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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 563 / 19.8.2011

Wir brauchen keine linken Zeugen Jehovas

Nach der Schlichtung ist vor dem Protest gegen Stuttgart 21

Im letzten Herbst lag Stuttgart im Zentrum des politischen Interesses, nachdem der Konflikt um den geplanten Bahnhof eskaliert war. Erst die Empörung über die Polizeigewalt ermöglichte in einer von Heiner Geißler moderierten Schlichtung eine Auseinandersetzung um Argumente und Fakten. Schon vor der Präsentation des damals verabredeten Stresstests war jedoch klar, dass Stuttgart ein heißer Herbst bevorstehen wird. ak sprach hierüber mit Peter Grohmann, Autor und Kabarettist, Mitbegründer des legendären Stuttgarter Club Voltaire und des Theaterhauses. Auf den wöchentlichen Montagsdemos verteilt er seinen Bürgerbrief und engagiert sich bei den von ihm gegründeten AnStiftern (www.die-anstifter.de).

ak: War es im Rückblick ein Fehler, sich auf die Schlichtung einzulassen?

Peter Grohmann: Nein, es war gut. Auch, dass die Parkschützer nicht mitgemacht haben. Sie waren sozusagen das außerparlamentarische Standbein. Wir haben mit der Schlichtung eine große Medienöffentlichkeit erreicht. Nicht nur durch Phoenix, sondern auch dank unserer eigenen Medien, z.B. fluegel.tv. Allerdings darf man das Ereignis auch nicht überschätzen.

Wie sieht es mit Geißlers Kompromissvorschlag aus?

Wir gehen davon aus, dass er sich mit der Kanzlerin abgesprochen hat. Selbst die Bahn wusste ja Tage zuvor Bescheid. Der sogenannte Kompromiss ist eher der Anfang vom Ende. Das prophezeien wir ja schon länger. Wenn S21 am Widerstand scheitert, wäre das ein Signal, das die politische Klasse nicht brauchen kann: Prestige- und Großprojekte können von Bürgerprotesten zu Fall gebracht werden. Der Abschied von S21 fällt leichter, wenn die Politik ihr Gesicht wahrt unabhängig davon, ob Geißlers Vorschlag machbar ist oder nicht.

Wie hat die Bewegung darauf reagiert? Zerlegt sie sich daran?

Die Bewegung ist nicht einheitlich. Sie umfasst alle möglichen Spektren und Weltanschauungen. Deshalb sind wir immer irgendwie gespalten. Geißlers Vorschlag wollen aber nahezu alle genauer prüfen.

Welche Rolle spielt hier die Gegenöffentlichkeit? Diffamierung der Proteste funktionieren ja nur, wenn man dem nichts entgegensetzen kann ...

Auf jeden Fall. Wir haben ja inzwischen eine ganz gute Gegenöffentlichkeit entwickelt. Nicht nur mit zwei Zeitungen, Filmen, Theaterstücken und Kabarett, also dem kulturellen Bereich, auch im Internet, auf facebook, auf der website der Parkschützer, wo sich 32.000 Leute eingetragen haben, oder mit fluegel.tv. Unsere selbst geschaffene Gegenöffentlichkeit ist aber bei weitem noch keine Gegenmacht.

In der öffentlichen Darstellung gibt es Gute und Böse. Hannes Rockenbauch gehört sicherlich zu den unartigen Buben. Er hat sich vor über einem Jahr an der Besetzung des inzwischen abgerissenen Nordflügels beteiligt. Damals war das Geschrei groß. Wie kann jemand, der im Stadtrat sitzt und ein Mandat hat, sich an derartigen illegalen Sachen beteiligen? Ein ähnliches Klima herrschte in der Schlichtung.

Welche Perspektive gibt es jetzt? Geht ihr jetzt aufs Land? Schließlich wird dort das Volksbegehren entschieden ...

Bisher muss man noch abwarten. Es ist noch nicht einmal klar, ob das Volksbegehren kommt. Zudem wird es ja nicht um Stuttgart 21 gehen, sondern nur um die finanzielle Beteiligung der Landesregierung. Klar ist, dass wir aber schlechte Karten haben werden.

Wir brauchen wohl 70 Prozent der Stimmberechtigten. Eine derartige Wahlbeteiligung haben wir bei keiner Landtagswahl. Die 30 Prozent, die man dann noch braucht, sind mehr, als bei der Landtagswahl Rot-Grün ermöglicht haben.

Viele sagen, dass das Begehren undemokratisch, die Landesverfassung in dieser Frage undemokratisch sei. Zudem kann man in Frage stellen, ob die Bedingungen, unter denen die Abstimmung stattfinden wird, überhaupt demokratisch sind. Wir werden ja materiell nicht auf gleicher Augenhöhe mit den Befürwortern sein nicht einmal, wenn wir eine gleiche Ausstattung mit Mitteln durch die Landesregierung durchsetzen können.

Ein Argument ist aber nach wie vor wichtig: Wenn die Mehrheit in der Stadt Stuttgart gegen S21 ist, dann stellt sich natürlich die Frage, ob gegen diese der Bahnhof gebaut werden kann und soll in welcher Form auch immer. Aber eine derartige Frage in die Öffentlichkeit zu bringen, ist sehr schwer.

Das heißt, der Protest geht so oder so weiter?

Die 300 Bäume werden nicht konfliktfrei fallen. Die Stuttgarter werden hier nochmals massiven Widerstand leisten, und die Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam geht wahrscheinlich noch weiter.

Auch in Wyhl oder Wackersdorf ist es in den 1970ern bzw. 80ern einem breiten Widerstand gelungen, ein AKW bzw. eine Wiederaufarbeitungsanlage zu verhindern. In Stuttgart hatten wir bereits eine Mobilisierungsfähigkeit von 60.000 bis 80.000 Leuten. Klar ist, dass man sich hier auf eine Machtprobe einlässt. Damit bleibt die Frage, wie wir es vermitteln können, dass wir über solche Schritte nachdenken, und wie wir derartige Fragen in der Bewegung diskutieren.

Was ist mit der Gewaltfrage?

Auf die Gewaltfrage wird sich hier niemand einlassen. Die Repression ist schon jetzt relativ hoch. Die Leute werden mit Prozessen überhäuft, mit Geldstrafen eingeschüchtert, und trotzdem wagen sich viele sehr weit vor. Klar wird das mal zu einer Gretchenfrage werden. Zentral wird aber der Impuls sein, was konkret in einer Situation passiert.

Für viele ist aber offensichtlich, dass die Vorgänge in Stuttgart nicht demokratisch sind. Die Frage ist deshalb: Trauen wir uns zu, uns diese Demokratie anzueignen. Artikulieren wir also den Anspruch, dass wir den Baustopp selbst machen und ihn auch durchsetzen. Oder zerstören sektiererische Gruppen diesen Ansatz, z.B. indem sie behaupten, dass im Kapitalismus Demokratie eh nicht möglich ist. Damit ziehen sie nämlich den Boden unter der legal und legalistisch ausgerichteten Bewegung weg. Natürlich sind diese Gruppen marginal, aber sie können natürlich auch medial dominieren, weil Medien sich immer auf gewalttätige Aktionen oder Vorfälle stürzen. Das zeigte sich ja auch bei den Polizeiprovokateuren am 20. Juni. Das hat Spuren hinterlassen.

Existieren in Stuttgart nicht zwei Parallelwelten?

Ja, aber auch deshalb, weil wir sehr stark mit uns selbst beschäftigt sind. Dabei verlieren wir oft die ganze Stadt aus dem Blick. Es müsste uns gelingen, die ganze Stadt zu erreichen und einen Zusammenhang zwischen S21 mit den vielen anderen Problemen herzustellen.

In der Stadt sind die Diskussionen schon sehr stark präsent, aber die Leute wehren sich eben auch. Man merkt, dass in Betrieben, Gewerkschaften oder Freundeskreisen die Fronten arg verhärtet sind. Wir müssen neue Formen der Auseinandersetzung finden.

Welche Rolle spielt die neue Regierung?

Die SPD steht ständig vor einer Zerreißprobe. Sie verweigert sich nach wie vor einer Mitgliederbefragung. Ich denke ja, dass die Mehrzahl der Sozialdemokraten inzwischen zu Gegnern geworden ist. Klar ist, dass man sich auf diese Regierung nicht verlassen darf. Wenn das Projekt noch gestoppt werden kann, dann durch die Bewegung.

Wie sieht das Verhältnis zum anhaltenden Zeitungsstreik aus?

Die Sympathie für den Streik ist in jedem Fall da, und sie ist bei uns auch größer als im sonstigen bürgerlichen Lager. Bei den zwei großen Zeitungen steht zwar die Herausgeberschaft für das Projekt S21. Die Redaktionen haben aber relativ freie Hand und sind in der Frage gespalten.

Das entstandene Vertrauensverhältnis mit den Streikenden und die Berichterstattung während des Streiks zeigen, dass die Streikbrecher zu den Befürwortern von S21 gehören. Umgekehrt haben die Streikenden eine kritische und differenzierte Position zum geplanten Bahnhof. Von daher findet man in der Bewegung auch die Bereitschaft, den Streik zu unterstützen.

Zeigt sich also am Streik, dass der Protest gegen S21 über sich hinauswächst?

Natürlich. Der kritische Blick auf den Bahnhof führt schnell zu grundsätzlicheren Fragen und anderen Themen. Es wird plötzlich gefragt, wie die Bedingungen sind, unter denen Journalisten arbeiten. Warum werden bestimmte Dinge abgedruckt? Etwa während des Streiks die Verlautbarungen der Bahn. Wenn die Redaktionen immer weiter ausgedünnt werden, ökonomischen Zwängen unterworfen werden, dann fehlt den Journalisten die Zeit für Recherche und Gründlichkeit.

Nochmals zu den neue Formen: Kommt linke Politik in Stuttgart an ihre Grenzen, weil die Losung Mach in meiner Organisation mit oder gründe deine eigene wenig Sinn macht?

In Stuttgart brauchen die politischen Prozesse viel Zeit. Viele sind ja nicht unbedingt politisch gebildete Leute. Sektiererische Gruppen blockieren deshalb durchaus oder arbeiten zumindest kontraproduktiv. Nicht unbedingt bewusst, sondern in dem Sinne, dass sie durch ihre Praxis spalten. Etwas pauschaler: Wenn man mit roten Fahnen aufläuft, dann dulden die Leute das zwar, aber sie stehen eben nicht hinter der roten Fahne. Warum auch?

Es gibt inzwischen eine breite Bereitschaft, sich auf die Straße zu setzen, an Blockaden teilzunehmen, auch mehr als einfache Regelverletzungen zu verantworten. Viele sind bereit, weit mehr zu machen als bisher, und haben einen Lernprozess hinter sich. Dieses Milieu irritiert es dann, wenn einzelne Gruppen den Widerstand, der ohnehin so uneinheitlich ist, vereinnahmen wollen.

Vor diesem Hintergrund muss man dann zunächst mal fragen, was links ist. Linke Gruppen haben in den letzten Jahrzehnten kaum eine Rolle gespielt. Natürlich wurden Bewegungen oder Streiks von ihnen benutzt. Aber es waren immer die undogmatischen Kräfte, die als Motoren fugierten, die Kreativität und die Phantasie beflügelt haben, diejenigen, die offen für neue Strukturen und Ideen waren, Graswurzel-Ansätze und Initiativen, die auf Selbstorganisierung setzen.

Was bedeutet das praktisch?

Wir bieten zum Beispiel Möglichkeiten mitzumachen, sich einzubringen. Um ein Bild zu gebrauchen: Es ist wie ein Lokal, das man aufsuchen kann oder eben nicht. Man hat keine Verpflichtungen, muss sich nicht langfristig oder gar sein Leben lang binden wie etwa bei den Gewerkschaften oder der Kirche und weder ideologisch noch zeitlich.

Linke bilden heute eher Projekte und Arbeitsgemeinschaften. Als unsere Aufgabe verstehen wir, zusammen mit allen Menschen, die sich politisiert haben, weiter bei der Stange zu bleiben, kritische Bürger zu bleiben.

Ihr stellt euch nach einer großen Demo also nicht die Frage, wie ihr all die Leute einbinden könnt?

Die Frage ist mir zu instrumentalistisch. Alle, die sich irgendwo und irgendwie bewegen, machen ja schon Politik. Wir müssen sie nicht dazu bringen. Es müsste vielmehr darum gehen, die organisatorischen Zusammenhänge, wie etwa das Aktionsbündnis, die Parkschützer oder die Anstifter, so attraktiv zu machen, dass Leute bereit sind mitzumachen. Einfaches Beispiel wäre, wenn die Leute nicht zum Copy-Shop gehen müssen, sondern unsere Infrastruktur nutzen. Man kann Räume für Treffen anbieten etc. pp. Aber in so Räumen trifft man dann eben auch Leute, Gleichgesinnte. Aber eben nicht im klassischen Sinne, links oder rechts, oben oder unten. Sondern gleichgesinnt in dem Sinne, dass sie mit dir politisch tätig sind. Es bilden sich Unterstützungsgruppen für den Juchtenkäfer, aber auch Arbeitsgruppen, die den Zeitungsstreik unterstützen. Wenn der Streik beendet ist, findet sich vielleicht etwas Neues.

Wenn der Zugang abstrakter, theoriegebundener ist, Formen und Ideologien vorgegeben sind, dann merken viele, dass du als ein linker Zeuge Jehovas die Welt schon erklärt, alle Fragen scheinbar schon beantwortet hast. Damit fühlen sich viele unwohl und sind dann auch nicht bereit, sich einzubringen. Was schlecht ist.

Es ist doch irre, wie viel Talente, Potenzial, Kreativität und Bereitschaft der Protest gegen S21 hervorgebracht hat. Sie werden nur zu einem Bruchteil abgerufen und sie würden eigentlich ausreichen, um die ganze Gesellschaft auf den Kopf zu stellen und das ist ja auch meine große Hoffnung.

Interview: Ingo Stützle