Aufgeblättert
Katrina und der War on Terror
Dave Eggers erzählt in seinem neuesten Roman die wahre Geschichte der amerikanisch-syrischen Familie Zeitoun, die nach dem Hurrikan Katrina unschuldig ins Visier der US-Terrorismusfahnder gerät. Als der Hurrikan sich New Orleans nähert, beschließt Abdulrahman Zeitoun, Vater von vier Kindern, seine Familie Schutz in Arizona suchen zu lassen, selbst aber in der Stadt zu bleiben, um sein Haus und seinen Malerbetrieb im Auge zu behalten. In den Tagen nach dem Sturm fährt er mit seinem Kanu durch die überflutete Nachbarschaft und hilft, wo er kann. Wenige Tage später wird Zeitoun ohne Angabe von Gründen von der Nationalgarde festgenommen und 24 Tage lang ohne Anklage, ohne Anwalt und ohne Grund weggesperrt. Für seine Familie bleibt Zeitoun spurlos verschwunden. Erst nach Wochen erhalten seine Angehörigen auf Umwegen ein Lebenszeichen und beginnen, um Zeitouns Freilassung zu kämpfen. Die Story dieses Terror-Martyriums ist sorgfältig recherchiert, und der nüchterne Reportage-Stil wirkt umso stärker nach. An die Stelle der Empörung tritt hier ein akribisch rekonstruierter Hergang der Ereignisse. Die Darstellung Zeitouns in seiner unermesslichen Standhaftigkeit und Güte, die etwas naiv anmutet, hätte man sich vielleicht etwas gebrochener gewünscht. Dennoch kann man sich Eggers' Einfühlungsvermögen kaum entziehen und hört mit dem Lesen nicht auf, bevor der Roman viel zu schnell zu Ende ist.
Ute Meyer
Dave Eggers: Zeitoun. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2011. 367 Seiten, 19,95 EUR
Organisationskritik
Organisationen gab und gibt es nicht immer und überall, sie sind eine "historische Singularität modernen Regierens der menschlichen Kooperationsbeziehungen". Dennoch werden sie oft als alternativlos oder gar als nicht alternativwürdig angesehen. Den Zusammenhang von Organisation, Gesellschaft und Herrschaft behandelt ein Sammelband, der im Auftrag der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) herausgegeben wurde. Verschüttete kritische Traditionslinien werden freigelegt; der gegenwärtige Stand organisationstheoretischer Forschung wird diskutiert und auf konkrete politische Kämpfe bezogen, darunter wenig bekannte soziale Bewegungen wie das "Forum der Armen" in Thailand und die US-amerikanische Corporations-kritische Bewegung. Auf einheitliche Formen der Kritik und ein geteiltes Verständnis von Organisationen wird bewusst verzichtet. Dies führt dazu, dass ein klarer roter Faden fehlt. Der kleinste gemeinsame Nenner ist ein gesellschaftskritisches Selbstverständnis und die Analyse von Organisationen als spezifisch moderne Form der Herrschaft. Zumeist wird marxistisch argumentiert, auch Foucault und Max Weber spielen eine Rolle. Leider kommen andere kritische Traditionen zu kurz: Bei acht Aufsätzen männlicher Autoren und ohne feministische und queere Ansätze bleibt der Band in seiner Kritik traditionsverbunden. Trotzdem lohnt sich die Lektüre vor allem für Studierende und WissenschaftlerInnen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist besonders das Kapitel von Ronald Hartz interessant: Erstmals werden für die hiesige Diskussion die "Critical Management Studies" erschlossen. Diese haben inzwischen als "linke BWL" einen festen Platz in britischen Unis.
Stefan Kerber-Clasen
Michael Bruch/Wolfram Schaffar/Peter Scheiffele: Organisation und Kritik. Westfälisches Dampfboot, Münster 2011. 282 Seiten, 29,90 EUR
RAF als postfaschistisches Phänomen?
Nein, wirklich neue Erkenntnisse enthält dieses schmale Büchlein nicht. Die im Titel angekündigte Problematisierung der Roten Armee Fraktion (RAF) als ein Phänomen des sog. Postfaschismus erfolgt unvermittelt und nur an einigen wenigen Stellen. Stattdessen wird im weitesten Sinne chronologisch, und sauber mit Quellen versehen, die Geschichte der RAF nacherzählt: Ihre Entstehung aus einer bestimmten Lesart des Endes oder der Niederlage der Sozialrevolte von 1967/68, ihr manichäischer Antiimperialismus, das Avantgardedenken, das verkürzte Verständnis von Theorie und Praxis - all das erzählt Martin Kowalski nach und diskutiert es auch. Nebenbei skizziert er die Kette von Ereignissen grob. Sein Tenor: Die "unterkomplexe" Faschismusdiagnose der RAF legitimiert ihren eigenen minoritären Kampf. Der freilich auch gegen Akteure des Apparates geführt wird, die im Nationalsozialismus ausgebildet worden waren. Politische Motive spricht Kowalski der RAF ab, ihr Handeln sei vielmehr von einer zutiefst christlich geprägten Sehnsucht nach Erlösung, Schuld- und Ambivalenzfreiheit bestimmt, ihr Antizionismus ein verbrämter Antisemitismus gewesen. Diese Thesen werden nicht ausreichend begründet. Zeitlicher Schwerpunkt des Textes ist vor allem die erste Generation, bzw. der Zeitraum bis Herbst 1977. Wer sich schon mit der Geschichte der RAF beschäftigt hat, wird in dem Buch nichts Neues erfahren. Dagegen ist es für diejenigen, die sich noch nicht so sehr damit beschäftigt haben, eine annehmbare Einführung in diesen Abschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte - und der der Linken. Über die diskussionbedürftigen Thesen des Autors, etwa zum Antisemitismus der RAF, muss dann aber schon ein bisschen hinweggesehen werden.
Bernd Hüttner
Martin Kowalski: Die RAF als postfaschistisches Phänomen. Vergangenheitsverlag, Berlin 2011. 124 Seiten, 16,90 EUR
Theater der Unterdrückten
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn (vgl. Interview in ak 546) verarbeitet in seinem Buch "Tears into Energy" seine jahrelangen Erfahrungen als Theatermacher in Afghanistan. Er beschreibt den Alltag in Kabul, die Zusammenarbeit mit afghanischen KollegInnen und problematisiert den Beitrag ausländischer "EntwicklungshelferInnen" in einem Land, das 30 Jahre Krieg hinter sich hat. Dort mit Hilfe von Theater die Zivilgesellschaft zu stärken und die Menschen zur Initiative von unten zu ermutigen, ist ein hoher Anspruch. Als Mittel dient das von dem Brasilianer Augusto Boal entwickelte Theater der Unterdrückten (TdU), aber auch das Playback-Theater, bei dem professionelle SchauspielerInnen die von TeilnehmerInnen erzählten Erlebnisse nachspielen. Eine potenziell subversive Methode des TdU ist das Unsichtbare Theater: Dabei wird "ein in der Gesellschaft existierender Konflikt im öffentlichen Raum aufgeführt, ohne dass die dort anwesenden PassantInnen eingeweiht werden, dass es sich um ein Theaterstück handelt." Theater im geschützten Raum von Workshops dient vor allem der gemeinsamen Aufarbeitung von Traumata. Joffre-Eichhorn spricht von "schmerzlinderndem Kollektivismus": In der Gruppe gelingt es auch Opfern von Krieg und Gewalt leichter, schmerzhafte Emotionen zu ertragen. "Tears into Energy" - aus Trauer und Tränen neue Energie zu gewinnen, ist das Ziel. Das Buch ist nicht nur für Theaterbegeisterte interessant, es vermittelt auch teils verblüffende Einblicke in den Alltag eines Landes, das in Europa immer noch oft als hoffnungslos rückständig wahrgenommen wird.
Js.
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn: Tears into Energy. Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2011. 223 Seiten, 19,90 EUR