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Die Bundesregierung vergibt Piraterie-Bekämpfung an Private
Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Nachdem es den verschiedenen Bundesregierungen in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, den Einsatz der Bundeswehr im Inneren durchzusetzen, verfällt die Merkel-Regierung auf eine neue Idee: Schleifen des Gewaltmonopols und unkontrolliertes Private-Public-Partnership im Sicherheitsbereich. Jüngstes Beispiel: Kommerzielle Militärfirmen sollen deutsche Schiffe schützen.
Seit dem Mittelalter und bis in das frühe 20. Jahrhundert war Kaperei, also Piraterie in staatlichem Auftrag, nicht nur ein übliches und im internationalen Seerecht kodifiziertes Mittel der Kriegsführung, sondern auch von erheblicher militärischer und ökonomischer Bedeutung. Erst die Haager Konvention von 1907 verankerte völkerrechtlich das Verbot staatlicher Piraterie.
Die Piraterie war damit selbstredend nicht verschwunden, sondern lediglich ein neuer Straftatbestand geschaffen. Es gilt als offenes Geheimnis, dass noch in den 1990er Jahren Teile des Regierungsapparates in südchinesischen Provinzen an aufgebrachten Prisen partizipierten oder sie gar beauftragten. Indien, Indonesien und den Philippinen wurden vergleichbare Vorwürfe gemacht. Gegenwärtig im Rampenlicht steht aber Somalia, das für die Mehrzahl der Piratenüberfälle der vergangenen vier Jahre verantwortlich zeichnen soll.
Die Bundesregierung hat sich im Sommer 2011 entschlossen, der drittgrößten Handelsflotte der Welt zu erlauben, sich durch kommerzielle Sicherheits- und Militärunternehmen statt durch deutsche PolizistInnen schützen zu lassen. Das Argument ist beeindruckend, es lautet: Staatlicher Schutz sei rechtlich zu kompliziert und zu teuer.
Piraterie wird über das Völkerrecht geregelt. Nach Artikel 15 des Übereinkommens über die Hohe See von 1958 sowie nach Artikel 101 des Seerechtsübereinkommens von 1982 wird als Piraterie bzw. Seeräuberei jede rechtswidrige Gewalttat, Freiheitsberaubung oder Plünderung auf Hoher See bezeichnet, die Besatzungen oder Fahrgäste eines privaten Schiffes zu privaten Zwecken gegen ein anderes Schiff begehen. Handelt es sich nicht um zwei oder mehr Schiffe oder werden die Taten in nationalen Gewässern begangen, handelt es sich per definitionem nicht um Piraterie, sondern um (bewaffneten) Raubüberfall. (1)
Zuständig ist in beiden Fällen die nationale Polizei, in Deutschland auf Grundlage des Seeaufgabengesetzes und weiterer Verordnungen die Bundespolizei und der Zoll. Schiffe unter deutscher Flagge sind deutsches Hoheitsgebiet, auf dem deutsche Gesetze gelten.
Ist staatlicher Schutz zu kompliziert und zu teuer?
Die Bundeswehr kann nicht zur Piratenbekämpfung auf deutschen Frachtschiffen eingesetzt werden, denn Art. 87a Grundgesetz (GG) beschränkt die Aufgaben der Streitkräfte auf die Landesverteidigung und wenige weitere Aufgaben. (2) Deshalb ist nur die Gewährung von Nothilfe bei akuter Gefahr denkbar. Nachdem die Bundesregierung 2006 mit der Einführung eines Luftsicherheitsgesetzes am Bundesverfassungsgericht gescheitert war, legte sie das geplante Seesicherheitsgesetz, das den Einsatz des Militärs auf Schiffen ermöglichen sollte, gar nicht mehr vor.
Dass der Schutz vor und das Aufbringen von Piratenschiffen sowie die Festnahme von Piraten Polizeiaufgaben sind, weiß auch die Bundesregierung (3), will aber dennoch keine Polizei einsetzen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.8.11)
Schiffseigner sollen stattdessen kommerzielle Sicherheits- und Militärfirmen beauftragen. Denen stehen aber nur die sogenannten Jedermannrechte und das Recht auf Selbstverteidigung zu, dazu tritt das Hausrecht, das ihnen von den Schiffseignern jeweils für ihre Tätigkeit übertragen werden muss. Sie haben also keine hoheitlichen Rechte. Hoheitliche Befugnisse sind nach Art. 33 Abs. 4 GG als ständige Aufgabe Beschäftigten in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zu übertragen, können also nicht einfach privatisiert werden. (Kritische Justiz, 44/1, 2011)
Die rechtliche Grundlage für die Entscheidung der Bundesregierung stellt lediglich §34a der Gewerbeordnung dar, der keine Aufgabenbeschreibungen oder Verhaltensrichtlinien kennt. Deutsche Wach- und Sicherheitskräfte sind für solche Aufgaben weder ausgebildet noch ausgerüstet. Wie die Bundespolizei in der Lage sein soll, ausländische Unternehmen zu zertifizieren und welche Kriterien dafür gelten sollen, ist unklar; auch international fehlt ein Zertifizierungssystem. Unklar sind auch Haftungsfragen, denn die Befehlsgewalt über die privaten Sicherheitskräfte hätte der Kapitän, der sich strafbar machen könnte. (Hamburger Abendblatt, 16.8.11)
Es stellen sich weitere Fragen: Auf deutschen Schiffen sind schwere Waffen verboten. Die Ankündigung, das Bundeskriminalamt werde die Waffen auf ihre Rechtmäßigkeit für einen Schiffseinsatz prüfen, lässt offen, wo und wie dies geschehen soll. Selbst wenn diese Fragen rechtsstaatlich einwandfrei geklärt werden könnten, wofür es angesichts der bisherigen Praxis wenig Anhaltspunkte gibt, blieben völkerrechtliche Fragen. So dürfen kommerzielle Firmen keine Piratenschiffe entern und auch gekaperte Schiffe nicht befreien. Die Ausrüstung mit Waffen kann zu einer Eskalation der Lage führen, Zwischenfälle sind bekannt. Schließlich ist auch völlig ungeklärt, wie der Einsatz solcher Kräfte überwacht, überprüft und gegebenenfalls geahndet werden kann.
Die Bundespolizei soll, über ein Zertifizierungssystem, nicht nur für den Bund, sondern auch für Länder und Reeder entscheiden, welche Sicherheitsfirmen sakrosankt sind. Stimmt das deutsche Parlament den Planungen zu, schlägt es sich damit die Kontrolle des Gewaltmonopols aus der Hand, denn eine informierte Prüfung des neu entstehenden kommerziell-maritimen Sicherheitsmilieus ist kaum möglich. Die Bundespolizei verlängert kostengünstig ihr Gewaltmonopol, insoweit sie als Exekutive letztendlich auch die legislative Entscheidungsgewalt übernimmt, während die profitorientierten Sicherheitsunternehmen an anhaltender Piraterie ein Interesse haben könnten, weil sie daran verdienen.
Zu den am stärksten frequentierten Welthandelsrouten gehören mit jährlich rund 90.000 Passagen die Straße von Malakka und das Gebiet um den Golf von Aden, wo rund 30.000 Schiffsbewegungen im Jahr registriert werden. Vor allem in diesen Gebieten kommt es zyklisch zu mehreren hundert gemeldeten Pirateriefällen pro Jahr, 2009 etwa wurden nur 35 Fälle von Piraterie außerhalb somalischer Gewässer gemeldet. (4)
In den frühen 1990er Jahren wurden weltweit jeweils nur 100 versuchte oder erfolgreiche Pirateriefälle im Jahr gemeldet, bis sich mit der Asienkrise 1997 die Zahlen, vor allem in der Straße von Malakka, zunächst verdoppelten, um sich bis zum Tsunami im Dezember 2004 zu vervierfachen. Seit 2007 sind vor allem die Seestraßen vor Somalia betroffen.
Länder wie China und Südkorea, Pakistan und Indien, Russland und selbst der Iran patrouillieren gemeinsam die Hauptwasserstraßen im Indischen Ozean und am Golf von Aden mit Militärkräften. Eine erste koordinierte Gegenmaßnahme war eine 2004 von 16 asiatischen Staaten unterzeichnete Kooperationsvereinbarung (ReCAAP). Seit November 2008 fahren Schiffe der Europäischen Union zum Schutz von Lieferungen des Welternährungsprogramms (Operation Atalanta), die USA haben im Januar 2009 eine neue Koalition der Willigen gebildet (Combined Task Force 151), und seit November 2009 patrouilliert auch die NATO (Ocean Shield). Insgesamt fallen für die Einsätze jährliche Kosten von rund 1,5 Mrd. Euro an.
Private Sicherheitsfirmen wittern ein gutes Geschäft
Neben diesen staatlichen Akteuren werden seit geraumer Zeit von Reedern und Staaten kommerzielle Sicherheits- und Militärfirmen eingesetzt (5), die ihren Sitz vor allem in den USA und Großbritannien haben, zu deren Umfang aber keine verlässlichen Zahlen vorliegen. Die frühere Firma Blackwater, heute Xe Services, betreibt ein bewaffnetes Schiff zur Eskortierung von Handelsschiffen. Die Firma Saracen International bildet in der halbautonomen somalischen Region Puntland eine eintausendköpfige Antipiraten-Miliz im Auftrag der Quasi-Regierung aus, die allerdings verdächtigt wird, selbst in Piraterie involviert zu sein. (New York Times, 10.8.11)
Die französische Firma Secopex vermietet elf mit Scharfschützen bewaffnete Begleitschiffe für 12.000 bis 30.000 US-Dollar pro Tag (FAZ, 28.4.09 bzw. 20.4.11), die britisch-amerikanische Firma BritAm Defense Ltd. bildet Militär und Polizei in Piratenbekämpfung in Singapur aus. Zu deutschen Anbietern gehören die Münchner Firma Result Group und die International Security Network GmbH. Nach einer Studie vom Juni 2011 lassen sich 27 von 100 befragten deutschen Reedereien durch Militärfirmen schützen.
So imposant die Zahlen auf den ersten Blick wirken und so sehr sich internationale Gremien und die Medien sich des Themas annehmen, das postkoloniale Phänomen Piraterie relativiert sich, wenn die Zahlen ins Verhältnis gesetzt werden und ein genauerer Blick auf die Statistiken geworfen wird.
Die maritime Wirtschaft ist von globaler Bedeutung, über 90 Prozent des Welthandels werden zur See abgewickelt. Der Jahresumsatz der Welthandelsflotte von 55.000 Schiffen liegt bei 5.700 (!) Mrd. Euro. Deutschland besitzt mit 3.700 Handelsschiffen hinter Japan und Griechenland die drittgrößte Flotte gemessen in Bruttoregistertonnen. Nach Nationalität der Eigner hat Deutschland sogar die größte Flotte der Welt (vor China und den USA).
Allerdings fahren nur noch 445 Schiffe unter deutscher Flagge. (FAZ, 27.4.11)
Es ginge also maximal nur um den polizeilichen Schutz dieser Schiffe, wobei zu berücksichtigen ist, dass rund 60 Prozent der gemeldeten Pirateriefälle in Häfen stattfinden (also keine Piraterie sind), es bei nur rund der Hälfte der Fälle zu Enterungen kommt und nur rund ein Zehntel der Schiffe tatsächlich entführt wird, also etwa 45 im Jahr. (Journal of Transport Security, 4/4, 2011)
Ein paar Piraten lassen den Rechtsstaat über Bord gehen
Das ist, trotz der regionalen Konzentration, angesichts von jährlich 30.000 Passagen eine wohl eher vernachlässigenswerte Zahl. Setzt man primäre (Lösegeld, Versicherungsprämien etc.) und sekundäre Piraterieschäden (makroökonomische Folgen für die betroffene Region) ins Verhältnis zum generierten Umsatz der Branche, ergibt sich ein ähnliches Bild. Durch Piraterie fallen nach verschiedenen Schätzungen weltweit jährlich Schäden zwischen sieben und 16 Mrd. Euro an, also zwischen 0,12 und 0,28 Prozent des Gesamtumsatzes der Branche. (6)
Den vergangenen zwei Bundesregierungen ist es nicht gelungen, das Grundgesetz so zu ändern, dass die Bundeswehr im Landesinnern eingesetzt werden kann. Da deutsche Reeder sich weigern, wieder verstärkt unter deutscher Flagge zu fahren (FAZ, 27.4.11), widersetzt sich im Gegenzug die Regierung Forderungen nach staatlichem Schutz der deutschen Wirtschaftsflotte. Wie nebenbei wird dabei das staatliche Gewaltmonopol so kielgeholt, dass die Bundespolizeien, befreit von Regeln und Kontrollen, ihr Monopol zulasten der Länder und des Parlaments mit profitorientierten Sicherheitsunternehmen verlängern können. Beeindruckend, wie eine Handvoll Dhows und Skiffs, die die NATO als "localized nuisance", als ein lokales Ärgernis (7), bezeichnet, hinreichen, einen Rechtsstaat über Bord gehen zu lassen.
Volker Eick
Volker Eick ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören urbane Sicherheitsregime und private Sicherheitsdienste.
Anmerkungen:
1) Streng genommen sind also weder der durch UN-Resolutionen gedeckte Einsatz der Operation Atalanta, noch sonstige Maßnahmen in nationalen Gewässern gegen Straftäter Pirateriebekämpfung.
2) Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD (Drs 17/6715), 2011
3) Anders dagegen die Landesregierung von Niedersachsen, die Marineschutzkräfte fordert; Berliner BehördenSpiegel, 1.4.11
4) Alessandro Scheffler: Piracy: Threat or Nuisance? NATO Defense College, Resarch Paper 56, 2010
5) Carolin Liss: Privatizing Anti-Piracy Services in Strategically Important Waterways, GraSPP Working Paper Series, University of Tokyo, October 2009
6) Anna Bowden: The Economic Cost of Maritime Piracy, 2010
7) John Patch: The Overstated Threat, in: Proceedings Magazine, 134/12, 2008