Aufgeblättert
Jiddische Freiheitslieder
Die Klesmer genannte Volksmusiktradition des aschkenasischen Judentums ist eine Tradition weltlicher Musik, die hauptsächlich zu Hochzeiten und anderen Festen gespielt wurde. Ursprünglich bezeichnete Klesmer nur die Musiker. Mit dem Revival der jiddischen Musik setzte sich die amerikanische Schreibweise Klezmer durch; man denke an die New Yorker Gruppe Klezmatics. Ist die jiddische Musik, die ursprünglich rein instrumental war, schon reizvoll, stehen in Heiner Jestrabeks Dokumentation die Texte im Vordergrund. Zeitgeschichtliche Einführungen machen die Liederbuch-Dokumentation zu einem Lesebuch jiddischer Poesie und Sozialkritik. Dokumentiert werden über 130 Lieder von "Not und Hoffnung", "Arbeit und Kampf", Antifaschistische Lieder aus den Ghettos und der Partisanen, Lieder der Einwanderer nach den USA und "Neuere Lieder". Die Einführung erzählt die Geschichte der Verfolgungen und nennt die christlichen Täter, berichtet aber auch von jiddischer Sprache und Literatur, der Aufklärung Haskala, Emanzipation und Assimilation, Antisemitismus, jüdischer Religion und "nichtjüdischen Juden". Breiten Raum nimmt die Arbeiterbewegung des Allgemeinen Jiddischen Arbeiter-Bundes ein. In einem Exkurs über Religionskritik werden prominente Beispiele wie Karl Marx, Moses Heß, Jakob Stern und Heinrich Heine zitiert, die über Religion als trostspendendes Rauschmittel philosophierten. Aber das Hauptanliegen der Dokumentation sind die Texte der dokumentierten (und ins Hochdeutsche übersetzten) Lieder. Die Einleitung und die erklärenden Zwischentexte vermitteln ein Bild des Judentums jenseits des vermeintlichen Mainstream. Klesmer werden wir künftig mit anderen Ohren hören.
Ralph Metzger
Heiner Jestrabek (Hg.): Lieder des Ghetto - Jiddische Freiheitslieder. freiheitsbaum - Edition Spinoza, Reutlingen 2011. 140 Seiten, 12 EUR
Karl Kraus
Der Wiener Schriftsteller Karl Kraus leistete mit seiner Sprachkritik einen wichtigen Beitrag zur Analyse der politischen Verhältnisse in Österreich zwischen 1900 und 1936. In der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel gelang es ihm, den autoritären Charakter kenntlich zu machen, den die kapitalistische Gesellschaft in allen Kreisen der Gesellschaft hervorgebracht hatte. Das Straf- und Rachebedürfnis gegenüber Opponenten und Minderheiten und der immer stärker hervorbrechende Antisemitismus werden in seinen Texten bloßgestellt. Die Germanistin Irina Djassemy analysiert seine Texte mit dem theoretischen Rüstzeug der Frankfurter Schule. "Karl Kraus' Stärke gegenüber den bloßen Moralisten besteht nicht zuletzt darin, dass er bei den vom ihm kritisierten Vertretern bestimmter Berufe, z.B. bei Polizisten und Journalisten, auch das berücksichtigt, was er das System nennt: die Arbeitsbedingungen und den organisatorischen Aufbau der Institutionen", schreibt Djassemy. In vielen seiner frühen Glossen ist der Meldezettel für Kraus das Symbol für eine autoritäre Gesellschaft, die dem Staat und den Nachbarn die Möglichkeit gibt, im Privatleben ihrer Mitmenschen zu schnüffeln. Dabei ist Kraus keineswegs blind für die Klassenverhältnisse der monarchistischen Habsburgerdiktatur. Anhand der Werke "In dieser großen Zeit" und "Die letzten Tage der Menschheit" zeigt die Autorin, wie Kraus die Verlogenheit der Gesellschaft im Ersten Weltkrieg durch seine Sprachkritik entlarvt. Der Buchausgabe von "Die letzten Tage der Menschheit" vorangestellt ist ein Foto des von der österreichischen Militärjustiz zum Tod durch Erhängen verurteilten italienischen Publizisten und sozialdemokratischen Politikers Cesare Battisti. Für Kraus ist es ein Beispiel für "das österreichische Antlitz", das in den Kriegsjahren häufig sich stolz ihrer Taten rühmende Henker in Aktion zeigte. Der Autorin gelingt es mit ihrer Analyse des Werkes von Karl Kraus, die geistige Verfassung einer Gesellschaft auf dem Weg in die nazistische Barbarei deutlich zu machen.
Peter Nowak
Irina Djassemy: Die verfolgende Unschuld. Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus. Böhlau Verlag, Wien 2011. 266 Seiten, 35 EUR
Antizionismus
Timo Stein will in seiner Arbeit über "Antizionismus in der deutschen Linken" drei Fragen beantworten: inwiefern der Antizionismus "antisemitisch grundiert ist", "wie es dazu kommen konnte" und ob dies "fundamentaler Bestand linker Ideologie" ist. Den größten Teil der Darstellung nimmt die Wiedergabe von Martin Klokes Dissertation "Israel und die deutsche Linke" ein, die noch nicht einmal im Literaturverzeichnis erscheint und oft nur indirekt und irreführend über anderer Leute Darstellungen von Klokes Arbeit zitiert wird. Dies wird mit einem theoretischen Kapitel garniert, das im Wesentlichen Thomas Haurys Einschätzungen aus dessen Buch "Antisemitismus von links?" wiedergibt und Strukturübereinstimmungen zwischen Antisemitismus und dem verknöcherten Staats-Marxismus-Leninismus konstatiert. Steins Gesamtfazit: "Je radikaler die antizionistische Position, desto wahrscheinlicher wurde der Gebrauch antisemitischer Stereotype". Die zur Unterscheidung von legitimer Israelkritik und Antisemitismus aufgestellten Kriterien werden nicht systematisch auf die einzelnen im historischen Längsschnitt präsentierten linken Nahost-Positionierungen angewandt. Damit wird ein über Kloke hinausgehender möglicher Erkenntnisgewinn verschenkt; manche Schlüsse wirken willkürlich, viele Urteile unsystematisch und moralisierend. So wurde aus einer guten Abschlussarbeit ein Buch, das sich in dieser Art der Darbietung als eigene Forschungsleistung an der Grenze zu Kolportage und Plagiat bewegt.
Peter Ullrich
Timo Stein: Zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Antizionismus in der deutschen Linken. VS-College, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011. 106 Seiten, 29,95 EUR
Kärntner PartisanInnen
Nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 begannen die Nationalsozialisten damit, nationale Minderheiten unter Druck zu setzen. Die Entnationalisierungspolitik wurde nach dem Überfall auf Jugoslawien im April 1941 weiter verschärft; sie richtete sich auf die Vernichtung der SlowenInnen als Volksgruppe. Im April 1942 wurden fast 1.000 Kärtner SlowenInnen in deutsche Lager deportiert. Daran und insbesondere an den Widerstand der Kärntner SlowenInnen erinnert ein dreisprachiges (deutsch-slowenisch-englisches) Buch, dem auf einer DVD zwölf Interviews mit ehemaligen PartisanInnen beigefügt sind. Die Widerstandsbewegung umfasste zwischen 600 und 800 Aktive. Sie war überwiegend kommunistisch orientiert, bekam aber Unterstützung von großen Teilen der Bevölkerung. Dem Buch vorangestellt ist ein Ausspruch des Partisanen Josef Urch (1923-2007): "Auch heute sind wir österreichische Verbrecher oder Kärntner Verbrecher. Die sagen nicht, dass wir Freiheitskämpfer sind." Das wird sich hoffentlich ändern - durch das Buch und die öffentlichen Video-Installationen von Ernst Logar, der auch für das Konzept und die Redaktion des Buches verantwortlich zeichnet. Die von ihm geführten Interviews mit WiderstandskämpferInnen wurden u.a. auch im österreichischen Parlament gezeigt.
Js.
pArtisan, Kunst im sozial- und gesellschaftspolitischen Kontext (Hg.): Das Ende der Erinnerung - Kärntner PartisanInnen. Drava-Verlag, Klagenfurt - Wien 2011. 111 Seiten und eine DVD mit Videointerviews, 24,80 EUR