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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 562 / 17.6.2011

Von der Euphorie zur Ernüchterung

Erinnerungen an den G8-Gipfel in Genua, 18. bis 22. Juli 2001

Im Juli jährt sich der G8-Gipfel in Genua zum zehnten Mal - und mit ihm der Höhepunkt der globalisierungskritischen Proteste. Die Demonstrationen in Genua waren riesig - die Antwort der Polizei von ungeheuerlicher Brutalität. Wenig später setzte der Anschlag vom 11. September der "Bewegung der Bewegungen" ein jähes Ende, George Bush rief den "Krieg gegen den Terror" aus, die "Koalition der Willigen" folgte ihm. Die Kriege in Afghanistan und im Irak begruben die Hoffnungen auf eine weltweite linke Bewegung gegen den Kapitalismus, fürs erste. Wir haben einige damals Aktive gefragt, wie sie sich an die Tage von Genua erinnern - und wie die Ereignisse ihren Blick auf die Kämpfe von heute prägen.

Genua war nicht nur Repression

Ich denke immer noch häufig an Genua, kein Ereignis seitdem hat mich so nachhaltig beeindruckt wie die drei Tage im Juli 2001. Genua ist für mich zu einem Maßstab geworden: "Das war längst nicht so schlimm wie in Genua" oder "In Genua hatte ich mehr Angst". Meine ZuhörerInnen wissen dann nie so recht, was ich meine, der G8-Gipfel ist in der Erinnerung derer, die nicht dabei waren, längst in weite Ferne gerückt.

In meiner Erinnerung steht zunächst ein Freitag, der militanter kaum hätte beginnen können. Kaputte Banken, ein Gefängnisverwaltungsgebäude, das mit Molotow-Cocktails beworfen wird, ein kleiner Supermarkt, in dem es bald nichts mehr gibt als ein paar unhandliche Waren. Keine Polizei weit und breit. Später habe ich oft darüber nachgedacht, ob die italienische Polizei wirklich agents provocateurs eingesetzt hat.

An anderen Stellen in der Stadt ist der Protest ganz friedlich. Jede Aktionsform hat ihren Platz und ihren Raum. Als sich ein Teil der etwas erschöpften militanteren Gruppen zufällig an einem Ort ausruht, den sich ausgesprochen Gewaltfreie für ihren Protest ausgesucht hatten, greift die Polizei an - und verprügelt vor allem die, die am wenigsten damit gerechnet haben.

Ich ziehe weiter in Richtung tute bianche, der "weißen Overalls" - deren Konzept vorsah, sich gut gepolstert, aber ohne Angriffswillen Richtung "rote Zone" vorzuarbeiten - als mein Telefon klingelt und ich gefragt werde, ob es stimme, dass ein Demonstrant tot sei. Auf dem Stadtplan von Genua sehe ich später, dass Carlo Giuliani nur ein paar Hundert Meter von meinem Standort erschossen wurde. Seltsamerweise erinnere ich mich nicht an die Stunden danach, vielleicht auch, weil am Ende der Samstag noch unfassbarer war.

Kirchliche Gruppen, Autonome, linke PolitikerInnen, attac, UmweltaktivistInnen, Flüchtlingsgruppen, GewerkschafterInnen - insgesamt mehrere Hunderttausend - alle sind gemeinsam auf der Straße. Der Trauer und Fassungslosigkeit über den Tod von Carlo Giuliani schenkt die Polizei nur Missachtung, greift an und zerteilt die Demo: Tränengaskartuschen aus dem Hubschrauber, Knüppel von hinten. Die, die es geschafft haben, den steilen Hang in Richtung Strand herunterzuklettern, werden vom Meer aus angegriffen. Dass in dieser Situation niemand totgetrampelt wird, niemand in Tränengas, Hitze und erdrückender Enge kollabiert - ein Wunder.

Auf der Suche nach dem vorderen Teil der Demonstration gerate ich neuerlich in Bedrängnis. Ein Tränengaspanzer jagt plötzlich ohne jeden Anlass andere und mich eine kleine Straße hoch, Kartuschen fliegen mir um die Ohren. Links Wände, rechts Wände. Einer Festnahme entgehe ich glücklich, die weniger Glücklichen werden vor Ort geschlagen, dann in die Kaserne Bolzaneto gebracht.

Ich stolpere Richtung Diaz-Schule zurück - mit Tränen in den Augen. Der Besuch der einzig offenen Pizzeria bewahrt mich vor den wild gewordenen Knüppelhorden der Carabinieri. Als die Pizza endlich kommt, wird die Diaz-Schule gerade gestürmt. Weil Gäste, die "nur kurz mal raus wollten", nicht wiederkommen, wage ich mich vor die Tür: Schwarze verspiegelte Limousinen mit römischen Kennzeichen schleichen durch das Viertel, Krankenwagen stehen Schlange vor der Schule, und ein blutiger Mensch nach dem anderen wird in Polizeibegleitung herausgeführt. Die Carabinieri sind mit roten Tüchern vermummt.

Mit ein paar anderen flüchte ich mich an einen Strand, ein paar Kilometer entfernt. Hubschrauber mit Suchscheinwerfern fliegen Patrouille, Sirenengeheul schreit durch die Stille.

Seit diesem Tag habe ich unendlichen Respekt vor allen, die es wagen, in autoritären, repressiven und totalitären Regimes ihre Stimme zu erheben. Und Verständnis für jeden, der es nicht tut - nachdem mich schon zwei Tage in Genua in einem irgendwie trotzdem demokratischen Italien derart beeindruckt haben. Aber ich bereue keinesfalls, dort gewesen zu sein. Genua war nicht nur Repression, sondern auch eine große, starke gemeinsame Bewegung: Un altro mondo è possibile. Auch wenn jedeR etwas anderes damit meint.

Laura Evers haben die Ereignisse von Genua nachhaltig geprägt.

Angriff der Schneckenmenschen

Der Eindruck, an einer Demonstration teilzunehmen, zu der hunderttausend Menschen aus ganz Italien und vielen Ländern Europas aufgebrochen waren, die aber von ganz anderen Personengruppen gesteuert würde, als denen, die zu ihr aufgerufen hatten, dieser Eindruck stellte sich bereits am Samstagmorgen ein.

Den Auftakt zur Demonstration sollten mehrere kleine, über die Stadt verstreute und themenbezogene Aktionen bilden. Ich war bei den Cobas, den italienischen Basisgewerkschaften, und den SUD-Gewerkschaften aus Frankreich, an einer Ecke, die nicht allzu weit von der Uferstraße entfernt war. Es ging um Arbeit, Einkommen und soziale Rechte. Als wir uns zu einer Kundgebung sammeln wollten, kreuzten auf einmal Schneckenmenschen auf, lange Kerle, schwarz gekleidet, mit seltsamen, hohen Aufbauten auf dem Kopf, Helmen, die an Schneckengehäuse erinnerten - furchterregend anzusehen, wie von einem anderen Stern. Zielstrebig liefen sie zu den Fensterscheiben der umliegenden Geschäfte und begannen, alles kurz und klein zu schlagen. Sie verbreiteten eine Stimmung von Panik und Ohnmacht. GewerkschafterInnen versuchten, sich ihnen in den Weg zu stellen, und mussten aufpassen, dass sie nicht niedergemäht wurden. Die Schneckenmenschen zogen die Straße zum Ufer hinunter und setzten auf beiden Seiten ihr Werk der Zerstörung planmäßig Scheibe für Scheibe fort.

Geraume Zeit später kam Polizei, die sich um die GewalttäterInnen aber nicht kümmerte, sondern den Gewerkschaftsblock angriff. Es war schier unmöglich, sich wenigstens zu einem Demonstrationszug zu sammeln, der die Uferstraße erreichen könnte, wir verstreuten uns. Auf der Uferstraße stießen wir dann auf eine große Menschenmenge, die Demonstration war im Chaos aufgebrochen, sie musste um den weiter unbehelligt entglasenden Trupp einen Bogen machen.

Hier wurde im Kleinen der Terror ausgeübt, der sich dann in der Ermordung von Carlo Giuliani und in der "chilenischen Nacht", im Überfall auf das Pressezentrum in der Diaz-Schule fortsetzte und enorme Ausmaße annahm.

Genua war ein Wendepunkt, eine neue Qualität in der Auseinandersetzung auf der Straße. Zum ersten Mal in meiner politischen Lebenszeit hatte eine europäische Regierung zum Mittel des Terrors gegriffen, um mit DemonstrantInnen fertig zu werden, Kleingruppenterror und Staatsterror. Das kannte ich bislang nur aus Beschreibungen über das Wüten der SA-Horden zum Ende der Weimarer Republik.

Es ist nicht so, dass die globalisierungskritische Bewegung mit Genua ihr Ende gefunden hätte. Auch danach gab es in Barcelona, Porto, Athen noch globalisierungskritische Massendemonstrationen. Aber sicher ist es so, dass die Entgrenzung des neoliberalen Kapitalismus im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auf einer Woge von Gewalt daherkam, ein Versuch, die Bewegung zu brechen. Ich würde nicht sagen, dass das gelungen ist - die Krise der Sozialforumsbewegung hat m.E. vorwiegend mit dem Zustand der sozialen Bewegungen und dem Fehlen von tauglichen strategischen Konzepten zu tun. Wo wir solche Konzepte haben, können wir auch diese Art Angriffe überstehen. Erschreckend ist, dass die Konzepte immer noch fehlen, da hilft auch nicht der ansonsten hochgestimmte Blick nach Tunis und Kairo.

Angela Klein ist Redakteurin der Sozialistischen Zeitung (SoZ).

Die ersten Schüsse fielen in Göteborg

"Hier gibt's jetzt das Gerücht, dass ein Polizist tot ist, wir wissen nichts Genaues." - "Haut sofort da ab!" rief ich.

Dieses Telefonat ist 10 Jahre her. Ich befand mich auf der Berliner Stadtautobahn; der Anruf aus Genua kam vor der Nachricht von Carlo Giulianis Tod, während immer noch ein Demonstrant in Göteborg angeschossen im Krankenhaus lag. Zehn Jahre nach Genua ist auch zehn Jahre nach Göteborg. Dort hatte vier Wochen zuvor die kleine EU-Gipfelschwester getagt. Die Reaktion der Machthabenden auf die Bewegung, die ihre Stärke aus der Internationalität, ihrer Entschlossenheit und der zunehmend vermittelbaren Gegnerschaft zum Kapitalismus zog, wurde dort schon deutlich.

In Göteborg stellte die Polizei Frachtcontainer als Barrieren quer durch die Stadt auf, um DemonstrantInnen vom Tagungsort fernzuhalten. Die finnischen tute bianche wurden schon beim Aufwärmtraining vor dem Gipfel festgenommen, schlussendlich konnte man sich vom morgendlichen Sammelpunkt nur ganze zwei Meter auf die rote Zone zu bewegen, da die Polizei sofort Hunde in die Menge hetzte und mit Pferdestaffeln die Demonstration auseinander trieb. Die Bewegung reagierte, indem sie die Einkaufsmeile entglaste - die heilige Kuh der westlichen Welt.

Beim reclaim the streets am nächsten Tag schoss die Polizei scharf: Zwei Menschen erlitten Beinschüsse, einer schwebte durch einen Bauchschuss in Lebensgefahr. Völlig hysterisiert schloss sich die öffentliche Meinung gegen den Black Block zusammen. Ganz klar: Die Auswärtigen waren schuld, lange Haftstrafen wurden verhängt. Ein Muster, das sich in den folgenden Jahren wiederholen sollte.

So schnell konnte die Bewegung die Eskalation nicht erfassen. Die Vorbereitungen für Genua liefen auf Hochtouren, der Sturm auf die roten Zonen war unser aller Konzept. Der kollektive Schock, als Carlo Giuliani erschossen wurde und Italiens Staatsmacht sich mit dem Überfall auf die Diaz-Schule als faschistoide Prügelbande präsentierte, veränderte vieles.

Die Bewegung blieb nicht versteinert. Sie debattierte, geriet, auch durch den Anschlag auf das World Trade Center, in die Defensive, bestand auf ihrem Antikapitalismus, reiste nach Evian, umzingelte und blockierte, schlug sich mit großem Erfolg durch die Felder rund um Heiligendamm und blickt nun fasziniert auf die Revolten in Nordafrika.

Wenn sich jetzt Mitte Juli viele AktivistInnen nach Genua aufmachen, um zu erinnern, anzuknüpfen, das eigene Trauma zu überwinden oder einfach zurückzukehren, wird in Göteborg ein reclaim the streets zu Ende geführt werden, der vor zehn Jahren durch Schüsse beendet wurde.

La lucha sigue, wie auch immer!

Anja Fugo-San ist mit der Antifaschistischen Linken Berlin nach Göteborg gefahren statt nach Genua.

Von Genua zur Großen Depression

Seit November 2007 habe ich nicht an Genua gedacht. Damals versammelte sich die gesamte italienische Bewegung in der Stadt, die Narben auf unseren Körpern und in unseren Erinnerungen zurückgelassen hatte. Sie forderte Freiheit für die AktivistInnen, denen für ihre Teilnahme an den Protesten gegen den G8-Gipfel absurd hohe Strafen drohten. Es war ein riesiger, schweigender Demonstrationszug, Gewerkschaften und Parteien mussten sich ganz hinten einreihen. "La storia siamo noi" - "Wir sind die Geschichte", stand auf dem Fronttransparent.

Zehn Jahre liegen die verhängnisvollen Tage von Genua nun zurück, zehn Jahre, seit der italienische Polizeistaat, der gerade Silvio Berlusconi in die Hände gefallen war, sein militärisches Gewaltpotenzial gegen die DemonstrantInnen entfesselte, gegen die tute bianche, die weißen Overalls, ebenso wie gegen den Schwarzen Block.

Ich hatte mich begeistert in die Bewegung von Seattle eingeschaltet, die erste postkommunistische antikapitalistische Bewegung! Ich gehörte zur Gruppe Mailänder AktivistInnen, die das Carlini Camp errichtet hatten. Was für ein Erlebnis: In einer Zeit, in der die Dominanz des globalen Kapitalismus unangreifbar schien, befand ich mich plötzlich inmitten einer verblüffenden transnationalen Bewegung! Ein neuer anarchischer Internationalismus betrat die Bühne, weiße Jugendliche unter schwarzen Kapuzen, die sich vom Rot des Zapatismus inspirieren ließen und es mit dem Weiß der Overalls mixten. Die Fragen der Ökologie und des Finanzkapitalismus, der Nord-Süd-Solidarität und der Migration diskutierten, alles unter dem Dach des Genoa Social Forum: Pink! Silber! Grün!

Am Freitag, dem 20. Juli, lieh ich mir ein Moped und kurvte durch die Straßen, umrundete die Barrikaden und Trümmer, die überall lagen, während sich der Schwarze Block eine Straßenschlacht mit der größten Polizeiarmee lieferte, die Europa bis dato gesehen hatte. Mittags nahm ich an der "archimedischen Spiegel-Attacke" auf die rote Zone teil, die wir zusammen mit den Yes Men organisiert hatten. Wir verteilten hunderte kleiner pinker Spiegel - made in China - und blendeten damit die PolizistInnen auf der anderen Seite des Metallzauns. Danach machte ich mich auf zur Demonstration der tute bianche. In der Via Tolemaide traf ich sie - in wilder Flucht. Ich sah Leute um ihr Leben laufen, panisch vor Angst, zerquetscht zu werden. Überall war Tränengas und Pfefferspray. Polizei und Carabinieri stürmten immer wieder in die Menge, wir zogen uns Richtung Carlini Camp zurück, unsere Sicherheitszone. Dann, gegen halb vier am Nachmittag, fielen Schüsse mit scharfer Munition. In dem Moment wusste ich, dass heute DemonstrantInnen sterben würden. Ich ergriff die Flucht. Meine Freundin war schwanger, und ich dachte: Ich will noch erleben, wie unser Kind geboren wird. Das hier ist Krieg!

Als ich das Indymedia Center betrat, hörte ich die Nachricht, dass Carlo Giuliani von Carabinieri erschossen worden war. Samstag morgen erfuhren wir von den Folterungen in der Kaserne Bolzaneto. Am Nachmittag dann der Angriff auf die 100.000-Leute-Demonstration, in der Nacht auf Sonntag die brutale Stürmung der Diaz-Schule.

Was bleibt zehn Jahre später, außer verblassenden Erinnerungen? Wir waren die ersten, die eine radikale Kritik am neoliberalen Kapitalismus formulierten, an dem Kapitalismus, der 2008 mit einem Riesen-Crash gegen die Wand fuhr und Millionen Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit stürzt. Den Hoffnungen der Jungen hat diese neue Große Depression den Todesstoß versetzt. Wir haben die ökologische Krise des Kapitalismus heraufziehen sehen, wir hatten Recht, als wir sagten, dass die Finanzmärkte nicht nur die Ungleichheit verschärfen, sondern das Wohlergehen aller untergraben. Trotzdem wurden wir besiegt, damals in Genua.

Inzwischen hat ein neuer Protestzyklus begonnen, offener und radikaldemokratischer. Es sind die Kämpfe der indignad@s, die Twitter- und Facebook-gestützten Revolten von Madrid und Barcelona, die die Jugendlichen Europas inspirieren - und die ihrerseits inspiriert wurden von den Revolten im Maghreb und im Nahen Osten.

Zehn Jahre nach Genua haben wir alternden Noglobals eine echte Chance, radikale politische Lösungen für die Krisen und Probleme zu erkämpfen, die der wirtschaftsliberale Fanatismus verursacht hat. Unsere Aufgabe besteht darin, der Sparpolitik eine Niederlage zu bescheren. Die aufkeimenden Proteste gegen die Kürzungen in England, Frankreich, Italien und anderswo müssen sich europäisieren, und sie müssen sich mit der Bewegung für echte Demokratie verbinden.

In Genua haben wir verloren. Aber vielleicht gewinnen wir dieses Mal.

Alex Foti war Mitbegründer von Euromayday Paraden in Mailand und hat das Buch "Anarchy in the EU" geschrieben.

Polizeiliche Aufrüstung gegen "Euro-Anarchisten"

Nach den massiven Protesten gegen den WTO-Gipfel 1999 in Seattle, die mit einer Mischung aus Massenblockaden und politisch gezielter Sachbeschädigung und begleitet vom ersten internationalen Auftritt von Indymedia immerhin einen Gipfel zum Abbruch gebracht hatten, war eine kühne Entschlossenheit auf Europa übergesprungen. Eine internationale Mobilisierung zum "Summer of Resistance" produzierte schließlich in Genua eine handfeste Revolte.

Die Antwort der italienischen Regierung war eine Repression, die viele AktivistInnen in Westeuropa nicht für möglich gehalten hatten. Die anschließende öffentliche Debatte war bestimmt von der Frage, ob Genua ein nie zuvor gesehener massenhafter Widerstand war, oder ob die angegriffenen Regierungen die globalisierungskritische Bewegung zurückdrängen konnten. Das Ringen zwischen erfolgreichem, kreativen Protest und stets Schritt haltender Repression bestimmte die Diskussionen auch in den Jahren nach dem "Summer of Resistance" von 2001: Der EU-Gipfel in Göteborg und der G8-Gipfel in Genua waren tonangebend für die Vernetzung europäischer Polizeien. Eilig wurden grenzüberschreitende Forschungsprogramme und Arbeitsgruppen einberufen, um Konzepte zur "Sicherheit bei polizeilichen Großlagen" zu entwickeln. Nach erneuten militanten Protesten gegen den EU-Gipfel in Thessaloniki entschied der Europäische Rat, die halbjährlichen Treffen im kleineren Format und mit weniger Popanz abzuhalten.

Deutsche Polizei reist seitdem regelmäßig mit Wasserwerfern und Prügel-Hundertschaften zu Gipfelprotesten und Fußballspielen in die Schweiz, nach Österreich und Frankreich. Die Bundesregierung hat entsprechende internationale Verträge vorangetrieben und will ihre Datensammlungen über GipfeldemonstrantInnen EU-weit verfügbar machen. Die Fälle internationaler Polizeispitzel haben gezeigt, auf wen die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit zielt: Der Präsident des Bundeskriminalamts erklärte in geschlossener Runde, der Spitzeltausch würde sich gegen AktivistInnen aus Griechenland, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland richten. Dort seien "Euro-Anarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen" am Werk, die einen regelrechten Tourismus betreiben würden.

Die Mobilisierungen gegen die Gipfel von NATO oder G8 haben indes in den letzten Jahren wenig Resonanz erzeugt. Eher zeichnet sich ein neuer Internationalismus im Bereich von Migrationspolitik ab, der mit No-Border-Camps, permanenter Flüchtlingssolidarität in Calais, der Karawane Bamako-Dakar oder Delegationsreisen nach Tunesien das europäische Grenzregime unterwandert. Die Entwicklungen helfen, den in die Jahre gekommenen Widerstand gegen die "Festung Europa" durch frische Analysen und Taten zu ersetzen.

Matthias Monroy ist Aktivist bei Gipfelsoli.

Das Schweigen der Linken

Anlässlich des zehnten Jahrestages hat sich das Genoa Social Forum (GSF) neu konstituiert. Ende Juli wird es eine Reihe von Veranstaltungen geben, die mit einer Demo abgeschlossen wird. Ein Thema wird die Repression gegen die DemonstrantInnen und die Rolle der Ordnungskräfte 2001 sein. Aber man will oder kann nicht wirklich daran erinnern, was Genua gewesen ist. Sowohl vor als auch nach den Tagen des G8-Gipfels wurden zentrale Fragen nicht ausreichend diskutiert: der Schutz der DemonstrantInnen auf der Straße; der Umgang mit Akteuren außerhalb des GSF; die verschiedenen Positionen innerhalb des GSF selbst, beispielsweise diejenige der tute bianche, die sich am 19. Juli 2001 im Carlini-Stadion als disobbedienti konstituierten, mit ihrer "Kriegserklärung" vor dem Gipfel; und danach die Spaltung in "gute" und "böse" DemonstrantInnen, die Gewaltfrage, der Black Block. Diese Themen sind nie aufgearbeitet worden, so dass es jetzt schwierig wird, über das zu reden, was in Genua 2001 passierte.

Bislang sind die Prozesse - insbesondere die drei großen Verfahren zu den Ereignissen in der Diaz-Schule, in der Bolzaneto-Kaserne und gegen 25 DemonstrantInnen - die einzige Form einer Aufarbeitung in Form einer partiellen Rekonstruktion der Ereignisse. Und notwendigerweise haben sich um die Verfahren herum nicht wenige Konflikte entfacht. So wurden die DemonstrantInnen in "gute" und "böse" eingeteilt: hier die hilfslosen Opfer der Gewaltexzesse in der Diaz-Schule und in Bolzaneto, die von jenen winzigen Kreisen der moderaten und institutionellen Linken, welche die Verfahren beobachtet haben, unterstützt wurden; dort die 25 wegen "Verwüstung und Plünderung" Angeklagten, die unbequem für die Gemäßigten sind und von der radikalen Linken zwar in Worten unterstützt, in der Tat aber im großen und ganzen allein gelassen wurden. Die 25 riskieren extrem schwere Strafen. Vielleicht wären die Prozesse anders gelaufen, wenn es um sie herum eine Bewegung gegeben hätte, die gewillt und fähig gewesen wäre, sie politisch zu unterstützen.

Dennoch boten die Verfahren einige Anlässe, politische Fragen und Forderungen zu stellen. Ein Beispiel ist die Demo vom 17. November 2007, einen Monat vor dem Urteil erster Instanz über die 25. Zu der Zeit wurde die auch vom radikaleren Flügel der damals regierenden Mitte-Links-Koalition getragene Forderung, eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ereignisse in Genua einzurichten, diskutiert und von der Demo unterstützt. Die Diskussion befand sich in einer fortgeschrittenen Phase, aber danach ließ die Regierung das Projekt fallen.

2008 folgte ein Verfahren gegen den damaligen Polizeichef Giovanni De Gennaro wegen Anstiftung zur Falschaussage. Dadurch rückten die Ereignisse von Genua wieder verstärkt in die Öffentlichkeit. Aber im wesentlichen sind die vergangenen zehn Jahre gekennzeichnet von der Abwesenheit und dem Schweigen derjenigen, die 2001 auf der Straße waren.

Valeria Bruschi ist ak-Autorin.

Wer "wir" warum waren, aber nicht wurden

Gerade sollte ich in eine neue, größere Stadt mit mehr Platz zum Demonstrieren und mehr auch lokalen Anlässen dafür ziehen, da passierte was im Fernsehen. Wenn was im Fernsehen passiert, kann man mal wieder sehen, wer "wir" - etwa im Gegensatz zu denen, die immer nur einkaufen oder arbeiten wollen in den Städten - eigentlich sind, hieß damals die Regel; das letzte Mal war das zehn Jahre früher passiert, wegen der Golfscheiße von Bush Senior. Mit Anfang Dreißig gehörte ich inzwischen nur so gerade noch zu den jüngeren Linken, in der neuen wie in der alten Stadt.

Die jüngeren Linken waren diejenigen, die von den älteren Linken gewarnt wurden, nicht zu schnell zusammen- bzw. auseinanderzulaufen, wenn es nichts weiter zu tun gab als zu demonstrieren und mit der bewaffneten Staatsmacht zusammenzuprallen. Das sei nämlich in Sachen Kernkraft und Frieden passiert, hieß es von den älteren Linken immer, man sei (mit den Christen) zusammengelaufen und zugleich (aus "der Partei", das war jeweils irgendeine traurige Gruppe von Sitzengelassenen) auseinandergelaufen und habe sich danach nicht mehr, oder schlimmer: bei den Grünen wiedergefunden. Letztere seien überhaupt das Allerschlimmste gewesen und hätten "uns" damals den Rest gegeben, weil man das alles immer nur mitgemacht, aber nicht analysiert hätte.

2001 dann, beeindruckt von dem, was in Genua, im Fernsehen, passierte, wurde stattdessen sofort drauflos analysiert, und zwar abweichend von dem, was die älteren Linken den (gerade noch) jüngeren Linken erzählt hatten, nicht nur von Leuten, welche die Geistesgegenwart besessen hatten, daheim zu bleiben, sondern auch von denen, die dort gewesen waren oder beim nächsten Mal, egal wo, unbedingt dabei sein wollten. Die Analysen redeten davon, dass man an den Ereignissen sehen könne, wie unwichtig das Sichorganisieren und Strategienmachen sei, verglichen mit dem Moment, wo es Leuten, die niemanden repräsentieren und von niemandem repräsentiert werden wollen, endlich mal langt, und als die (gerade noch) jüngeren Linken dann durch die Scheiße, die folgte, schlagartig sehr viel älter wurden, fing die Zeit an, in der die älteren Linken den jüngeren Linken das immer wieder erzählten, diese große Lehre aus den Erfahrungen von wem auch immer: wie wichtig Momente sind, auf die sie seither warten. In Gestalt der jüngeren Linken begegnen ihnen jetzt oft die anders gearteten Argumente der ganz alten Linken wieder. Und noch ist nicht klar, ob die verschiedenen Altersstufen irgendwann anfangen werden, einander zuzuhören und diese ganzen Lehren mit der (unterdessen ja auch wieder stark gewandelten) Lage zu vergleichen. Oder ob all die Lehren bloß dazu da sind, hin und wieder auf unterschiedliche Lebensalter verteilt zu werden, die sie dann herumtragen wie Demoparolen, bis man vergisst, dass man eben doch nie "wir" sein kann, ohne sich mit Erfahrungen anderer auseinanderzusetzen, oder bis einen irgendwer sieht, vielleicht ja wieder das Fernsehen.

Dietmar Dath ist Autor und Allround- ach, lassen wir das!