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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 564 / 16.9.2011

Auch Demokratie, klar, natürlich

Die politischen Hoffnungen der meisten LibyerInnen sind diffus

Seit Gaddafis Sturz rätseln BeobachterInnen, wie sich die Verhältnisse in Libyen entwickeln werden. Schon in sieben Monaten will der Übergangsrat Wahlen organisieren. Entsteht dann ein Staatswesen nach westlichem Vorbild oder ein islamischer Gottesstaat? Fest steht nur, dass die politischen Hoffnungen der meisten LibyerInnen diffus sind. Ideen und politische Traditionen aus dem Staate Gaddafis wirken nach, religiöse Vorstellungen sind einflussreich.

Die Angst vor einem islamistischen Regime hat bisher jede der arabischen Revolten begleitet. Nun flammt sie in Bezug auf Libyen wieder auf. US-Geheimdienste haben herausgefunden, dass Jihadisten nach dem Fall von Muammar al-Gaddafi einen islamischen Staat erkämpfen wollen. Das meldete die eher konservative Washington Times. Sorge machten den Geheimdiensten die Einträge in Internetforen. Einige rufen dazu auf, nach einer Übergangsphase den Kampf gegen säkulare Rebellen und den libyschen Übergangsrat aufzunehmen.

Die Angst ist im Falle von Libyen berechtigt. Nicht nur kämpften unter den Rebellen zahlreiche Einheiten mit Al Qaida-Verbindungen und Kampferfahrung aus Afghanisten - in Tripolis wurde einer von ihnen gerade als Vorsitzender des neuen Militärgerichts eingesetzt. Auch weiß man kaum etwas über die politischen Ansichten der LibyerInnen im Allgemeinen, sie konnten sie schließlich 42 Jahre nicht äußern. Ob es Kräfte geben wird, die stark genug sind, sich den IslamistInnen entgegenzustellen, muss sich also erst noch herausstellen.

Politische Fragen werden in Libyen kaum diskutiert

"Wir wollen Freiheit und Demokratie", sprechen junge Tripolitaner dem Reporter von Al-Jazeera in das vorgehaltene Mikrofon. Es sind junge Männer, die gut Englisch können und damit eine kleine Minderheit darstellen. Gaddafi ließ 1986 nicht nur den Englischunterricht verbieten, sondern auch alle englischsprachigen Bücher verbrennen. "Jemand vom Revolutionskomitee kam in unsere Klasse und sagte dem Englischlehrer, er müsse unsere Bücher einsammeln", erzählte Mari Burahil, ein politischer Aktivist, vor einigen Wochen in Bengasi. Damals war er 15. Englisch hat er gelernt, weil seine Eltern ihn zu Hause unterrichteten und später nach Großbritannien schickten. Er hat eine konkrete Vorstellung von dem, was Demokratie sein könnte.

Viele der jungen Rebellen haben das nicht. "Politik interessiert uns nicht", sagt ein Jugendlicher hinter dem Schreibtisch im Büro der Jugend des Wandels in Bengasi. Hier treffen sich junge Menschen, die beim Aufbau des "neuen Libyens" helfen wollen. Sie reinigen die Straßen, bringen Essen für die Bedürftigen in die Moscheen oder kümmern sich um die Versorgung mit Kochgasflaschen. Gibt es keine Gruppe, die politische Fragen diskutiert? Der Jugendliche lächelt, als hielte er die Frage für absurd. Ein anderer im Raum antwortet: "Wir wissen nichts über Politik. Ich kann nur sagen, dass Israel unserer Feind ist. Aber wie der Konflikt dort angefangen hat, weiß ich nicht."

Ähnlich vage reagieren die meisten auf die Frage nach Demokratie. "Wir wollen Freiheit", sagen alle. Auch Demokratie, oder? "Ja klar, auch Demokratie, natürlich." Dann verstummt häufig das Gespräch. Der junge Mann von der Jugend des Wandels sagt: "Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen Freiheit und Demokratie."

Zur gleichen Zeit diskutieren junge ägyptische und tunesische AktivistInnen sich die Köpfe heiß, ob Religion in die Verfassung aufgenommen werden soll, welche Strategie gegenüber dem Militär die beste ist, ob man sich besser in Parteien oder außerparlamentarisch organisiert. "Wir können nicht mit Ägypten, Tunesien oder Syrien verglichen werden", erläutert Intisar Al Agileh, eine juristische Beraterin des Übergangsrats. "Ägypten, Tunesien und Syrien haben schon eine Verfassung. Wir hingegen müssen ein Land aus dem Nichts aufbauen."

Strukturell unterschied sich die Jamahiriya, die libysche "Volksdemokratie", durch weit mehr als nur die fehlende Verfassung von anderen arabischen Regimes. Als Muammar al-Gaddafi vor knapp 42 Jahren den libyschen König Idriss wegputschte, orientierte er sich zunächst an den Panarabisten der Zeit. Der ägyptische Präsident Gamal Abdul Nasser war sein großes Vorbild. Der hatte in ähnlicher Weise 1952 den ägyptischen König Faruk vom Thron gefegt. In Syrien spielte die panarabistische Baath-Partei schon seit Ausrufung der Arabischen Republik Syrien 1946 eine entscheidende Rolle. In Tunesien gewann 1958 die Neo-Destour-Partei unter Habib Bourgiba die Wahlen. Im selben Jahr stürzten im Irak "Freie Offiziere" die von den Briten eingesetzte Monarchie. In Algerien putschte sich Houari Boumedienne 1965 an die Macht. Libyen war das letzte Land, das sich der Welle des arabischen Nationalismus anschloss.

Sie alle grenzten sich vom "Kommunismus" ab, vertraten aber eine Spielart des Sozialismus, die den osteuropäischen Systemen ähnelte. Es gab Wahlen, die den Präsidenten in der Regel mit 99 Prozent der Stimmen bestätigten, es gab eine staatstragende Partei, eine Verfassung, Gesetze und Gerichte. Doch bald entwickelte Gaddafi die Vision einer staatslosen Gesellschaft. Die Grundlage dafür schrieb er 1975 als "dritte Universaltheorie" in seinem "Grünen Buch" nieder.

Wahlen, Parteien, Parlamente und sogar Volksentscheide konnten seiner Ansicht nach nie den wirklichen Willen des Volkes abbilden. Er hielt sie daher für undemokratisch und plädierte stattdessen für Basisdemokratie: die Organisation jedes Mitglieds der Gesellschaft in Komitees. (Vgl. ak 563) Undemokratisch war laut Gaddafi jedoch auch, "wenn ein Komitee oder ein Parlament dazu berechtigt ist, die Gesetze für eine Gesellschaft zu erlassen". Darum gab es in Libyen keine Verfassung. Weiter heißt es im Grünen Buch: "Das ursprüngliche Gesetz jeder Gesellschaft beruht auf Tradition und Religion."

Basisdemokratie gab es in Libyen nie. Das System konnte schon deshalb nicht funktionieren, weil jedes Basiskomitees von einem Revolutionskomitee auf seine Linientreue überwacht wurde. Wer Vorschläge machte, und sei es nur zur Abfallbeseitigung, riskierte seinen Kopf.

Auch darum erstaunt es wenig, dass die LibyerInnen heute soviel mehr von Freiheit reden als von Mitbestimmung. Im benachbarten Ägypten machte die Bevölkerung auch zu Mubaraks Zeiten ihrem Ärger über das Regime lautstark Luft. Die Frustration der meisten ÄgypterInnen rührte neben der Korruption vor allem daher, dass es unmöglich war, Veränderungen zu erwirken - vorschlagen konnte man sie. Die ÄgypterInnen wollen endlich mitbestimmen. Deshalb fanden sich schon kurz nach Mubaraks Sturz an die 60 Parteien zusammen, auch wenn viele nie Parteistatus erlangen werden.

Der panarabische Sozialismus der 1950er Jahre

In Libyen gibt es neben den Muslimbrüdern und der Nationalen Demokratischen Allianz, einer Exiloppositionsgruppe, bislang noch kaum Gruppen, die eine Parteigründung erwägen. Die 24-jährige Ingenieursstudentin Hind Omar in Bengasi ist da eine Ausnahme. Sie hat gemeinsam mit Freundinnen ein kleines Parteiprogramm geschrieben und sucht nun nach MitstreiterInnen. In dem Programm heißt es: "1. Wir wollen, dass Menschen Politik verstehen. 2. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, ihre Meinung zu sagen. 3. Wir wollen Demokratie auf dem Prinzip der Meinungsfreiheit aufbauen." Ein Parteiprogramm ist das freilich nicht. Wohl aber entspricht es ziemlich genau dem, was viele LibyerInnen jetzt für notwendig halten.

Noch vor einem Monat sagte auch der Nationale Übergangsrat, dass Libyen viel Zeit brauche, um eine Demokratie zu werden. Zwei Jahre gab er sich, um eine Verfassung auszuarbeiten und Wahlen abzuhalten. Doch seit der Einnahme von Tripolis drückt die Übergangsregierung aufs Tempo. Zwei Tage nach dem Fall der Stadt erklärte der Vorsitzende Mustafa Abdel Jalil, in acht Monaten werde es Wahlen geben. Einen ersten Verfassungsentwurf stellte der Rat schon einige Tage zuvor auf seine Website.

Dabei mag die Angst vor einem von Jihadisten angezettelten Bürgerkrieg eine Rolle spielen. Aber ähnlich wie in Ägypten und Tunesien verschafft das frühe Abhalten von Wahlen den IslamistInnen einen enormen Vorsprung. Denn sie konnten sich wie überall in der arabischen Welt auch unter harter Repression organisieren. Wenn auch die Moscheen wie alles andere in Libyen kontrolliert wurden, boten sie doch gute Treffpunkte. Im Osten des Landes sollen radikale Imame schon unter Gaddafi zum Jihad aufgerufen haben.

Noman Benotman, ein Analyst der britischen Quilliam Stiftung, schätzt die Anhängerschaft der IslamistInnen auf 20 Prozent - und damit nicht höher als in den benachbarten Ländern. Benotman sollte die Szene kennen. Er kämpfte für die Libyan Islamic Fighting Group in Afghanistan auf Seiten Al Qaidas, bevor er sich vom Islamismus lossagte. Weitere 20 bis 25 Prozent der libyschen AktivistInnen sind laut Benotman Liberale, die eine säkulare Demokratie und freie Marktwirtschaft wollten. Die große Masse, 40 bis 50 Prozent, seien dem nationalistischen Lager zuzuordnen. Sie wollten einen zivilen Staat auf der Basis von Demokratie und libyscher Kultur. Zur libyschen Kultur gehört für sie der Islam.

Tatsächlich ist zumindest in Bengasi diese Art des "Nationalismus" die am häufigsten geäußerte Meinung. "Wir haben das große Glück, dass unsere Gesellschaft so homogen ist", erläutert ein junger Mann, der sich mit dem Herumfahren von Fremden ein Zugeld verdient. "Wir sind alle sunnitische Muslime. Das macht es einfach, eine Demokratie aufzubauen."

Dass gesellschaftliche Homogenität der Demokratie dienlich ist, scheint eine gewagte These. Ganz gewiss ist es nicht besonders pluralistisch gedacht. Der Mann ist aber nicht der einzige, der diese Ansicht äußert. In dieser Vorstellung spiegelt sich die Ideologie Muammar al-Gaddafis wieder. "Jede Nation sollte eine gemeinsame Religion haben", schrieb er in seinem Grünen Buch. Nur so entwickele sich das Leben der Gruppen stabil und gesund.

Der Islam soll Hauptquelle der Gesetzgebung sein

Die Jamahiriya Gaddafis war weit islamischer als die panarabischen Regime. Gaddafi ließ die Gesetze im Sinne der Scharia überarbeiten. Alkohol wurde verboten. Wie sonst nur in islamistischen Systemen wie Iran und Saudi-Arabien gab es Huddud-Strafen: Dieben konnte die Hand abgehackt werden, Ehebrecher wurden ausgepeitscht. Es heißt, diese Strafen wurden selten angewandt und oft milde ausgelegt - statt der Hand nahm man einen Finger.

An dieser Praxis haben viele nichts auszusetzen. "Das ist Islam. Das können wir nicht ändern", sagt die juristische Beraterin des Übergangsrats. Ein Mitarbeiter des Finanzministers im Übergangsrat wiegelt ab: "Das wird nicht angewandt. Aber wenn es der Islam sagt, kann man es nicht abschaffen." So steht denn auch im neuen Verfassungsentwurf, dass der Islam die Hauptquelle der Gesetzgebung sei. Zwar finden sich in vielen arabischen Ländern ähnliche Formulierungen in den Verfassungen, doch diese ist besonders weitgehend. In Kuwait, Bahrain und Syrien etwa ist der Islam nur "eine" Hauptquelle.

Kaum jemand in Libyen sieht die Scharia als Hindernis einer Demokratie. Damit vertritt die Masse der libyschen Bevölkerung ähnliche politische Positionen wie etwa die Muslimbrüder in Ägypten. In manchem übertreffen die libyschen "Nationalisten" sogar die ägyptischen "Brüder": Das Alkoholverbot sehen die meisten LibyerInnen als unumstößlich. Dass man in Ägypten trinken darf, stellen indes nur wenige IslamistInnen in Frage.

Nun hängt Demokratie nicht vom Alkoholkonsum ab. Wenn Gesetze auf Grundlage einer Religion gemacht werden müssen, schränkt das allerdings nicht nur die Freiheit der GesetzgeberInnen deutlich ein. Es öffnet auch die Tür für geistliche Instanzen, den gewählten VertreterInnen ins Handwerk zu pfuschen. Daran, dass die LibyerInnen sich nach Freiheit und Demokratie sehnen, kann niemand, der mit den Menschen gesprochen hat, ernstlich zweifeln. Fraglich ist eher, wie sie es schaffen werden, ihren Wunsch umzusetzen.

Hannah Wettig