Auf der Suche nach dem Rebel-Image
Wie deutsche Gewerkschaften die Organizing-Ideen Saul Alinskys vereinnahmen
Viel war in den letzten Jahren von gewerkschaftlicher Erneuerung mittels Organizing die Rede. Aktivierende Konzepte aus den USA sollten den Mitgliederschwund stoppen und das Gewerkschaftsleben revitalisieren. Doch in der Krise haben die deutschen Industriegewerkschaften vor allem auf Standortsicherung und Korporatismus gesetzt. In mehreren neueren Publikationen geben sie sich nun wieder konfliktbereit und bewegungsnah. Dafür hat die IG Metall Jugend auch Schriften des US-Radikalen Saul Alinsky neu auflegen lassen. Eine kritische Lektüre.
Auf Initiative der Jugendabteilung der IG Metall hat der Göttinger Lamuv Verlag die Textsammlung eines Autors neu aufgelegt, der unter deutschen GewerkschafterInnen immer bekannter wird: Saul Alinsky. In halb essayistischer, halb autobiographischer Form beschreibt Alinsky in der schmalen (und um gewerkschaftskritische Passagen gekürzten) Ausgabe das später so genannte Community Organizing, welches er selbst noch als People's Organization Movement bezeichnete. Hierbei handelt es sich um eine von ihm seit 1939 immer wieder erprobte Methode, ärmere Stadtteile und Gemeinden in die Lage zu versetzen, Druck auf einflussreiche ImmobilienbesitzerInnen, Stadtverwaltungen und PolitikerInnen auszuüben. Nur durch solche Prozesse der Selbstorganisation, so das basisdemokratische Credo Alinskys, könnten wichtige materielle Verbesserungen im Alltagsleben und in den Infrastrukturen eines Viertels erreicht werden.
Das Community Organizing nach Saul Alinsky
Der Figur des Community Organizers schreibt Alinsky die Aufgabe zu, soziale Konflikte im Hintergrund zu koordinieren. Als StadtteilaktivistInnen gehen Community Organizer auf informelle MeinungsführerInnen im Viertel zu und beziehen vorhandene Basisorganisationen in den Plan ein, ausgewählte Angehörige der lokalen Elite durch direkte Aktionen und Überraschungscoups erst aus der Reserve zu locken und letztlich zu Zugeständnissen zu zwingen. Seinem Selbstverständnis nach ist Alinsky zwar kein Revolutionär, wohl aber ein amerikanischer Radikaler, der viel von zivilem Ungehorsam, Regelverletzung und offensiver Konfliktaustragung hält.
Ist nun Community Organizing dasselbe wie gewerkschaftliches Organizing? "Call me a Radical", die an ein Motto des Fürsprechers der amerikanischen Unabhängigkeit Thomas Paine ("Let them call me rebel") angelehnte Neuauflage des Lamuv-Titels "Anleitung zum Mächtigsein" von 1984, versucht genau diesen Eindruck zu erwecken. Hierzu tragen nicht nur Vor- und Nachwort, sondern auch Begriffe bei, deren Neuübersetzung bisweilen etwas tendenziös wirkt. Ein Organizer bleibt zwar jetzt auch im Deutschen ein Organizer. People's Organization aber wird nicht mehr mit Bürger-Organisation, sondern abwechselnd mit Organizing-Struktur, Organizing-Prozess oder Organizing-Projekt übersetzt, People's Program heißt Organizing-Programm.
Derartige Nachbearbeitungen wären nicht der Rede wert, dienten sie der IG Metall-Jugend nicht dazu, Alinsky zum Erfinder gewerkschaftlichen Organizings und damit zum Ahnherrn der eigenen Politik zu stilisieren. Will die IG Metall, wie Alinsky vorschlägt, aus ihren Mitgliedern wirklich subversive Spaßguerilleros machen, die zivilen Ungehorsam praktizieren, und anfangen, das Bild der allzu berechenbaren Tarifpartei zu revidieren?
Wahrscheinlicher ist, dass es bei der Neuausgabe einiger Schriften Saul Alinskys darum geht, der behäbig wirkenden Organisation in Zeiten der Krise einen subversiven Anstrich zu geben. Weitaus eher als irgendeinen Umbruch dokumentiert das Alinsky-Buch denn auch, wie eng die IG Metall inzwischen mit der Werbewirtschaft kooperiert. Die Berliner Agentur Kornberger und Partner (KP Works) übernimmt nicht nur Produktion und Vermarktung von IG Metall-Broschüren und -Veranstaltungen, sondern versteht es auch, in regelmäßigen Abständen Botschaften über die Wunderwirkungen von US-Gewerkschaften und ihren Organizing-Konzepten in den Köpfen deutscher Gewerkschaftsfreunde zu verankern.
So hat es mit einer realistischen Lagebeschreibung nur wenig zu tun, wenn Eric Leiderer, Bundesjugendsekretär der IG Metall, in seinem Vorwort zum Alinsky-Buch "Call me a Radical" behauptet, die US-Gewerkschaften seien durch erfolgreiche Organizing-Kampagnen auf dem Weg, "wieder ein Akteur zu werden, mit dem man in der amerikanischen Gesellschaft rechnen muss". Und der IG Metall-Vize Detlef Wetzel kann seine Gewerkschaft im Nachwort nur deshalb "zu einem natürlichen Verbündeten der Ideen von Saul David Alinsky und seiner Organizing-Strategie" erklären, weil wichtige Textstellen aus "Reveille for Radicals" dem Rotstift zum Opfer gefallen sind. Zu den gestrichenen Passagen gehört unter anderem ein Plädoyer für "die Demokratisierung der Arbeiterbewegung". Diese Aufgabe liegt Alinsky zufolge "in den Händen der Radikalen. Die demokratische Mitbestimmung aller Gewerkschaftsmitglieder in allen Bereichen des Gewerkschaftslebens muss konstant erweitert werden. Darüber hinaus muss der Radikale Erziehungsprogramme auf allen Stufen der Gewerkschaft vorantreiben", schreibt Alinsky in seinem Buch "Reveille for Radicals" von 1946.
Anders als behauptet ist Alinsky weder der "Erfinder" der gewerkschaftlichen Organizing-Strategie (in seiner Biografie des legendären Bergarbeiterbosses John Lewis beschreibt Alinsky ausführlich die von ihm selbst als vorbildlich erachteten Organizing-Kampagnen des US Industriegewerkschaftsbtundes CIO) noch stimmt es, dass "seine strategische Leistung" von den US-Gewerkschaften "um die Jahrtausendwende" wiederentdeckt wurde.
Gewerkschaften biedern sich ans Protest-Milieu an
Die berühmte Kampagne "Justice for Janitors" (Janitors sind Reinigungskräfte, Anm. ak), ein Vorbild vieler neuerer Organizing-Kampagnen, begann bereits in den 1980er Jahren und orientierte sich weniger an Alinskys Ansatz des Community Organizing als am historischen CIO-Schlachtruf "Organize the unorganized" sowie an den Erfahrungen vieler MigrantInnen mit Kämpfen in Lateinamerika. Aber zu welchem Schluss kamen die Werbeleute von KP Works noch einmal in ihrem Vorgängerbuch "Organizing - Strategie und Praxis"? Letztlich gehe es "mehr um Leidenschaft und um Ausstrahlung als um Inhalt - von dem man aus der Kommunikationspsychologie ohnehin weiß, dass er höchsten sieben Prozent der Wirkung ausmacht".
Kommunikationspsychologisch interessant ist auch der Sammelband "Protest - Bewegung - Umbruch", den die Bundesjugendvorsitzenden aller DGB-Gewerkschaften im Frühjahr 2011 unter Federführung derselben PR-Agentur veröffentlichten. Das Buch versucht (nicht nur durch kämpferisches Layout, sondern auch durch tatsächlich lesenswerte Beiträge etwa von Bernhard Schmid, Peter Grottian sowie ProtestaktivistInnen aus Stuttgart, London und Mailand) den Eindruck zu erwecken, deutsche Gewerkschaften suchten ernsthaft die Diskussion mit oppositionellen Linken im In- und Ausland.
In ihren eigenen Stellungnahmen müssen die versammelten Bundesjugendvorsitzenden bei allem zur Schau gestellten Radikalismus (von "Transformationshypothesen", großen demokratischen Revolutionen und sogar extralegalen Aktionsformen ist die Rede, von Antonio Gramsci, Hannah Arendt und Michel Foucault stammen die passenden Kalendersprüche) allerdings einräumen, dass die bundesdeutschen Gewerkschaften beim besten Willen keine Protestbewegung sind, sondern, so die führenden Nachwuchsfunktionäre, "spezialisierte Gesprächspartner bei Politik und Verwaltung" und "Stellvertreter-Organisationen" sowie "unbewegliche, bürokratische Apparate". In diesem Zusammenhang hätte auch ein unverkürzter Alinsky von 1946 ganz gut gepasst: "Seit Gewerkschaften mächtig, reich, fett und respektabel geworden sind, verhalten sie sich mehr und mehr wie das organisierte Kapital. In vielen Fällen glichen sich beide in ihrer Entwicklung so sehr, dass die Gewerkschaften in einem grundlegenden Sinn Partner des organisierten Kapitals geworden sind."
"Die heutigen Gewerkschaftsführungen wissen", heißt es bei Alinsky weiter, "dass ihre Sicherheit von der Absicherung des Kapitalismus abhängt. Deshalb ist es für Gewerkschaften von entscheidender Bedeutung, einen großen Teil ihrer Energie und ihres Erfindergeistes darauf zu konzentrieren, die Stabilisierung und Absicherung von Industrie und Kapital zu erwirken. Das bedeutet im Wesentlichen, dass der gegenwärtige Typus von Gewerkschaftsbewegung durch sein Wesen und Handeln eine starke Stütze und ein Bollwerk zentraler Konzepte des Monopolkapitalismus ist." Konsequenterweise schlossen deutsche Gewerkschaften nach der Lehman-Pleite ganz im Sinne einer derartig systemrelevanten Ordnungsmacht lieber Krisenpakte mit Regierungs- und Unternehmerlager, als eine Anstifter- oder auch nur Sympathisantenrolle bei sozialen Protesten einzunehmen.
Der Jenaer Industriesoziologe Klaus Dörre befürchtet angesichts dieser Entwicklung, dass sich die von ihm selbst und vielen anderen in den letzten Jahren geäußerte Hoffnung, Gewerkschaftsapparate würden sich mittels "Organizing" nach links öffnen lassen, schon jetzt als illusionär erwiesen haben könnte. In einem aktuellen Aufsatz schreibt er: "Es steht kaum zu erwarten, dass sich ein solch ganzheitlicher Organisationswandel durchsetzen lässt, wenn die Zeichen gesellschaftlich-politisch auf - selektiver - Einbindung der Gewerkschaften stehen und die gewerkschaftlichen Führungsgruppen entsprechende Angebote nicht zuletzt aufgrund massiver Zweifel an der Mobilisierungsfähigkeit ihrer Organisationen und unter Preisgabe einer oppositionellen Rolle dankend annehmen. Doch genau diese Weichenstellung ist während der beiden Krisenjahre erfolgt. Vermeintlich schon zugeschlagen, hat sich die Tür für Elitendeals unter Einschluss gewerkschaftlicher Führungsgruppen überraschend wieder geöffnet."
Organizing im deutschen Krisenkorporatismus
In deutlichem Kontrast zur basis-, konflikt- und öffnungsorientierten Rhetorik des "Organizing" haben sich deutsche Gewerkschaftsführungen (nicht zuletzt mit Blick auf die Gruppe der beitragszahlenden Mitglieder aus den Stammbelegschaften) Dörre zufolge dafür entschieden, den Korporatismus industriepolitischer Standortsicherung abermals zu intensivieren. Innergewerkschaftlich hat dieser Kurs erstens die Betriebsratsfürsten weltmarktorientierter Konzerne noch mächtiger gemacht und zweitens dafür gesorgt, dass sich die einst linkssozialdemokratische IG Metall immer deutlicher der weiter rechts stehenden IG BCE annähert.
Was es nun für Organizing-Ansätze bedeutet, wenn in der gewerkschaftlichen Praxis anders als erhofft nicht etwa inklusivere, sondern exklusivere Solidaritätsmodelle auf dem Vormarsch sind, beschreibt Dörre so: "Im organisationalen Kontext derart exklusiver Solidarität mögen neue Methoden und Organisationsformen (Organizing, Campaigning etc.) noch immer ihren Platz haben. Sie mutieren jedoch zu technokratischen Rekrutierungsmaßnahmen, sofern sie nicht in eine kohärente Erneuerungspolitik eingebettet sind. Ohne Bereitschaft zum Konflikt und vor allem ohne soziale und oppositionelle Bewegung in der Gesellschaft ist eine Erneuerung struktureller wie auch organisationaler Machtressourcen eher unwahrscheinlich. Macht, die von den Eliten lediglich geliehen ist, kann sich hingegen rasch als fiktional erweisen, wenn sie nicht durch Organisations- und Konfliktfähigkeit abgesichert wird. Diese Einschätzung gilt gerade auch für den aktuellen ,Krisenkorporatismus'."
Als "technokratische Rekrutierungsmaßnahme" bricht Organizing demnach ebenso wenig wie Campaigning mit der Stellvertreterlogik, sondern führt sie vielmehr fort. Offenkundig fällt es deutschen Gewerkschaften (und ihren PR-BeraterInnen) selbst im Dialog mit sympathisierenden Gruppen im Wissenschaftsbetrieb immer schwerer, den Eindruck aufrechtzuerhalten, Organizing könne eine anti-korporatistische Trendwende einleiten und die Gewerkschaften aus der Krise führen. Aus einer vergleichbaren Enttäuschung heraus hatte Saul Alinsky in "Reveille for Radicals" übrigens die Konsequenz gezogen, anstelle von Gewerkschaften fortan demokratische Militanz zum Lösungsmittel für Ausbeutung, Diskriminierung und soziale Ungleichheit zu erklären: "Die Hoffnung der organisierten Arbeiter liegt letztlich nicht bei den Gewerkschaften, sondern bei einem organisierten, informierten, partizipierenden, dauernd kämpfenden amerikanischen Volk."
Rainer Berger / Malte Meyer
Saul Alinsky: Call Me a Radical. Organizing und Empowerment. Politische Schriften. Lamuv Verlag, Göttingen 2010. 202 Seiten, 9,90 EUR.
Saul Alinsky: Reveille for Radicals. University of Chicago Press, Chicago 1946. 228 Seiten.
Klaus Dörre: Funktionswandel der Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisation. In: Thomas Haipeter/Klaus Dörre: Gewerkschaftliche Modernisierung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011. 304 Seiten, 34,95 EUR.
KP Works: Organizing. Strategie und Praxis. kp edition, Berlin 2008. 168 Seiten, 20 EUR.
René Rudolf/Ringo Bischoff/Eric Leiderer: Protest - Bewegung - Umbruch. Von der Stellvertreter- zur Beteiligungsdemokratie. VSA Verlag, Hamburg 2011. 184 Seiten, 12,80 EUR.