anton Stengl, nach eigener Aussage früher Mitglied in "einigen" ML-Gruppen, will mit seinem Buch "Zur Geschichte der K-Gruppen" dem rein anekdotischen, unwissenschaftlichen und von "primitivem Antikommunismus" geleiteten Umgang mit diesem abgeschlossenen Kapitel linker Geschichte entgegentreten und so wertvolle Erfahrungen von damals bewahren. Mit diesem Versuch ist er vollständig gescheitert. Sein Buch ist wirr in der Struktur und, was die behaupteten Fakten angeht, nicht zitierfähig. Über den Kommunistischen Bund (KB) weiß Stengl etwa zu berichten: "Sein Engagement in der Anti-AKW-Bewegung führte direkt zur Auflösung, die viel später stattfand als das Ende der anderen m-l-Organisationen." Nämlich 1991, genau 15 Jahre nach dem Beginn seines "Engagements in der Anti-AKW-Bewegung". Dieser Satz ist aber nicht nur offensichtlicher Blödsinn, er enthält auch eine fixe Idee des Autors, die an etlichen Stellen strapaziert wird: Die Mitarbeit von KommunistInnen in den sozialen Bewegungen ist Opportunismus, sie führt "direkt" in den Untergang. Der droht seiner Ansicht nach auch, wenn kommunistische Organisationen Fraktionen zulassen. Über deren verderbliches Treiben trägt Stengl seinerseits Anekdoten zusammen. Ein ernst zu nehmender Gegenentwurf zu Gerd Koenens demagogischer Generalabrechnung "Das rote Jahrzehnt" (Köln 2001) konnte so nicht entstehen.
Js.
Anton Stengl: Zur Geschichte der K-Grupen. Marxisten-Leninisten in der BRD der Siebziger Jahre. Zambon Verlag, Frankfurt am Main 2011. 207 Seiten, 10 EUR
Sozialpsychologische NS-Forschung
Warum hat die NS-Volksgemeinschaft bis zum Schluss funktioniert? Das Buch "Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus" gibt in acht Aufsätzen einen auch für Laien verständlichen Überblick über die sozialpsychologische Forschung. Im Gegensatz zu Götz Alys These vom NS-Sozialstaat für deutsche VolksgenossInnen betont Sascha Howard, dass es bei der Volksgemeinschaft nicht um eine materielle Egalität ging: "Anstelle von Gleichheit wurde Homogenität erzeugt, die soziale Realität war von Ausgrenzung gekennzeichnet, vom Fortbestand sozialer Ungleichheit etwa in Bezug auf die Reallöhne als auch von neuen Ungleichheiten, die sich aus der rassistischen Politik ergaben." Isabelle Hannemann schreibt über den "Zickzackkurs der historischen Frauenforschung und die Frage, warum man (deutsche Frauen) zunächst als Unschuldige, gar als Opfer patriarchaler Umstände oder lediglich als Mittäterinnen betrachtete, obwohl einige bereits im Bergen-Belsen-Prozess 1945 als Täterinnen hingerichtet wurden." Mehrere Aufsätze setzen sich mit der These auseinander, die NS-Täter seien ganz normale Staatsbürger gewesen. Als Beispiel für "die Banalisierung des nationalsozialistischen Verbrechens im Zeichen des Normalitätsdogmas" setzt sich Rolf Pohl kritisch mit dem auch bei Linken beliebten Harald Welzer auseinander. Pohl erinnert Welzers Weigerung, die NS-Politik an einer "Nachkriegsmoral" zu messen, an die Verteidigungslinie des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger (CDU): "Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein."
Peter Nowak
Markus Brunner u.a. (Hg.): Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen. Psychosozial Verlag, Hannover 2011. 252 Seiten, 24,90 EUR