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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 564 / 16.9.2011

Und sie bewegt sich doch!

Lebenszeichen aus der israelischen Zivilgesellschaft

Ein arabischer Frühling macht noch keinen israelischen Sommer. Während in arabischen Ländern um mehr demokratische Freiheiten und Rechtstaatlichkeit gerungen wird, ist in Israel eine gewählte Regierung an der Macht, die das Land zielstrebig in eine genau entgegengesetzte Richtung führt. Doch zum Glück gibt es noch Überraschungen: Plötzlich gehen auch in Israel Hunderttausende auf die Straße, um für soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren und eine Eindämmung des neoliberalen Kapitalismus zu fordern, der sich in Israel seit den 1990er Jahren entwickelte.

Eine solche Mobilisierung für sozial- und wirtschaftspolitische Themen gab es in Israel noch nie. Die Demonstrationen am 3. September in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und anderen Städten mit insgesamt etwa 450.000 TeilnehmerInnen waren der größte Massenprotest in Israels Geschichte, knapp 6,5% der Gesamtbevölkerung waren auf der Straße.

Zumindest in dieser Hinsicht ähnelt die israelische Protestbewegung denjenigen in den benachbarten arabischen Ländern, und auch in Tunesien und Ägypten stehen Verteilungsfragen weit oben auf der Prioritätenliste der Revolutionäre. Weitere Ähnlichkeiten bestehen in der Nutzung interaktiver Onlinemedien zu Mobilisierungszwecken, in der demonstrativen Abkehr von etablierter Parteipolitik sowie in der Tatsache, dass in Israel wie in den arabischen Ländern junge Angehörige der gebildeten städtischen Mittelschichten die tragenden Säulen des Protestes sind.

Darüber hinaus gibt es nur wenige Gemeinsamkeiten, denn die Proteste in Israel thematisieren sozial- und wirtschaftspolitische Themen bislang in einem recht engen Sinn und lassen Fragen der Demokratie, Bürger- und Menschenrechte oder gar die Besatzung außer Acht. Ebenso wenig geht es um die Überwindung des Kapitalismus als solchem, sondern zunächst um konkrete Anliegen aus dem alltäglichen Leben wie bezahlbaren Wohnraum, ausreichende Kinderbetreuungsangebote, bessere Schulen, ein funktionierendes und bezahlbares Gesundheitssystem sowie ein Ende der Privatisierungen öffentlichen Eigentums und staatlicher Infrastruktur.

Eine politische Zuspitzung ist möglich

Einige an der Protestbewegung beteiligte Berufsgruppen, wie SozialarbeiterInnen und KrankenhausärztInnen, fordern eine deutliche Erhöhung ihrer Löhne und eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Auch ein Umdenken in der Steuerpolitik wird gefordert. Diese hat die soziale Spaltung der israelischen Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten massiv verstärkt: So werden Arbeitseinkommen (inklusive Renten) in Israel mit bis zu 57% des Bruttolohns recht hoch besteuert; dazu kommen indirekte Steuern und diverse Zusatzzahlungen für Dienstleistungen etwa im Gesundheitswesen. Demgegenüber werden Einnahmen aus Kapitalerträgen mit lediglich 20 bis 25% besteuert. Neun Zehntel der israelischen Bevölkerung beziehen über 90% ihrer Einkommen aus Löhnen und Gehältern. Die Einkommen des wohlhabendsten Zehntels hingegen bestehen zu 40% bis 70% aus Kapitalerträgen. (Haaretz, 21.8.11)

Im Grunde unterscheidet sich die Situation in Israel damit nicht von derjenigen in den meisten europäischen Ländern, wo mit Ausnahme Spaniens bislang keine vergleichbaren Bewegungen entstanden sind. Zu wünschen bleibt, dass die beeindruckende Mobilisierung in Israel gegen die Ergebnisse neoliberaler Politik ein Beispiel sein wird, das Schule macht.

Ein entscheidender Auslöser und Kristallisationspunkt dieser Protestwelle sind sicher die Kosten für Wohnraum, die in den letzten Jahren explodiert und für immer mehr Israelis kaum noch tragbar sind: Die durchschnittlichen Immobilienpreise innerhalb des israelischen Staatsgebietes stiegen zwischen 2008 und 2010 um 37%, im besonders beliebten Tel Aviv sogar um 46%! Auch die Mietpreise haben stark angezogen; allein zwischen 2008 und 2009 um durchschnittlich 15,3%. Über 30% der israelischen Bevölkerung wohnen derzeit zur Miete. Dies ist angesichts des fehlenden Mieterschutzes im israelischen Recht kein Zuckerschlecken: Mietpreisbindungen sind unbekannt, Mietverträge werden auf ein Jahr befristet abgeschlossen und müssen jedes Jahr neu verhandelt werden.

Betroffen von der Preisblase auf dem Immobilienmarkt sind schon lange nicht mehr nur die ärmeren Bevölkerungsgruppen, sondern auch die städtischen Mittelschichten sehen sich massiv in ihrem Lebensstandard bedroht. Die gegenwärtige Protestwelle spiegelt vor allem die Interessen und das Lebensgefühl dieser Bevölkerungsgruppe wider. Das Potential für eine politische Zuspitzung ihrer Forderungen ist durchaus gegeben. So druckte die Tageszeitung Haaretz (18.8.11) kürzlich den Aufruf eines Abgeordneten des Gemeinderates von Tel Aviv-Jaffa, die Protestierenden sollten nicht nur reden, sondern hunderte leerstehender Immobilien in der Stadt besetzen, um Druck auf die Politik auszuüben. Tatsächlich besetzten AktivistInnen in Tel Aviv und West-Jerusalem einige Häuser, wurden aber von der Polizei umgehend geräumt.

Viele TeilnehmerInnen an den Protesten berichten euphorisiert von einem neu entdeckten Sinn für Solidarität, von der Überwindung sozialer Fragmentierung und politischer Apathie, welche die Bewegung bewirkt habe. Manche behaupten gar, die Bewegung werde die ursprüngliche sozialdemokratisch geprägte politische Kultur des Landes wieder herstellen und die israelische Demokratie insgesamt retten.

Netanjahu versucht sich im Aussitzen

Für solchen Optimismus besteht allerdings bislang leider wenig Anlass. Zwar wurde die Regierung von den Protesten überrumpelt, doch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist ein Meister des Aussitzens. Prompt gründete er eine von PolitikerInnen und ExpertInnen besetzte Sonderkommission unter der Leitung des Ökonomen Manuel Trajtenberg, Professor an der Uni Tel Aviv, welche die Forderungen der Protestierenden prüfen und Empfehlungen zur Linderung der sozialen Verwerfungen formulieren soll.

Dieses Komitee wird von weiten Teilen der Protestbewegung zu Recht als Placebo wahrgenommen. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, der überzeugte Marktradikale Netanjahu werde plötzlich die Koordinaten seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik über den Haufen werfen. Dazu müsste schon eine neue Regierung her. Doch welche? Es gibt in Israel bis auf die aus der KP hervorgegangene und in der derzeitigen Knesset mit vier Sitzen nur schwach vertretene Hadash keine einzige Partei, die ernsthaft einen anti-neoliberalen Kurs vertritt. Hadash wiederum ist aufgrund ihres ausdrücklichen israelisch-palästinensischen Charakters und ihrer nicht-zionistischen Programmatik für die allermeisten Israelis nicht wählbar.

Dies gilt auch für die Masse der sozialen Protestbewegung, die sich ausdrücklich nicht mit "politischen" Themen befassen will - in Israel ein Codewort für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Dies mag zunächst ein taktischer Schritt sein, um möglichst viele Leute erreichen zu können und eine frühe Spaltung der Bewegung zu verhindern. Doch auf Dauer wird es unumgänglich sein, die Ursachen der genannten Probleme konkret zu benennen und politische Lösungen zu entwickeln.

Es ist hinreichend bekannt, dass die Besatzung und die dadurch maßgeblich angeheizte Konfrontation zwischen Israel und seinen Nachbarn in der Region Unsummen an Militärausgaben verschlingen, die ansonsten für andere Zwecke eingesetzt werden könnten. Ebenso bekannt ist, dass der Neoliberalismus der Regierung an den Grenzen des Staates Israel aufhört: In den besetzten Gebieten subventioniert der Staat massiv jüdische Siedlungen, etwa in Form von Infrastrukturmaßnahmen, Steuererleichterungen, billigen Krediten und staatlich gefördertem Wohnungsbau. So war der Staat zwischen 1994 und 2009 für knapp die Hälfte aller (israelischen) Bautätigkeiten dort verantwortlich. Im Landesdurchschnitt machte öffentlicher Wohnungsbau im selben Zeitraum nur etwa 20% aller Neubauten aus, und das unter Einbeziehung der Siedlungen in den besetzten Gebieten.

Vor einem heißen Herbst im Israel-Palästina-Konflikt

Im Klartext: Die letzten sechs israelischen Regierungen, während der Oslo-Jahre und danach, haben bewusst in den Ausbau der Siedlungen in den besetzten Gebieten investiert und dadurch eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes verhindert, während sie gleichzeitig den öffentlichen Wohnungsbau innerhalb des Staates Israel austrocknen ließen und so zu Wohnungsmangel und steigenden Preisen dort beitrugen.

Besonders deutlich ist diese Entwicklung in Tel Aviv-Jaffa, heute das teuerste Pflaster in ganz Israel. Dort findet seit 2006 überhaupt kein öffentlicher Wohnungsbau mehr statt. (Haaretz, 24.7.11) In dieser Region ist der Staat sogar aktiv an der Umwandlung staatlich geförderten Mietwohnraums in private Luxusapartments beteiligt. Da die soziale Schichtung in der israelischen Gesellschaft in bedeutendem Maß mit ethnisch-kulturellen Grenzen korreliert, ist es kein Zufall, dass unter dieser Politik vor allem Juden und Jüdinnen aus arabischen Herkunftsländern (Mizrahim) und PalästinenserInnen leiden, vor allem im Süden Tel Avivs und in Jaffa. Dabei geht es z.B. um alte arabische Gebäude, die 1948 von ihren BesitzerInnen verlassen wurden und seitdem vom Staat verwaltet werden. Oft wurden dort Mizrahim angesiedelt. Solche Gebäude werden nun luxussaniert und an wohlhabende Israelis oder Juden und Jüdinnen aus dem Ausland weiterverkauft, die orientalisches Flair zu schätzen wissen.

Heruntergekommene staatlich geförderte Wohnsiedlungen, die seit den 1950er Jahren neu gebaut wurden, sollen hingegen abgerissen und die Grundstücke anschließend an Investoren verkauft werden. In beiden Fällen werden die BewohnerInnen per Räumungsklagen aus ihren Wohnungen verdrängt, ohne ihnen Ersatz anzubieten.

Zwischen den Betroffenen dieser rabiaten Gentrifizierungspolitik haben sich überraschende politische Bündnisse gebildet, die bereits seit März dieses Jahres gemeinsam demonstrieren. Doch ihr Protest findet auf den Massendemonstrationen der vergangenen zwei Monate kaum Gehör. Ebenso wenig findet eine Solidarisierung mit den palästinensischen Kommunen in Israel statt, die in vielen Bereichen unter struktureller Diskriminierung seitens des Staates leiden und kaum über Bauland verfügen, seitdem der Staat sie in den 1950er und 1960er Jahren ihrer Ländereien beraubt hat, um diese dann an jüdische Kommunen weiterzugeben.

Die am Fuße des Carmel-Gebirges gelegene palästinensische Stadt Jisr al-Zarqa etwa leidet unter akutem Mangel an Wohnraum für junge Familien. Als das Innenministerium kürzlich signalisierte, Grundstücke von umliegenden jüdischen Kommunen an die Stadt übertragen und als Bauland deklarieren zu wollen, brach ein Proteststurm jüdischer Israelis in den benachbarten Orten los, die ihr Land nicht hergeben wollen und zudem den Wert ihrer Häuser in Gefahr sehen, wenn man auf der Terrasse plötzlich den Gebetsruf des Muezzin hören würde. (Haaretz, 28.8.11)

Was schließlich die Wohnungsnot von PalästinenserInnen in den Flüchtlingslagern der Westbank und Gaza oder in Ost-Jerusalem angeht, so ist die Protestbewegung noch weit entfernt davon, diese als Ergebnis desselben Systems zu sehen, das auch ihre eigenen Chancen auf ein gutes Leben zunichte macht.

Unterm Strich gibt diese Protestbewegung mit ihrer erstaunlichen Dynamik dennoch Anlass zur Hoffnung. Natürlich könnte man die Nase zu rümpfen ob der politischen Naivität und der ideologisch bedingten Scheuklappen der DemonstrantInnen. Doch noch ist nicht ausgemacht, ob die Bewegung sich nicht auch inhaltlich weiterentwickeln wird. Sollte dieser Herbst hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konfliktes tatsächlich so heiß werden, wie es sich bisher andeutet, wird die Bewegung Position beziehen müssen.

Achim Rohde