Am Anfang war ein Medienskandal
Die britische Regierung in der Bredouille
Roits in lange nicht mehr erlebter Intensität erschütterten Anfang August viele englische Großstädte. Ein Aufstand der Abgehängten – geeint im Hass auf Eliten und Polizei. Die Luft wird dünner für die britische Regierung. Hunderttausende legten bereits am 30. Juni für 24 Stunden aus Protest gegen die Sparpläne der Regierung die Arbeit nieder, die seit Wochen durch einen Medienskandal um abgehörte Mobiltelefone und ihre Verquickung mit dem Medienmogul Rupert Murdoch erschüttert wird. Ein Blick auf die Vorgeschichte.
Man stelle sich folgendes Szenario vor: Von einem Tag auf den anderen stellt die Bild am Sonntag ihr Erscheinen ein; zahlreiche aktuelle und ehemalige BamS-JournalistInnen werden verhaftet; die Führungsspitze des Springer-Konzerns muss vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestags Rede und Antwort stehen; der BKA-Präsident und sein Stellvertreter treten zurück; und die Bundeskanzlerin befindet sich aufgrund der engen Verbindungen zwischen Springer und der CDU in Erklärungsnot.
Das ist natürlich reine Fiktion, die allerdings zugleich ein Produkt simpler Analogiebildung ist: Die auflagenstärkste Zeitung Großbritanniens, das Sonntagsblatt News of the World (NoW), ist tatsächlich im Juli eingestellt worden. Die Polizei hat zahlreiche JournalistInnen verhaftet, darunter Rebekah Brooks, ehemals Herausgeberin und Presseberichten zufolge eine enge Freundin David Camerons, und Andy Coulson, zunächst Brooks Nachfolger bei der NoW und später Pressechef des Premierministers.
Nach dem Arabischen Frühling ein britischer Sommer
Rupert Murdoch, Vorsitzender des weltumspannenden Medienkonzerns News Corp, zu dessen Imperium die NoW gehörte, musste einem Ausschuss des Unterhauses Rede und Antwort stehen – und ebenso sein Sohn James, der für das Europageschäft des Unternehmens zuständig ist. Paul Stephenson und John Yates, die Nummern eins und zwei bei Scotland Yard, sind zurückgetreten. Und Cameron befindet sich erstmals in seiner Amtszeit in der Defensive.
Der Anlass: Die Tageszeitung The Guardian enthüllte Anfang Juli, dass die NoW im Jahr 2002 Sprachnachrichten auf dem Handy eines vermissten, zu diesem Zeitpunkt bereits ermordeten Mädchens abgehört hatte. Es bedurfte dieser Enthüllung, um eine öffentliche Debatte um die Aktivitäten der News Corp und ihrer Verbindungen zu Polizei und Politik anzustoßen. Dabei war schon seit Jahren bekannt, dass NoW-MitarbeiterInnen Mailboxen von Prominenten, Royals und PolitikerInnen abgehört hatten. Scotland Yard blieb untätig, wohl aufgrund der engen Verbindungen zwischen Polizeiführung und News Corps; und auch Cameron spielte die Angelegenheit zunächst herunter.
Inzwischen sieht der Guardian-Kolumnist Jonathan Freedland bereits eine „sehr britische“, da stille Revolution am Werk und diskutiert sie im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling. Der Grund: Im Juni letztens Jahres startete die News Corp einen Versuch, die Kontrolle über die Bezahlfernsehsender BSkyB zu erlangen, an der sie bereits einen Minderheitenanteil hielt. Dies führte aufseiten von Wettbewerbern aus dem Zeitungsgewerbe zu Protesten, da die News Corp auch die auflagenstärkste Tageszeitung Großbritanniens, die Sun, und zudem die Times kontrolliert.
Die konservativen Mitglieder der Koalitionsregierung schienen jedoch gewillt, den BSkyB-Deal durchzuwinken. Angesichts der öffentlichen Empörung drehte sich der Wind nun. Oppositionsführer Ed Miliband schloss sich der Forderung nach einer Rücknahme des Übernahmeangebots an, und schließlich machte sich auch die Regierungskoalition diese Auffassung zu eigen. Wenig später nahm die News Corp ihr Angebot zurück.
Freedlands Revolutionsrhetorik speist sich also nicht lediglich aus der Skandalisierung journalistischer Recherchepraktiken, sondern thematisiert eine vermeintliche Verminderung des Einflusses der News Corp auf politische EntscheidungsträgerInnen. Es besteht die Einschätzung, dass der Konzern seit Jahren der britischen politischen Klasse unter Androhung von „schlechter Presse“ eine rechtskonservativ-marktextremistische Agenda aufzwingt, und dass es den britischen PolitikerInnen endlich zu gelingen scheint, Einschüchterungsversuche der News Corp abzublocken.
Richtig an dieser Einschüchterungstheorie ist, dass die News Corp eine solche politische Agenda hat, und richtig ist auch, dass die Regierungen Blair und Brown geradezu besessen von der medialen Wahrnehmung ihrer Maßnahmen waren und die Murdochs entsprechend hofierten. Richtig ist zudem, dass die News Corp vor direkter politischer Einflussnahme nicht zurückschreckt.
Trotzdem ist die Einschüchterungstheorie letztlich nicht überzeugend, zumindest wenn es um die Regierung Cameron geht. Klar ist zunächst, dass der Premierminister enge Verbindungen zur News Corp hat. So hat er seit seiner Amtseinführung im Mai 2010 nach eigenen Angaben 26-mal führende RepräsentantInnen des Konzerns getroffen.
Aber nicht nur die Existenz persönlicher Freundschaften spricht gegen die Einschüchterungstheorie. Sie setzt auch voraus, dass die News Corp Cameron eine Agenda nahelegt, die nicht seinen Überzeugungen entspricht. Aber dafür gibt es keine Anhaltspunkte; im Gegenteil: Die rechtslastigen politischen Instinkte der Murdoch-Presse entsprechen weitgehend der autoritär-marktextremistischen, neothatcheristischen Agenda der Regierung. (vgl. ak 555)
Entsprechend überkreuzen sich die Interessen beider Seiten: Im Sommer 2009, noch unter der Regierung Brown, hielt James Murdoch eine viel diskutierte Rede, in der er die vermeintliche Dominanz der gebührenfinanzierten BBC anprangerte und die Regulierungsinstitution Ofcom angriff. Gleichzeitig wollten die Murdochs ihr Imperium in Großbritannien durch die vollständige Kontrolle von BSkyB absichern. Nun stehen Marktliberalisierung und die Untergrabung öffentlicher Institutionen ganz oben auf der Agenda der Tory Party. Und David Cameron brauchte Presseunterstützung im Wahlkampf. Insofern spricht viel für die Existenz eines informellen Bündnisses.
Neoliberale Bestrebungen im Abschlussstadium
Angesichts der medialen Aufregung um die Abhöraffäre rückt in den Hintergrund, dass die Regierung weiterhin ihr Projekt einer grundsätzlichen Verschiebung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft verfolgt. Dies wurde noch einmal in einem Weißbuch bekräftigt, das die Regierung auf dem Höhepunkt der Abhöraffäre Mitte Juli vorlegte: Ihr mittelfristiges Ziel bleibt es, den gesamten öffentlichen Sektor für private Anbieter zu öffnen; lediglich die Kernbereiche von Streitkräften, Polizei und Justiz sollen verschont blieben. Der Journalist Neil Clark kommentierte, dass das „neoliberale Streben nach einem vollständig privatisierten Großbritannien in sein Abschlussstadium eintritt“.
Entsprechend kündigte die Regierung etwa zur selben Zeit an, bislang durch den staatlichen Gesundheitsdienst erbrachte Leistungen im Wert von einer Milliarde Pfund zu privatisieren.
Grundsätzlich offenbaren die Verstrickungen zwischen der Führungsspitze der Tory Party und der News Corp sicherlich eine Krise der britischen Demokratie und verweisen darüber hinaus auch auf eine existenzielle Gefahr für kapitalistische Ordnungen: Sind ökonomische und politische Herrschaft nicht unterscheidbar, gibt es tendenziell weder eine Marktwirtschaft noch einen Rechtsstaat. Und damit sind die Produktionsverhältnisse grundsätzlich gefährdet. Nun bedeutet der neothatcheristische Kurs der Regierung allerdings, dass eine Trennung der Herrschaftsebenen in Zukunft tendenziell noch schwerer aufrecht zu erhalten ist. Camerons Vorgehen gleicht also dem Löschen eines Brandes bei gleichzeitiger Entfernung von Brandschutzmaßnahmen. In Großbritannien schwelt eine ökonomische wie auch politische Dauerkrise.
Wie aber reagieren regierungskritische politische Kräfte auf die Situation? Auf der politischen Bühne scheint die Labour Party erstmals seit der Wahl im Mai 2010 Aufwind zu verspüren: Parteichef Ed Miliband nutzt die Gunst der Stunde, um Cameron recht offensiv anzugehen, und sammelt damit offensichtlich bei der Bevölkerung Punkte. Eine Grundsatzdebatte um die Zersetzung der Demokratie durch den Neoliberalismus kann allerdings schon deshalb nicht von Labour angestoßen werden, weil die Regierungen Blair und Brown weitreichend an der „Neoliberalisierung“ Großbritanniens beteiligt waren. Die Partei würde sich sofort des Vorwurfs der Heuchelei und der Unglaubwürdigkeit aussetzen.
Entsprechend kritisiert die Labour-Führungsspitze den Regierungskurs – allerdings im halbherzigen Stil des „Ja, aber“. Ihr Verhältnis zu den Massenmobilisierungen gegen Kürzungen im öffentlichen Sektor ist zwiespältig. Zwar trat Miliband auf einer Großdemo im März in London auf, an der nach Presseangaben mehr als eine viertel Million Menschen teilnahmen. Im Juni aber distanzierte er sich von einem Streiktag der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gegen die Anhebung des Rentenalters und die Kürzung der Renten, an dem wiederum Hunderttausende im ganzen Land beteiligt waren.
Milibands Herumeiern zum Trotz regt sich also durchaus Widerstand innerhalb der Bevölkerung, der von den Gewerkschaften sowie von aktivistischen Kreisen koordiniert wird. Wichtig dabei ist, dass beide Seiten inzwischen versuchen, zu einem gemeinsamen Agieren zu finden. Denn der Protest ist umso wirksamer, wenn es gelingt, die Mobilisierungskraft der Gewerkschaften mit der Fähigkeit der AktivistInnen zur Erzeugung von Medienaufmerksamkeit zu bündeln.
Dem Protest fehlt ein positives politisches Projekt
Nachdem die für britische Verhältnisse erstaunlich militanten Studierendenproteste mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Verdreifachung der Studiengebühren erst einmal abgeebbt sind, hat die Kampagne UK Uncut für Aufsehen gesorgt. Ausgangspunkt war die auch für konservativ-kleinbürgerliche Milieus kaum abzulehnende Forderung, dass auch Großkonzerne ihre Steuern zu entrichten haben – und dass sie an deren Hinterziehung bzw. am Ausnutzen von Schlupflöchern gehindert werden müssen.
Dank Enthüllungen des Guardians bezüglich der Umgehungspraktiken einschlägiger Telekommunikationskonzerne, Bekleidungsketten sowie Großbanken fand sich schnell ein geeignetes Feld für effektive Protestaktionen. Dabei stellten die UK Uncut-AktivistInnen den Zusammenhang zwischen der Steuerfrage und dem Kürzungsprogramm der Regierung her: Sie besetzten Banken sowie Mobilfunk- und Klamottenläden kurzerhand während der Öffnungszeiten und widmeten sie kurzzeitig in selbstverwaltete Schulen, Universitäten und Gesundheitszentren um. Somit wurde es möglich, die Ausgangsfrage zu radikalisieren und die üblichen Grenzziehungen zwischen Privat-, Staats- und öffentlichen Eigentum anzufechten.
Auf zwei anderen Feldern haben Proteste aus der Bevölkerung bereits kleine Erfolge zu verbuchen. Erstens machte die Regierung ihren Plan rückgängig, die Wälder im Staatsbesitz zu privatisieren, weil sich schnell ein breites Antiprivatisierungsbündnis bildete, das so unterschiedliche Gruppen wie die Landschaftsschutzorganisation National Trust und die trotzkistische Socialist Workers Party zusammen brachte. Zweitens wurden Pläne zur umfassenden Umstrukturierung und Privatisierung des nationalen Gesundheitsdienstes zumindest abgebremst, als deutlich wurde, dass man sämtliche im Gesundheitsbereich tätigen Berufsgruppen gegen sich aufgebracht hatte.
Es sei aber auch festgehalten, dass der Protestbewegung ein positives politisches Projekt wie auch ein Sprachrohr auf der politischen Bühne fehlt. Somit wird es schwierig, Darstellungen in Regierungsverlautbarungen und in der Rechtspresse entgegenzutreten, die die Bewegung als Destruktivkraft beschreiben, die sich vermeintlich unausweichlichen Restrukturierungsmaßnahmen in den Weg stellt. „We have heard no alternative“, spottete Margaret Thatcher einst.
Nun ist es durchaus möglich, dass die Regierungskoalition auseinanderbricht – z.B. aufgrund der durch die Kürzungsmaßnahmen weiter geschwächten Wirtschaft, die seit einem Dreivierteljahr stagniert. Aber dann droht eine Labourregierung, die allenfalls eine Entschleunigung der bereits in Gang gebrachten Umstrukturierungsmaßnahmen anbietet. Und das könnte durchaus ausreichen, um Teile der Gewerkschaften wieder einzubinden.
Fazit: An den Sommer in Großbritannien sollte man keine allzu hohen Erwartungen stellen – insbesondere dann, wenn man an mediterrane Hochwetterlagen gewöhnt ist. Aber bekanntlich ist Meteorologie eine unpräzise Wissenschaft.
Alexander Gallas