Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de
ak bei facebook

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 563 / 19.8.2011

Von Choucha bis Tunis

Suchprozesse zwischen Migration und Revolution

Im Mai dieses Jahres reiste eine Delegation der antirassistischen Netzwerke Afrique-Europe-Interact und Welcome to Europe nach Tunesien. Stationen der Kontakt- und Erkundungstour waren neben Tunis u.a. die Flüchtlingslager an der Grenze zu Libyen sowie Sidi Bouzid, der Ort, in dem der Aufstand im Dezember 2010 begonnen hatte. Im Folgenden einige Eindrücke, verbunden mit zwei Aufforderungen für den Herbst, die euro-afrikanische Kooperation voranzutreiben: mit „Schiffen der Solidarität“ gegen das EU-Grenzregime und in einer transnationalen Konferenz in der tunesischen Hauptstadt.

Als der TV-„Tatort“ „Der illegale Tod“ ausgestrahlt wurde, befanden wir uns gerade in einem Hotel in Tunis. Der Drehbuchautor konnte kaum wissen, wie brandaktuell seine Story Mitte Mai 2011 sein würde.

Ein Flüchtlingsboot, das von Tunesien aus startet, trifft auf eine Frontex-Patrouille, an Bord deutsche Beamte aus Bremen. Statt die Menschen aus dem überfüllten Boot zu retten, wird ein Flüchtling erschossen. Der Kutter kentert, fast alle Boatpeople sterben im Meer. Eine Überlebende aus dem Togo schafft es im zweiten Anlauf nach Europa und schlägt sich nicht zufällig nach Bremen durch. Ihre kleine Tochter gehörte zu den Ertrunkenen. Die Mutter nimmt nun Rache an dem verantwortlichen Frontex-Team, das den Vorfall vertuscht hatte.

Mit diesem „Tatort“ wurde einem Millionenpublikum die menschenverachtende Arbeitsweise der europäischen Grenzpolizei eindrücklich vorgeführt. Auch wenn es „nur“ ein guter Krimi war, für das Image von Frontex dürfte der Abend ein regelrechter Kommunikationsgau gewesen sein.

Fluchtwege öffnen, Flüchtlinge aufnehmen!

Der „Tatort“ spielte im Juni 2010, noch realistischer erscheinen solche todbringenden Einsätze seit Februar 2011. Denn seitdem patrouilliert Frontex mit der Operation Hermes unmittelbar vor der tunesischen Küste. (vgl. ak 559)

Über 2.000 ertrunkene Boatpeople wurden in den vergangenen Monaten zwischen Nordafrika und Lampedusa bzw. Malta gezählt. Das Sterben im Mittelmeer erscheint als kalkulierte Abschreckungsstrategie des EU-Grenzregimes. Mehrfach ist dokumentiert, wie Rettungen bewusst unter- und die Menschen ihrem Schicksal überlassen wurden. So etwa in der erschütternden Reportage „Logbuch des Todes“ in der Spiegel-Ausgabe vom 23. Mai 2011.

„‚Wir wollen hier weg! Europa muss helfen!‘ Die Forderungen auf den Pappschildern der Flüchtlinge und MigrantInnen an der tunesisch-libyschen Grenze sind eindeutig – und zwingend: 5.000 Menschen warten seit Wochen und Monaten unter unerträglichen Bedingungen in dem Lager des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) in Choucha. Sie alle konnten dem eskalierenden Bürgerkrieg in Libyen entkommen. Viele waren dort als ArbeitsmigrantInnen beschäftigt, andere hatten Zuflucht vor den Kriegs- und Krisenzonen im subsaharischen Afrika gesucht. Überlebende von gekenterten Flüchtlingsbooten begegnen in Choucha denjenigen, die sich aus Verzweiflung und allen Gefahren zum Trotz wieder Richtung libyscher Grenze auf den Weg machen, um die gefährliche Überfahrt nach Europa zu wagen.“ (1)

Unsere Reisedelegation hatte sich im Mai in Choucha aufgehalten, exakt in den Tagen, als die Situation dort nach einem Brand eskalierte. In mehreren Filmclips und Interviews haben wir die dramatische Situation dokumentiert, selbst in Mainstreammedien wurde die Verantwortung der EU-Migrationspolitik mehrfach thematisiert. Im Hinblick auf die Innenministerkonferenz in Frankfurt sowie den EU-Rat in Brüssel wurden im Juni die entscheidungstragenden deutschen wie EU-MinisterInnen in mehreren Appellen zur sofortigen Aufnahme der betroffenen Flüchtlinge aufgefordert. Diese zeigten sich einmal mehr gnadenlos. Und es spricht für sich, dass selbst einem spanischen NATO-Schiff, das ausnahmsweise Flüchtlinge aus Seenot an Bord genommen hatte, das Anlegen in Italien und Malta verwehrt wurde. (taz, 21.7.11)

Angesichts der unerträglichen Situation haben französische und italienische Netzwerke im Juli die Initiative für die „Schiffe der Solidarität“ ergriffen. Ein genaueres Konzept ist noch in Diskussion. Nicht zuletzt an der Frage der Finanzierung muss sich in den kommenden Wochen entscheiden, wie gut das Projekt, das Mitte September starten soll, ausgerüstet werden kann.

Eine neue Cap Anamur (2) erscheint kaum realisierbar, wahrscheinlicher ist, dass zunächst eine Flotte kleinerer Schiffe Monitoring und öffentliche Anklage, Begleitung und notfalls auch Rettungsinterventionen zu kombinieren versucht. Doch die Aktion könnte und sollte mehr als nur einige mediale Wellen schlagen. Der offensive Schritt zielt darauf, die Re-Installierung des vorverlagerten Wachhunderegimes zumindest zu stören.

Die Demokratiebewegungen in Nordafrika bieten die Chance für einen Neuanfang. Statt tödlicher Ausgrenzung und grotesker Bedrohungsszenarien muss Offenheit und Solidarität die Zukunft des mediterranen Raumes prägen. Es braucht Brücken statt Mauern für ein neues afrikanisch-europäisches Verhältnis, damit Europa ein Raum wirklicher Freiheit, allgemeiner Sicherheit und der gleichen Rechte für Alle wird.“ (1)

Mittlerweile formiert sich ein transnationales Vorbereitungskomitee für die ambitionierte Schiffsinitiative. Aus mehreren europäischen und afrikanischen Ländern werden Unterstützung und Beteiligung signalisiert, in Deutschland hat sich eine Kontaktgruppe gebildet. Breite und prominente Unterstützung ist in jedem Fall gefragt, wenn Boatpeople aufgenommen und offensiv Richtung europäischer Häfen transportiert werden sollen. Die Repressionserfahrungen, die die Cap Anamur wie auch tunesische Fischer mit italienischen Behörden machen mussten, sind noch in naher und schlechter Erinnerung.

Der tunesische Präsident Ben Ali fungierte als einer der Wachhunde des EU-Migrationsregimes, nicht nur abgefangene subsaharische Flüchtlinge, sondern auch die Harragas, die „Grenzverbrenner“ mit arabischem Pass, wurden mit langer Haft wegen illegalisierter Ausreiseversuche belegt. Das für die EU geografisch bedeutendere nordafrikanische Transitland war allerdings Libyen. Entsprechend wurde das Gaddafi-Regime hofiert und zunehmend in die Migrationskontrolle einzubinden versucht.

„Schiffe der Solidarität“ gegen das EU-Grenzregime

Es flossen Millionenbeträge aus EU-Fonds, um die libyschen See- und Wüstengrenzen aufzurüsten. Noch im November 2010 beim EU-Afrika-Gipfel in Tripolis posierte Guido Westerwelle händeschüttelnd mit Gadaffi, für die kommenden Monate war gar ein Polizeiabkommen mit Frontex in Planung. Doch dann kam der 17. Dezember dazwischen, in einem kleinen Ort in Tunesien begann ein Aufstand, dessen Wirkungen schon im Februar auch das libysche Regime infrage stellen sollte.

Der Funke wurde wortwörtlich zum Steppenbrand, als sich am 17. Dezember 2010 der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid aus Protest gegen Schikanen und Korruption selbst anzündete.

Bei unserer Zwischenstation in der tunesischen Kleinstadt im Mai trafen wir auf eine Gruppe Jugendlicher, die uns bereitwillig und nicht ohne Stolz über die harten nächtlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei im Dezember berichteten. „Manche nennen den 14. Januar, aber wir sagen, der 17. Dezember ist der Anfang gewesen!“ Der tunesische Aufstand breitete sich von hier und benachbarten wirtschaftlich benachteiligten Regionen aus, er wurde dann in Tunis von Bürgerrechtsgruppen und StudentInnen aufgegriffen, schließlich kam es zu Massenstreiks mit Unterstützung der Gewerkschaften. „Degage“ („Verschwinde“) kam als Parole des Aufstands aus dem Süden, am 14. Januar war es soweit: Ben Ali und sein Clan mussten Hals über Kopf das Land verlassen.

Kleine soziale Zugeständnisse der neuen Regierungen (3) sind unzureichend, den Jugendlichen in Sidi Bouzid geht es bislang materiell nicht besser, aber sie sind und bleiben selbstbewusst, nicht nur gegenüber der Polizei. Einige von ihnen waren dabei, als Ende Februar mit neuen Protesten in der Hauptstadt eine weitere Übergangsregierung (mit VertreterInnen des alten Regimes) aus dem Amt gejagt wurde, im Juli werden erneute Auseinandersetzungen aus Sidi Bouzid gemeldet.

Während wir im Mai in Sidi Bouzid mit den Jugendlichen im Café redeten, gingen die anhaltenden Massenproteste in Spanien durch die Medien. Hunderttausende protestierten gegen die Politik der Eliten, die Perspektivlosigkeit und zunehmende Prekarisierung zur Folge hat. Sie nahmen ausdrücklichen Bezug auf die Massendemonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und die Dynamik des arabischen Frühlings. Die Jugendlichen aus Sidi Bouzid haben das gleich mitbekommen. Sie freuten sich, welche Wellen ihr Aufstand mittlerweile sogar über die arabische Welt hinaus ausgelöst hat.

Nur eine Woche zuvor waren wir in Tunis an einem Treffen beteiligt, zu dem tunesische StudentInnen und Aktive der knowledge liberation front aus Frankreich und Italien eingeladen hatten. Das Netzwerk der „WissensbefreierInnen“ kam erstmals im Februar in Paris zusammen, in erster Linie um sich anhand der unterschiedlichen Streikerfahrungen an Universitäten auszutauschen und über gemeinsame Strategien zu diskutieren. Der erfolgreiche tunesische Aufstand war damals gerade nach Ägypten übergesprungen, tunesische Aktivistinnen brachten die Idee einer größeren Konferenz in Tunis ins Spiel.

Gemeinsame Kämpfe – auch bald im Norden?

Im Kontext der globalen Wirtschaftskrise gibt es viele Parallelen zwischen den Gründen, weswegen wir in Europa kämpfen, und warum Ben Ali und Moubarak gestürzt wurden. (…) Wir wollen, dass dieses Treffen ein Versuchsfeld der Reflexion und der gemeinsamen Arbeit für folgende fundamentale Fragen ist: Migration und die Bewegungsfreiheit von Menschen und Wissen, Prekarisierung, Schulden und Sozialversorgung, freie und zugängliche Bildung für alle, Schaffung autonomer Medien und Netzwerke, Wiederaneignung städtischer Räume, Mechanismen und Formen sozialer Mobilisierung und das Experimentieren mit neuen Formen der Organisierung und der kollektiven Intelligenz.“ (4)

Das „Prekariat des EuroMayday“ hat sich in den letzten Jahren verflüchtigt, vielleicht die zu frühe politische Vorwegnahme dessen, was sich jetzt in parallelen, zumindest fast zeitgleichen und gegenseitig inspirierenden Kämpfen von Tunis bis Barcelona und von Kairo bis Athen in sozialer Dynamik neu entwickelt. Ein gemeinsamer Feind von IWF über EZB bis zu den nationalen Eliten wird in den sogenannten Sparprogrammen übergreifend erkennbar, doch das kann kaum dauerhafter tragen. Das Gefälle zwischen Nordafrika und Südeuropa bleibt gewaltig, doch gibt es – trotz aller Differenzen – nicht zunehmende „precarious connections“? Und wenn ja, wie ließen sich diese Verbindungen dann auch weiter bis nach Frankfurt oder Berlin ziehen?

Viele offene Fragen, doch alleine, dass sie heute in dieser Dimension gestellt werden können, erscheint Grund genug, sich einzumischen und mitzuwirken in diesem neu dynamisierten transnationalen Suchprozess. Die Schiffe der Solidarität wie auch die Konferenz in Tunis bieten in den kommenden Monaten dazu doppelte Gelegenheit.

h., kein mensch ist illegal/Hanau

Anmerkungen:

1) Aus dem gemeinsamen Aufruf von Pro Asyl, medico international, Borderline Europe, Afrique Europe Interact und Welcome to Europe.

2) Die Cap Anamur II war ein Riesenschiff mit Platz für 300 Flüchtlinge, das allein in der Anschaffung 1,8 Millionen Euro kostete. 2004 wurden damit Flüchtlinge aus Seenot an Bord genommen, die italienischen Behörden regierten mit Kriminalisierung und konfiszierten das Schiff. Erst nach einem jahrelangen Verfahren wurden die Angeklagten freigesprochen.

3) Für junge Menschen mit abgeschlossener Berufs- oder Hochschulausbildung gibt es seit April ein Arbeitslosengeld in Höhe von ca. 250 Euro.

4) Aus dem Aufruf zum transnationalen Meeting in Tunis, das voraussichtlich Ende September in Tunis stattfinden wird.

Weitere Informationen und Links auf www.afrique-europe-interact.net. Direktkontakt zur Schiffsinitiative über choucha-appell[a]antira[.]info. In einer Ende August erscheinenden Broschüre werden zudem die gesammelten Reiserfahrungen aus Tunesien ausführlicher dokumentiert.