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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 563 / 19.8.2011

Der Oberst in seinem Labyrinth

Das politische System Gaddafis und die Perspektiven der Aufständischen

Auch fünf Monate nach Beginn der NATO-Bombardements und beinahe 200 Tage nach Beginn des Aufstands sind Informationen über die Situation in Libyen Mangelware. Das überrascht, denn Libyen hat sich nach Jahren der Abschottung im letzten Jahrzehnt an den Westen angenähert. Auch wirtschaftlich ist das Land eng mit Europa und den USA verbunden. Die libyschen Ölhäfen liegen in günstiger Entfernung zu den europäischen Raffinerien. Ein Überblick über das politische System Gaddafis und die Situation in den befreiten Gebieten.

Die Arbeit ruht, die Schulen sind geschlossen, die meisten Unternehmen auch. Das tägliche Leben in den östlichen libyschen Landesteilen steht praktisch still. Wie es weitergehen soll, darüber scheint sich auch mehrere Monate nach Beginn des Aufstands niemand Gedanken zu machen, berichtet Hannah Wettig. Sie hat im Mai für einige Wochen die Stadt Bengasi besucht. Damals lag eine Stimmung der Euphorie über der Stadt, die alles andere überlagerte, erzählt sie. Die Menschen sind offen, neugierig und vor allem glücklich und dankbar, dass sie Gaddafi erstmal los sind. Was danach kommt? Es wird sich schon alles zeigen. Diesen Satz habe sie während des Aufenthalts in Bengasi wahrscheinlich am häufigsten gehört.

Schrille Outfits und schräge Auftritte

Der Verrückte von Tripolis, wie Muammar al-Gaddafi in den Medien bisweilen tituliert wird, zählt zu den bizarrsten Gestalten auf der internationalen politischen Bühne und das Wort Bühne liegt nahe, führt man sich die Outfits und Auftritte des libyschen Revolutionsführers vor Augen. Doch Gaddafi ist mehr als ein Abziehbild. Seine 42-jährige Erfolgsgeschichte ist Ergebnis geschickter Manöver in einem ungewöhnlichen politischen System. Und sie ist eng mit dem libyschen Erdöl verknüpft.

Die politische Karriere des Oberst Gaddafi begann im September 1969. Damals putschte der junge Offizier mit einer Gruppe Getreuer, den Freien Offizieren, gegen König Idris I., der seit der Unabhängigkeit 1951 Staatsoberhaupt der konstitutionellen Monarchie und zugleich Oberhaupt des islamischen Sanussi-Ordens war.

Bei seiner Unabhängigkeit im Jahr 1951 galt Libyen als tristes Fleckchen Wüste. 1912 hatte Italien das Land vom Osmanischen Reich erobert, 1934 zur Kolonie erklärt. Im Zweiten Weltkrieg war Libyen Schlachtfeld zwischen italienischen und deutschen Truppen und britischen Alliierten. Nach dem Krieg stand es unter UN-Verwaltung. 85 Prozent der Landesfläche sind von der Sahara bedeckt, es gibt keinen einzigen ständigen Fluss; Landwirtschaft war unter diesen Bedingungen nur schwer zu betreiben. Als Libyen in die Unabhängigkeit entlassen wurde, lebten ca. zwei Millionen Menschen im Land, die Mehrheit als Beduinen.

Die Situation änderte sich durch die Entdeckung großer Ölvorkommen in den 1950ern. Bei der Exploration ging Libyen neue Wege: Statt nur ein einziges Unternehmen mit der Förderung zu beauftragen, verteilte es zeitlich begrenzte Konzessionen an mehrere internationale Konzerne. Indem Gaddafi die verschiedenen Unternehmen gegeneinander ausspielte, gelang es ihm schon 1970, den Ölpreis deutlich zu erhöhen. Ab 1971 begann er damit, einzelne Unternehmen zu verstaatlichen. Nach und nach wurde die Libyan National Oil Company zum wichtigsten Akteur auf dem libyschen Ölmarkt.

Diese Strategie wurde zum Modell für andere erdölexportierende Länder. In dem Maße, wie die Macht der großen Konzerne sank, wuchs der Einfluss der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) auf Fördermenge und Preis des Öls.

Die Staatseinnahmen stiegen sprunghaft an. 1979 nahm Libyen fünf Mal so viel ein wie zehn Jahre zuvor. Doch in den 1980er Jahren führte Gaddafi das Land durch seine politischen Manöver in die Isolation. Die libysche Wirtschaft litt unter dem sinkenden Ölpreis, unter kostspieligen Kriegen, Missmanagement und internationalen Export-Sanktionen. Es kam zu Protesten, die brutal niedergeschlagen wurden. Blutiger Höhepunkt der Repression war das Massaker an Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Abu Salim nahe Tripolis, die 1996 mit einer Revolte gegen ihre Haftbedingungen protestiert hatten. Gaddafi ließ 1.200 der Insassen hinrichten.

In den 2000er Jahren näherte sich Gaddafi dem Westen wieder an. Nach den Anschlägen vom 11. September verkündete er die Unterstützung der USA im Kampf gegen den Terrorismus. Der EU empfahl er sich als Hilfssheriff gegen Flüchtlinge, die Europa über das Mittelmeer erreichen wollten. Die Annäherung an den Westen wurde von einer wirtschaftlichen Liberalisierung begleitet. Gaddafi lockerte Importkontrollen und Reisebeschränkungen. So entstanden ein kleiner Privatsektor und Ansätze einer bürgerlichen Klasse. BeobachterInnen wie die Journalistin Helen de Guerlache berichteten Mitte der 2000er Jahre von neuen gesellschaftlichen Freiheiten. Überall entstünden Internetcafés, das Land erlebe einen wahren Konsumrausch. (le monde diplomatique, 7.7.06)

Nachdem die Sanktionen gegen Libyen Ende 2003 ausliefen, vergab das Land Explorationslizenzen für neue Ölfelder an ein Dutzend internationaler Unternehmen. Die standen bereits Schlange, obwohl die libysche Führung kräftig abschöpfte. Doch anders als in den 1960ern sind die Konzerne heute auf gute Zusammenarbeit mit den Staatsunternehmen der Förderländer angewiesen, die den Zugang zum knapper werdenden Öl kontrollieren. Die Förderländer wiederum brauchen die Ölkonzerne für die teure und technologisch aufwändige Exploration der Felder. Keine Seite kann auf Dauer ohne die andere.

Libyen hat jedenfalls nominell das höchste Pro-Kopf-Einkommen des afrikanischen Kontinents, und auch beim Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen, in den auch die Lebenserwartung und der Zugang zu Bildung einfließen, liegt Libyen unter den afrikanischen Ländern vorn. Dennoch kommt vom Reichtum kaum etwas bei der Bevölkerung an dafür umso mehr beim Gaddafi-Clan, der sich schamlos bereichert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, weil im Ölsektor und bei größeren Infrastrukturprojekten vor allem Fachkräfte aus den USA, Europa und Indien arbeiten; die Drecksarbeit wird von GastarbeiterInnen aus anderen afrikanischen Ländern erledigt. In der Vergangenheit gab es mehrfach Ausschreitungen libyscher Arbeitsloser gegen afrikanische GastarbeiterInnen.

Gaddafis geschickte Politik mit dem libyschen Öl

Als Gaddafi an die Macht kam, propagierte er eine islamisch-sozialistische Volksdemokratie, die Jamahiriyya. Politische Parteien waren verboten. Stattdessen sollte sich die gesamte erwachsene Bevölkerung in lokalen Basis-Volkskongressen organisieren. Höchstes legislatives Organ ist der Allgemeine Volkskongress, der sich aus 2.700 Delegierten der lokalen Volkskongresse zusammensetzt. Das Nationale Volkskomitee stellt eine Art Kabinett dar. Lokale Komitees in Unternehmen, Universitäten und im Stadtteil sind für das Funktionieren des Alltags zuständig zumindest offiziell. Doch die Komitees, die das tägliche Leben regeln sollen, werden von sogenannten Revolutionskomitees auf ihre Linientreue kontrolliert. Da die politische Linie von Revolutionsführer Gaddafi schwer zu berechnen ist, ist aktives Gestalten in den Komitees riskant: Wer seinen Mund aufmacht, macht sich angreifbar.

Viele Angelegenheiten, die eigentlich in den Händen der Komitees liegen sollten, werden de facto von den Stämmen geregelt. Im Gegensatz zu den Lokalkomitees verfügen viele Stammesoberhäupter über ansehnliche finanzielle Budgets. Gaddafi erkaufte sich ihre Loyalität durch Geldgeschenke. Allerdings gibt es ein regionales Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost. Auch die Unterdrückung einer politischen Opposition habe den Einfluss der Stämme gestärkt, urteilt der libysche Schriftsteller Abd al-Moncif al-Buri: Ihnen fiel die Rolle der Vermittler zwischen dem Regime und der unzufriedenen Bevölkerung zu. (le monde diplomatique, 11.3.11)

Gaddafi selbst hat kein offizielles Amt inne und hält dennoch alle Fäden in der Hand. Wer sich von seinen ehemaligen Mitstreitern eine eigene Meinung erlaubte, wurde ermordet, landete im Gefängnis oder wurde auf politisch unbedeutende Positionen abgeschoben. Auf wichtige Posten setzte Gaddafi nach und nach seine Söhne ein. Erst im Oktober 2010 machte er Saif al-Islam zum Koordinator der Volksmacht und stattete ihn mit außerordentlichen Befugnissen über die Sicherheitsapparate aus.

Die Entwicklung der letzten Jahre war also widersprüchlich. Einerseits öffnete sich das Land, was Hoffnungen auf mehr politische und soziale Teilhabe nährte. Andererseits nahm die Machtkonzentration bei Gaddafis Familie und engsten Vertrauten zu. Für Protest und Veränderungen gab es weiterhin keine Möglichkeit. Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2010 wuchs der Unmut. Als die Aufstände in Tunesien und Ägypten losbrachen, war das wie ein Startschuss für die Proteste in den benachteiligten östlichen Landesteilen. Gaddafi ließ auf die DemonstrantInnen schießen, schickte Soldaten und Panzer und löste damit den Flächenbrand aus, den er nicht mehr kontrollieren konnte. Zahlreiche Stämme stellten sich auf die Seite der Protestierenden und riefen das Militär auf überzulaufen. Am 20. Februar war Bengasi in der Hand der Aufständischen.

Abgesehen von der euphorischen Grundstimmung fällt es nicht leicht, die Situation in der Stadt zu beschreiben, sagt Hannah Wettig. Die Bilder sind widersprüchlich. Da sind die Jugendlichen, die sich USA-Wimpel an die Motorräder hängen, um ihre Dankbarkeit für die Luftangriffe zu demonstrieren. Ihre Ausdrucksformen sind von westlichen Einflüssen geprägt: Rap für die Revolution, Graffiti, Facebook. Andererseits ist die Cyrenaika, deren Hauptstadt Bengasi ist, eine konservative Region und sehr religiös. In den 1990er Jahren war die Islamic Fighting Group in dem Gebiet aktiv. Heute redeten alle von Freiheit. Doch eine Umschreibung des Systems, das sie sich wünschen, höre man selten. Viele sympathisierten noch oder wieder mit der Monarchie von König Idris und mit dem Sanussi-Orden. Andere wünschten sich eine islamische Demokratie, ohne genauer sagen zu können, was sie sich darunter vorstellen.

Widersprüchliche Bilder aus Bengasi

Einigkeit bestehe darüber, dass es ohne das Eingreifen der NATO ein Massaker gegeben hätte. Gaddafi hatte angekündigt, dass seine Soldaten von Haus zu Haus gehen und die Stadt säubern würden. Die NATO hat uns gerettet das ist die allgemeine Stimmung, sagt Hannah Wettig. Dass es eine solche Hilfe nicht umsonst gibt, wüssten auch die meisten Menschen in Bengasi. Doch den Einsatz von Bodentruppen lehnen sie ab. Und wenn die NATO doch welche schickt, würde ich vermuten, dass sie sich auch gegen die NATO wehren werden.

Doch momentan ist der Nationale Übergangsrat, die offizielle Vertretung der freien Landesteile, auf gute Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen. Inwieweit er die Ziele der Aufständischen repräsentiert, ist schwer zu beurteilen. Er war zumindest zu Anfang vor allem mit Leuten besetzt, die aus dem alten Regime stammten. Gerade wird er umgebildet. Sein Programm scheint für den Westen formuliert, in der Bevölkerung ist es kaum bekannt. Innerhalb von zwei Jahren will er einen Verfassungsprozess und Wahlen organisieren. Er bemüht sich, möglichst schnell von möglichst vielen Ländern als Übergangsregierung anerkannt zu werden eine Voraussetzung, um zum Beispiel Entwicklungshilfe zu erhalten. Die wird dringend benötigt: Die Erdölanlagen sind zerstört, die ausländischen TechnikerInnen abgereist. Damit liegt die Ölförderung, die wichtigste Einnahmequelle, lahm.

Da es keine Parteien gibt, spielen die täglichen Versammlungen auf dem Tahrir-Platz von Bengasi eine große Rolle. Hier entsteht eine Art direkter Demokratie; die Vorstellung, dass man die Dinge lokal organisieren kann, liegt nach 40 Jahren ohne Parteien nahe. Frauen sind auf dem Platz allerdings kaum noch zu sehen, sagt Hannah Wettig. Anfangs waren sie geduldet, doch damit ist es vorbei. Stattdessen sind viele Frauen inzwischen in den Freiwilligenkomitees aktiv, die sich um die täglichen Angelegenheiten kümmern: medizinische Versorgung, Müllabfuhr etc. Außerhalb der Komitees gibt es kaum Orte, an denen sich Frauen treffen können. Restaurants und Cafés sind Männern vorbehalten.

Jan Ole Arps

Libyen im Überblick

Libyen ist das viertgrößte Land des afrikanischen Kontinents. Von den 6,4 Millionen EinwohnerInnen leben knapp drei Millionen in den drei großen Städten Tripolis, Misurata und Bengasi. Drei Viertel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre; die Arbeitslosigkeit junger Menschen liegt bei 20 bis 25 Prozent. Etwa 70 Prozent des BIP werden mit Erdöl und gas erwirtschaftet. Für Europa ist Libyen neben Algerien wichtigster Öl- und Gaslieferant. Außerdem ist das Land beliebter Startpunkt für Flüchtlinge nach Europa. Für schärfere Grenzkontrollen erhielt Libyen jährlich 50 Millionen Euro von der EU. Seit Beginn der Revolte ist die Zahl der MigrantInnen, die von dort per Boot in Richtung Europa starten, sprunghaft gestiegen.