Der permanente Ausnahmezustand
Bernd Greiner über 9/11 und die Folgen
Die ideologischen Folgen des 11. September 2001 sind kaum zu überschätzen: Die Behauptung, dass religiös motivierter Terror und Religionskriege im Namen Allahs die größte Gefahr für Freiheit und Zivilisation sind, steht wie ein Glaubensbekenntnis im Raum, eingängig wegen der radikalen Reduktion von Komplexität und tröstend zugleich, weil es den Blick auf irritierend andere Facetten erspart, schreibt Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung in seinem lesenswerten Buch 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen.
An der Verbreitung und Durchsetzung der These von der islamistischen Weltgefahr Nr. 1 haben viele mitgewirkt: George W. Bush und Peter Struck, US-amerikanische Fernsehsender und deutsche Lokalzeitungen, christliche FundamentalistInnen und neokonservativ gewendete Linke. Wie unhaltbar sie in Wirklichkeit ist, zeigt eine Bilanz der auf 9/11 folgenden Jahre. Die allermeisten Anschläge ereigneten sich in Afghanistan und im Irak, und die dortigen Kriege hatten nicht "Gotteskrieger" sondern die NATO bzw. die von den USA geführte "Koalition der Willigen" vom Zaun gebrochen.
Greiner bestreitet nicht, dass sich opferreiche Terrorakte wie die auf Bali (2002), in Madrid (2004) oder London (2005) "an jedem Ort der Welt" wiederholen können. Zugleich stellt er schon in der Einleitung fest, "dass der 'Krieg gegen den Terror' die Wahrscheinlichkeit künftiger Anschläge nicht reduziert, sondern erhöht hat". Er wendet sich aber auch gegen eine Dämonisierung von Al Qaida, indem er einen Experten für deren Medienpolitik zitiert: Wie "Kugelfische" hätten sich Al Qaida und Bin Laden aufgeblasen, "um größer zu erscheinen, als sie in Wahrheit waren". Von einer zentral gesteuerten islamistischen Internationale des Terrors, wie sie mitunter auch durch pseudo-linke Gazetten geistert, kann jedenfalls keine Rede sein.
Auch bei der Rekonstruktion der Vorgänge des 11. September hält Greiner sich an die Fakten. Wo Verschwörungstheoretiker schon die schnelle Identifizierung der Attentäter höchst verdächtig finden, zeigt er, wie diese möglich war: Reisende in den Todesmaschinen gaben per Handy die Sitznummern der Entführer durch; danach genügte ein Blick in die Passagierlisten. Generell sieht Greiner keinen Anlass, eine Mitwisserschaft oder gar Steuerung durch Geheimdienste in Betracht zu ziehen. Vielmehr sei die zeitgleiche Entführung von vier Flugzeugen und die völlige Zerstörung der Twin Towers nur durch eine "tragische Verquickung von Unwahrscheinlichkeiten" möglich geworden. So könnte es gewesen sein.
Der größere Teil des Buches ist den weltpolitischen Folgen des 11. September gewidmet. Der unmittelbar danach ausgerufene und bis heute andauernde "Krieg gegen den Terror" ist ein Präventivkrieg, in dem Beweise für terroristische Taten oder Planungen nicht gefragt sind. Verdächtige fallen unter Feindstrafrecht; ihnen werden elementare Rechte verweigert. Das Folterverbot wird umgangen, indem Folter umdefiniert wird in "extreme Handlungen", die bei dem Gefolterten "zum Tod führen, zu Organversagen oder zur dauerhaften Beeinträchtigung einer wesentlichen Körperfunktion". So steht es in einem - inzwischen zurückgezogenen - Memorandum aus dem US-Justizapparat von 2002.
"Durch Angst und Panik diktierte Regression?"
Greiner zeigt eindrücklich, wie sich dieser Apparat der Exekutive unterwarf und wie auch der US-Kongress durch Selbstentmachtung ein Regierungssystem ermöglichte, das der Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. imperiale Präsidentschaft nennt: Der Präsident und eine Handvoll BeraterInnen entscheiden, ob und gegen wen Krieg geführt wird - ein klarer Bruch der Verfassung, die dieses Recht dem Parlament vorbehält, außer im Notstandsfall. Zumindest für George W. Bush und seinen Inner Circle aber war dieser Notstand seit 9/11 gegeben. Die "Reduktion von Politik auf ein Freund-Feind-Verhältnis und die Verstetigung des Ausnahmezustands", schreibt Greiner, seien unter Bush zu Leitlinien der Politik geworden.
Einen Bruch mit dieser Politik sieht Greiner auch unter Obama nicht. Dessen Ankündigung, das Lager Guantanamo zu schließen, ließ sich bis heute nicht durchsetzen. "Harte Verhörmethoden" wie Waterboarding, das Gefangene in Todesangst versetzt, sind weiter an der Tagesordnung. Der Einsatz von Drohnen gegen Terrorverdächtige hat unter Obama sogar zugenommen: "60 derartiger Angriffe befahl Bush während seiner achtjährigen Amtszeit; 120 Drohnen wurden unter Obamas Verantwortung bis Oktober 2010 allein auf Ziele in Pakistan angesetzt."
Begründete Hoffnung auf eine Änderung zum Besseren gäbe es möglicherweise, wenn Greiner mit seiner an mehreren Stellen formulierten These recht hätte, Angst sei ein wesentliches Motiv des Machtzentrums in der Bush-Ära gewesen. Namentlich Vizepräsident Cheney habe nach dem fehlgeschlagenen Angriff auf das Weiße Haus bzw. das Capitol "um sein eigenes Leben und das seiner Kollegen" gefürchtet; bei der Reaktion auf den Terror habe es sich um "eine durch Angst und Panik diktierte Regression" gehandelt; "verängstigte Eliten ängstigten ihre Wählerklientel" usw. Panik könnte aber auch von einer realistischeren Einschätzung der Lage und einer weniger paranoiden Politik abgelöst werden - wenn sie denn wirklich die Grundlage der US-Anti-Terror-Politik sein sollte.
Die Gegenthese, dass die Regierung 9/11 als "Vorwand für die Realisierung lange gehegter Absichten" genommen habe, weist Greiner als "kurzsichtig" zurück. Wer gewohnt ist, Außen-, Militär- und "Sicherheits"politik auf materielle - ökonomische und/oder geopolitische - Interessen zurückzuführen, wird bei Greiner nicht fündig. Abgesehen von diesem Defizit ist sein Buch ein faktenreicher und damit wertvoller Beitrag zur Zeitgeschichte - und ein überzeugender Appell, den seit zehn Jahren geltenden Ausnahmezustand endlich zu beenden.
Js.
Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. C.H. Beck, München 2011. 280 Seiten, 19,95 EUR