Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de
ak bei facebook

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 564 / 16.9.2011

Kampfterrain Geschichte

Meistererzählungen über die DDR taugen nicht zum Erkenntnisgewinn

Kommt in politischen und zeitgeschichtlichen Debatten die Rede auf die DDR, so dominieren retrospektive Großdeutungen (Meistererzählungen). Sie zielen weniger auf historischen Erkenntnisgewinn als vielmehr auf die Legitimation aktueller politischer Positionen. Während etwa dem Forschungsverbund SED-Diktatur, Teilen der Stiftung Aufarbeitung und dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig daran gelegen ist, die Geschichte der DDR ausschließlich als Diktaturgeschichte zu erzählen, greifen manche Linke nur zu gern jene Narrative und Bilder auf, die die DDR von sich selbst entwarf. Für eine linke Kritik der DDR taugen die historischen Meistererzählungen nicht.

In stets großen historischen Schuhen schritten die Propagandaclaqueure der SED daher, wo es um die geschichtsphilosophische Einordnung der DDR ging. Umstandslos erklärte sich die DDR zur legitimen Alleinerbin aller "fortschrittlichen und humanistischen Traditionen des deutschen Volkes", die die Geschichte der Arbeiterbewegung ebenso einschloss wie den antifaschistischen Widerstand in der NS-Zeit oder Ideale der Aufklärung.

Mehr noch: Alles Sehnen und Streben der fortschrittlichsten Geister Deutschlands aller historischen Epochen habe im "ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden" seine endgültige Erfüllung gefunden und die DDR allein die richtigen Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen. Die Hybris der geschichtsteleologischen Selbstlegitimation der DDR kannte keine Grenzen.

Antifaschismus: In besonders hohem moralischen Ton wurde über die NS-Zeit gesprochen. Mit der Einführung der sozialistischen Ordnung seien die Ursachen des Faschismus mit "Stumpf und Stiel" beseitigt, NS-TäterInnen bestraft und aus allen öffentlichen Ämtern entfernt worden.

Die Realität nahm sich banaler aus. Ohne Zweifel hatten sich viele besonders belastete NationalsozialistInnen aus Sorge vor dem Verfolgungsdruck der sowjetischen Besatzungsmacht und später der DDR-Behörden nach Westen abgesetzt.

Die DDR als Ort linker kleinbürgerlicher Traditionen

In der DDR verblieben jedoch genug NS-TäterInnen und -MitläuferInnen. Ihnen machte die SED mitunter großzügige Integrationsangebote, vor allem dann, wenn sie Berufsgruppen angehörten, an denen in der frühen DDR Mangel herrschte: bei ÄrztInnen und NaturwissenschaftlerInnen. Selbst die SED nahm nach 1955 immer mehr NS-MitläuferInnen auf. Beim "Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer" häuften sich deshalb die besorgten Nachfragen.

Die Verfolgung von NS-TäterInnen gehorchte weniger den hehren moralischen Ansprüchen des DDR-Antifaschismus als vielmehr den tagespolitischen Erfordernissen des Kalten Krieges. Erschien es ideologisch opportun, einen NS-Täter vor Gericht zu stellen, geschah es auch, um die westdeutsche Republik vorzuführen. Andere wurden mit ihrer Vergangenheit erpresst und so für eine Zusammenarbeit mit der Stasi gewonnen. Eine Strafverfolgung unterblieb in einem solchen Fall.

Kulturpolitik: Dass und wie es die DDR verstand, die kleinbürgerlichen und autoritären Traditionen der deutschen Linken zu bündeln, zeigte sich nirgendwo deutlicher als in der Kulturpolitik. Sie hielt Verbote, Zensur und verzögerte Genehmigungen für jene Bücher, Filme und Musikproduktionen bereit, die nicht den jeweils wechselnden ideologischen Vorgaben der Kulturbürokratie der DDR entsprachen. Sie sorgte dafür, dass kontroverse kulturpolitische Debatten eingehegt, entschärft, tabuisiert oder zeitverzögert wurden.

Das betraf vor allem Bücher und Theaterstücke, die das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft widersprüchlicher darstellten, als es im Schema des sozialistischen Realismus vorgesehen war. Sie verschwanden auf Jahre in den Schubladen der Verlage, erschienen, wenn ihre Aktualität erloschen war, oder eben gleich im Westen.

In der Kulturpolitik folgten auf Phasen dogmatischer Enge Perioden relativer Liberalisierung. So verbanden sich mit dem Machtantritt Erich Honeckers 1971 Hoffnungen auf eine weitergehende kulturelle Öffnung, die jedoch mit den Restriktionen infolge der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 zerstoben.

Rolle der Arbeiterklasse: Schwer tat sich die DDR-Kulturpolitik mit der westlichen Jugendkultur. Deren Soundtrack zum emanzipatorischen Aufbruch Ende der 1960er Jahre denunzierte sie als dekadent. Nachdem sich die Kulturbürokratie notgedrungen mit Beatmusik und Jeans arrangiert hatte, verlagerte sich der Schauplatz des ideologischen Kampfes um die Jugend zum mit allen Mitteln der Repression geführten Kampf gegen unangepasste Punks und gegen Öko- und FriedensaktivistInnen, die als politisch unzuverlässig oder feindlich gesinnt galten.

Die Rolle der Arbeiterklasse in der DDR-Gesellschaft war in linken Analysen besonders strittig. Während die ApologetInnen der DDR im Westen auf die in der DDR verwirklichten weitgehenden sozialen Rechte im betrieblichen Kontext verwiesen, hoben andere die Rolle der allgegenwärtigen Parteibürokratie hervor, in deren Händen sich die Macht konzentrierte.

Infolge des Aufstandes vom 17. Juni 1953 schlossen Parteibürokratie und Arbeiterklasse einen unausgesprochenen Kompromiss. Die Partei verzichtete auf eine Forcierung der Arbeitsproduktivität und sicherte im Gegenzug ein bescheidenes ökonomisches Auskommen.

In diesem Rahmen kam der kollektive Eigensinn der ArbeiterInnen durchaus zum Tragen. Der Arbeitskräftemangel und die in den 1970er Jahren zutage getretene Ineffektivität der DDR-Wirtschaft bewirkte, dass das soziale Selbstbewusstsein in den Betrieben stieg, die ArbeiterInnen relativ sanktionsfrei die betrieblichen Freiräume nutzen konnten. Damit erkaufte sich die Partei die politische Entmündigung jener sozialen Gruppe, in deren Namen sie die Macht ausübte.

Sozial- und Gesundheitspolitik: Bis heute steht die Sozial- und Gesundheitspolitik der DDR in einem weit über linke Kreise hinausgehenden guten Ruf. In der Tat war die Gesundheitsversorgung in der DDR im Vergleich zu den anderen realsozialistischen Staaten mustergültig und effizient. Erinnert sei nur an Modelle wie Poliklinken oder Gemeindeschwestern.

Die Arbeiterklasse: Macht im Staat, aber nichts zu sagen

Nüchtern betrachtet zielte die kostenintensive Gesundheitsversorgung der DDR auf die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Produktivität der arbeitenden Bevölkerung. Dies bedeutete im Umkehrschluss die strukturelle Vernachlässigung sozialer Gruppen wie RentnerInnen oder behinderter Menschen. In ihre Versorgung wurde weit weniger investiert als etwa in die Gesundheit der StahlarbeiterInnen in Eisenhüttenstadt.

Westliche Restriktionen, aber auch die Kostenintensität gesundheitspolitischer Maßnahmen und der allgegenwärtige Mangel an Material führten dazu, dass das DDR-Gesundheitswesen zusehends den Anschluss an den medizinischen Fortschritt verlor und zum Ende der DDR durch die verstärkte Ausreise von ÄrztInnen in den Westen ausblutete. Insbesondere die Betreuung von behinderten Menschen überließ die DDR nur zu gern kirchlichen Einrichtungen, die eine Versorgung ihrer PatientInnen mithilfe westlicher kirchlicher Hilfswerke sicherstellen konnten.

Wirtschaftspolitik: Mit der in der Honecker-Ära verkündeten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" ging der Ausbau sozialer Leistungen wie Babyjahr, Ehekredit und die bevorzugte Vergabe von Wohnungen an junge Ehepaare einher. Doch die Kosten all dieser sozialpolitischen Maßnahmen waren ab Beginn der 1980er Jahre nicht mehr gedeckt und gingen zulasten anderer ökonomischer Bereiche.

Auch nach Vermittlung von Milliardenkrediten an die DDR ausgerechnet durch Franz Josef Strauß unterblieben wichtige Investitionen in die Infrastruktur des Landes. Straßen, Schienennetz und technische Infrastruktur der Betriebe, noch immer gezeichnet von den Folgen der sowjetischen Demontagepolitik, verfielen.

Das einseitig auf Neubauten ausgerichtete Wohnungsbauprogramm ließ die Innenstädte von Halberstadt, Erfurt und Greifswald verrotten und zerfallen. Noch in den 1980er Jahren wurden historische Stadtviertel dem Abriss preisgegeben.

Die Vorsorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln war im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten ab Ende der 1960er Jahre stabil. Allein, die Konsumansprüche der DDR-Bevölkerung orientierten sich durch die allabendliche Republikflucht via Westfernsehen an jenen der Bundesrepublik. Hier konnte die DDR aus vielerlei Gründen nicht mithalten. Anfang und Mitte der 1980er Jahre nahmen die Versorgungskrisen wieder zu. Im Winter 1986/87 kam es zu Stromsperrungen, die Armee musste zur Aufrechterhaltung der Produktion in die Betriebe geschickt werden.

Katastrophal war die ökologische Situation in den industriellen Zentren. Die rücksichtslose und ineffektive Ausbeutung der zur Verstromung dienenden Braunkohleressourcen der DDR hinterließen Mondlandschaften, ohne dass es Renaturierungskonzepte gegeben hätte. Das ökologische Gleichgewicht im Umfeld von Großkombinaten wie Bitterfeld, Leuna oder Schwedt war gekippt, die Luft so dreckig wie nirgendwo in Westeuropa.

Frauenemanzipation: Widersprüchlich entwickelte sich der Prozess der Emanzipation von Frauen in der DDR. Da sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden, förderte der Staat ihre ökonomische Eigenständigkeit. Scheidungen waren in der DDR ohne große finanzielle Folgen möglich. Die 1972 eingeführte Fristenregelung sicherte den Frauen ein Recht auf Abtreibung. Die Versorgung mit Kindergarten- und Hortplätzen war nahezu hundert Prozent. Doch Frauen in Führungs- und Entscheidungspositionen waren selten.

Die bürgerlich-patriarchale Arbeitsteilung zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre wurde in der DDR durch die Organisation der Wirtschaft und Gesellschaft nicht angetastet. Wesentliche Emanzipationsschritte wurden auf administrativem Wege von oben eingeführt. Ihre gesellschaftliche Reichweite hing jedoch von den sozialen Verhältnissen ab. Eine breite, plurale Frauenbewegung konnte in der geschlossenen Gesellschaft DDR nur in Nischen entstehen. Früher als in der Bundesrepublik wurde in der DDR Homosexualität entkriminalisiert. Doch eine Selbstorganisation und öffentliche Artikulation von Lesben und Schwulen war unerwünscht.

Staatssicherheit: Nur langsam weicht in Wissenschaft und Öffentlichkeit der Eindruck, in der DDR seien letztlich alle gesellschaftlichen Prozesse durch die Stasi gesteuert gewesen. Dieses seit zwanzig Jahren variantenreich illustrierte Bild der DDR ist ein später Sieg der DDR-Schlapphüte. Verfolgten sie doch das Ziel, alle sozialen Bereich zu durchdringen und unter Kontrolle zu behalten. Dies bedeutete jedoch nicht, dass dies in der Realität auch zutraf.

Zwar stieg die Zahl der "inoffiziellen Mitarbeiter" ab Beginn der 1980er Jahre noch einmal an. Doch anders als in den 1950er Jahren, als die Repressionsmaschinerie des Ministeriums für Staatssicherheit faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit lief, waren den Repressionen gegen tatsächliche oder vermeidliche OpponentInnen der DDR durch die Präsenz westlicher KorrespondentInnen und dem Interesse der DDR, es sich mit den westlichen PartnerInnen nicht zu verscherzen, Grenzen gesetzt. Das schloss harte Urteile gegen Republikflüchtlinge und die strategische soziale Isolation Oppositioneller durch die Stasi nicht aus, verringerte aber ihre Reichweite.

In dem Maße, in dem der DDR-Herrschaftsapparat ab Ende der 1980er Jahre in Agonie verfiel, blieb der Stasi nicht mehr übrig, als die Aktivitäten der von ihr als staatsfeindlich eingeschätzten Gruppen zu registrieren. Obwohl sie alle Oppositionsgruppen unterwandert und mit einem Netz aus Spitzeln durchsetzt hatte, gelang es der Stasi nicht, sie zu zerschlagen. So konzentrierte man sich darauf, die Aktionsfähigkeit der Gruppen zu sabotieren.

Keine Kontrolle und keine kritische Öffentlichkeit

Was den Charakter des MfS von dem heutiger Inlandsgeheimdienste unterscheidet, ist die Tatsache, dass es in der DDR keine kritische Öffentlichkeit und keinerlei Kontrollinstanz gab, die die Eingriffe des Geheimdienstes begrenzte. Zudem fehlte es an rechtsstaatlichen und strafprozessualen Instrumentarien, mit deren Hilfe sich Betroffene politischer Strafverfolgung wehren konnten. Ebenso wenig gab es eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die eine Überprüfung behördlichen Handelns ermöglicht hätte.

Um die Mehrdimensionalität der DDR-Gesellschaft zu erfassen, müssen die externen Faktoren des Kalten Krieges und seiner Phasen ebenso berücksichtigt werden wie jene zahlreichen verpassten Gelegenheiten, das System zu demokratisieren. Die DDR bündelte aufgrund ihres Entstehungskontextes in sich die autoritären, kleinbürgerlichen und repressiven Traditionen des kommunistischen Flügels der Arbeiterbewegung und die des Stalinismus. Sie war ein berechtigter Aufbruchsversuch aus Krieg und Faschismus, der an selbst verschuldeten Fehlern, Verbrechen und Versäumnissen zerbrach. Ihr allein aufgrund ihrer Existenz als Gegenpol zum kapitalistischen Westen einen emanzipatorischen Charakter zuzuschreiben, geht fehl und behindert eine offene Debatte um die Zukunft nicht-kapitalistischer gesellschaftlicher Alternativen.

DB

Zum Weiterlesen:

Stefan Bollinger: Das letzte Jahr der DDR. Zwischen Revolution und Selbstaufgabe. Berlin 2008; Rudolf Mau: Der Protestantismus im Osten Deutschland (1945-1990). Leipzig 2005; Bernd Gehrke, Wolfgang Rüddenklau: ... das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende. Münster 1999; Bernd Gehrke, Renate Hürtgen: Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Berlin 2001; Christof Geisel: Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren. Berlin 2005; Andreas Malycha: Die SED. Geschichte einer deutschen Partei. München 2009; Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig 1996