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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 563 / 19.8.2011

AKP: Wolf im Schafspelz

Verschärfte Repression in der Türkei. Die andere Seite der Erdogan-Regierung

Nach der Parlamentswahl in der Türkei am 12. Juni 2011 überschlagen sich die Ereignisse. Zum dritten Mal in Folge ging aus ihr die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, als Siegerin hervor. Sie erhielt 49,8% der Stimmen. Während die internationale Aufmerksamkeit sich aktuell auf den Rücktritt der Armeeführung richtet, intensiviert die wiedergewählte AKP-Regierung nahezu unbeachtet die „Terrorbekämpfung“.

Mit dem Lob für die „Demokratisierung“ im Rücken sind in der Türkei Massenprozesse gegen politische OpponentInnen und monatelange Inhaftierungen ohne Anklagen zur normalen Rechtspraxis geworden. Selbst die Ergenekon-Prozesse (vgl. ak 543) gegen hochrangige Offiziere und ZivilistInnen wegen Putschplanungen sind zu einem Instrument geworden, um die partielle Aussetzung des Rechts zu legitimieren und von der Ausweitung der Repression abzulenken. Ganz oben auf der politischen Agenda steht die Zerschlagung der kurdischen Bewegung und mit ihr verbündeter linker Kräfte.

Der dabei angeschlagene Ton wurde jüngst erheblich verschärft. Anlass war eine militärische Operation gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Silvan, bei der 13 Soldaten und zwei Guerilleros umkamen. Silvan sei ein Wendepunkt, ließ Ministerpräsident und AKP-Vorsitzender Tayip Erdogan die Öffentlichkeit wissen: Die „Böswilligen“ hätten von der Regierung keinen guten Willen mehr zu erwarten. In Zukunft werde zur Herstellung der inneren Sicherheit mehr Polizei statt Armee zum Einsatz kommen.

Dass der Vorfall einen tatsächlichen Wendepunkt darstellt, muss bezweifelt werden. Vielmehr kündigt er eine neue Stufe eines laufenden Prozesses an. Aktueller Hintergrund sind die Parlamentswahlen vom Juni. Die „Böswilligen“, von denen Erdogan sprach, das sind die Abgeordneten des „Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ – einem Wahlbündnis aus sozialistischen Gruppierungen, Einzelpersonen und der in den kurdischen Regionen verankerten Partei für Frieden und Demokratie (BDP). (1)

Verschärfter Druck nach den Wahlen im Juni

Das Bündnis hatte trotz massiver Behinderungen mit 36 Abgeordneten ein Ergebnis erzielt, das alle Erwartungen übertraf. Die Freude über die Zurückdrängung der sich in den kurdischen Gebieten auf islamistische Gruppierungen und kurdische UnternehmerInnen stützenden AKP währte jedoch nur kurz. Sechs Abgeordnete, die aus der Untersuchungshaft heraus kandidiert hatten, in der sie unter höchst fragwürdigen Anklagen wegen „Terrorismus“ seit mehr als zwei Jahren festgehalten werden, wurden trotz ihrer Zulassung als KandidatInnen nach der Wahl nicht aus der Haft entlassen.

Einem weiteren Abgeordneten des Blocks wurde das Mandat auf Antrag eines AKP-Mitglieds der Wahlbehörde mit fadenscheiniger Begründung entzogen. (2) Die Nachrückerin gehört der AKP an, wodurch die Partei der knapp verfehlten, Verfassungsänderungen ermöglichenden 3/5-Mehrheit schon näherkommt.

Aus Protest gegen diese Missachtung des Wählervotums boykottieren die verbliebenen Block-Abgeordneten das Parlament. Doch ihre Forderung nach Rückgabe des Mandats und einer klaren Regelung für die Entlassung der Inhaftierten wird ignoriert. Stattdessen droht die AKP mit ihrer Mehrheit mit dem Entzug der Mandate aller Block-Abgeordneten und Nachwahlen, womit ihr weitere Sitze und die 3/5-Mehrheit so gut wie sicher wären.

Den Block-Abgeordneten bleibt nun nur die Wahl, entweder ohne die Inhaftierten ins Parlament einzuziehen, womit sie die Regierung in ihrer kompromisslosen Haltung noch bestärken würden, oder sie richten ihre Kräfte auf die Organisation einer außerparlamentarischen Opposition.

Für diesen Weg außerhalb des Parlaments in Ankara gibt es einen Namen: „Demokratische Autonomie“. Sie wird seit Jahren als Alternative zu einem unabhängigen kurdischen Staat diskutiert, umfasst Forderungen nach regionalen Selbstverwaltungsrechten, Veränderungen in der Definition der Staatsbürgerschaft sowie einer Demokratisierung von unten. Die vorwiegend kurdische Dachorganisation Kongress für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) rief just am Tag des Vorfalls in Silvan die „Demokratische Autonomie“ aus. Konkrete Schritte sind bislang ausgeblieben.

Dass sie auf alles andere als einen guten Willen stoßen werden, zeigt die Inhaftierung von mehr als 2.000 MenschenrechtsaktivistInnen und JournalistInnen, von BürgermeisterInnen, MandatsträgerInnen sowie FunktionärInnen der BDP, die allesamt unter die Anklage des Terrorismus gestellt und der Mitgliedschaft in der PKK-nahen Untergrundorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK) bezichtigt werden. Begonnen hatte diese Verhaftungs- und Prozesswelle nach den Kommunalwahlen 2009, bei denen die kurdische Partei große Erfolge erzielt hatte. Die von Polizei und Staatsanwaltschaft durchgeführten, von der Regierung angefeuerten „KCK-Operationen“ dienen offensichtlich der Eindämmung dieses Erfolgs.

So, wie der Erfolg bei den Wahlen 2009 eine heftige Reaktion auslöste, geschieht es auch nach den jüngsten Wahlen. Mit dem verstärkten Einsatz der aufgerüsteten Polizei beschreitet die Regierung ausgetretene Pfade, kündigt gleichzeitig eine schärfere Gangart an. Staatsanwaltschaften und Polizei kümmern sich auf der Grundlage von Terrorbekämpfungsgesetzen um die legale Opposition: Proteste werden häufig bereits im Keim erstickt, als „Terrorismus“ und „Faschismus“ gebrandmarkt (3) und mit hohen Haftstrafen belegt.

AKP-Regierung kündigt schärfere Gangart an

Treffen kann es jeden. Für kostenlose Bildung demonstrierende Studierende, gewerkschaftlich Organisierte, Protestierende gegen den Bau von Wasserkraftwerken ebenso wie kritische JournalistInnen und AkademikerInnen, die sich plötzlich auf derselben Anklagebank wiederfinden wie hohe Offiziere, die einen Putsch geplant haben sollen. Während alle Welt die AKP für ihren liberalen Reformeifer auf dem Weg in die EU wie für ihre Haltung gegenüber dem Militär feierte, richtete sie mit Sondervollmachten ausgestattete Gerichte ein (2004), verabschiedete ein restriktives Strafrecht (2005) (4) und verschärfte die Terrorbekämpfungsgesetze (2006).

Die organisierte kurdische Bewegung trifft es besonders hart. Zu Beginn der AKP-Regierung war diese Entwicklung kaum voraussehbar. Die PKK hatte einen Waffenstillstand erklärt. Eine politische Lösung nach 20 Jahren Krieg schien möglich. Dass sie den Ausnahmezustand aufhob, wurde der AKP hoch angerechnet, auch wenn dieser Schritt bereits vor ihrem Regierungsantritt beschlossen worden war. Als Erdogan 2005 eingestand, dass alle Versuche, die kurdische Frage mit Gewalt zu lösen, gescheitert seien und eine Korrektur in Aussicht stellte, weckte er Hoffnungen bei vielen.

Im Kontrast zu den türkisch-nationalistischen Parteien erschien der moderate Islam der AKP als gangbarer Weg zur Beendigung des Krieges. Die auf Erdogans Worte folgenden Taten waren jedoch enttäuschend. Ein paar symbolische Zugeständnisse, wie die Eröffnung eines kurdologischen Instituts, waren alles, was die AKP zu geben bereit war. Die Eröffnung eines kurdisch-sprachigen Staatssenders wurde als „demokratische Öffnung“ vollkommen fehlinterpretiert. Sie war ein Versuch, den Einfluss PKK-naher kurdisch-sprachiger Sender einzudämmen.

Seit 2009 wird viel über „demokratische Öffnung“ geredet, während eine polizeiliche Operation die andere jagt. Die türkische Armee befindet sich unter dem Kommando der AKP im Dauereinsatz gegen die PKK. Seit Monaten mehren sich die Signale für eine grenzüberschreitende Großoffensive, womöglich zusammen mit der iranischen Armee, die seit Mitte Juli gegen die im Irak verschanzte PKK Krieg führt. (BBC, 18.7.11) Die PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF berichtet gar, dass türkische Sondereinheiten mit Billigung der nordirakisch-kurdischen Verwaltung und der USA an diesen Operationen beteiligt sind, wofür das internationale Stillschweigen über die iranischen Militäroperationen auf fremdem Staatsgebiet spricht.

Mit Terrorbekämpfung zur „Demokratischen Öffnung“?

Eine politische Lösung des Konflikts ist so weit entfernt wie zuletzt Mitte der 1990er Jahre, als die Regierung Sondereinsatzkommandos gegen die PKK und ZivilistInnen einsetzte. Die von der AKP organisierten Polizeieinheiten wecken Erinnerungen an diese Kommandos. In der regierungsnahen und auflagenstärksten Zeitung Zaman wird offen mit Verweis auf die Zerschlagung der Tamil Tigers von einem „totalen Krieg“ gesprochen. Die Konjunktur sei günstig, die EU-Staaten gerade mit ihren Krise beschäftigt, wodurch die Türkei freie Hand zur Lösung ihrer Probleme habe.

Wörtlich heißt es: „Die Neue Türkei wird diesmal dem Terror das Rückgrat brechen. Dieses Mal werden Ermächtigung, Verantwortung, Initiative bei der zivilen Regierung liegen. Menschenfressern, Banden und dunklen Mächten wird die Kontrolle entzogen. Zum ersten Mal wird der Kampf gegen den Terrorismus auf eine der ‚Großen Türkei‘ angemessene Weise geführt. Wenn diejenigen, die die Macht des Staates beeinträchtigen, eliminiert worden sind, werden Freund und Feind erleben, wozu die von einem zivilen Willen harmonisierte Polizei, Gendarmerie und militärische Sondereinheiten fähig sind.“ (Zaman online, 27.7.11)

Derartige Ankündigungen sind ernst zu nehmen. Zaman, die zu dem weltweiten Unternehmensnetzwerk um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen gehört, fungiert mit anderen Medien als Sprachrohr polizeilich-staatsanwaltlicher Operationen gegen OpponentInnen der Regierung.

Solch eine Aussicht lässt die bisherigen Operationen, die de facto einen Ausnahmezustand hergestellt haben, harmlos erscheinen. Eine legale kurdisch-sozialistische Opposition wird offensichtlich nicht geduldet. Einer der sozialistischen Block-Abgeordneten sieht dementsprechend die Ziele der Regierung darin, alle Wege zu beschreiten, um die von der „Kurdischen Freiheitsbewegung“ eingegangenen gesellschaftlichen Allianzen zu zerschlagen, „die totale Kontrolle über zivile Organisationen und Medien“ sowie ein „Monopol über alle Aufstandsbekämpfungsmechanismen“ herzustellen, um „den legitimen Boden für eine früher oder später notwendig werdende Aufteilung der Macht vorzubereiten, sich dann jedoch nicht mehr mit den Repräsentanten der Freiheitsbewegung an einen Verhandlungstisch setzen zu müssen, sondern direkt mit den lokalen Kapitalgruppen sowie deren Ideologen“. (www.ertugrulkurkcu.org, 31.7.11)

Nach einer nicht nur in der Türkei weitverbreiteten Meinung sind die türkische Justiz und Armee unkontrollierbare kemalistische Apparate, die den demokratischen Willen der politischen Regierung in ihren Ausführungen behindern. Angesichts der Aktionen und der Initiative der AKP-Regierung kann dies nur als politisch schwerwiegende Fehleinschätzung bezeichnet werden, die es ihr sehr einfach macht, den nun debattierten „finalen Schlag“ in aller Ruhe vorzubereiten und durchzuführen.

Versteckt hinter der notwendigen Kritik am Kemalismus und dem Militär ist in der Türkei ein politischer Wille Staat geworden, dessen repressive Grenzen nicht mehr sichtbar sind. Es wird höchste Zeit zu erkennen, dass die türkische Regierung den breiten Konsens, auf den sie in den letzten Jahren bauen konnte, für den konsequenten Ausbau ihrer Macht und der Repression nutzt.

Errol Babacan

Anmerkungen:

1) Anne Steckner/Corinna Trogisch: Parlamentswahlen in der Türkei, www.rosalux.de/publication/37612

2) Laut dem Verein zeitgenössischer Juristen (ÇHD) müsste Erdogan mit gleicher Begründung ebenfalls das Mandat entzogen werden.

3) „Unter dem Deckmantel der Demokratie praktizieren sie Faschismus“, so Erdogan über protestierende Studierende.

4) Möglich sind bei „politischen Straftaten“ Inhaftierungen von bis zu zehn Jahren ohne Gerichtsurteil. Unabhängige Berichterstattung zu Prozessen ist latent von Kriminalisierung bedroht.