Vor einem heißem Herbst in Israel/Palästina
Der Antrag auf UN-Mitgliedschaft ist ein game-changer
Nach 20 Jahren ergebnisloser bilateraler israelisch-palästinensischer Verhandlungen unter US-Schirmherrschaft über ein Ende der Besatzung und die Gründung eines palästinensischen Staates neben Israel entlang der Grenzen von 1967 steht die palästinensische Autonomiebehörde und die darin dominierende Fatah-Fraktion der PLO vor einem Scherbenhaufen, der einmal ihr Lebenswerk werden sollte - ohne Perspektiven und mit schwindendem Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung. Währenddessen scheint es um Israel trotz aller Unkenrufe der letzten Monate weiterhin bestens zu stehen. Doch der Schein trügt, denn die herannahende Sturmfront wird das Land in den kommenden Monaten gründlich durchschütteln.
Der von Mahmud Abbas, Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde (PA), im September in New York förmlich eingereichte Antrag auf UN-Mitgliedschaft Palästinas war als Fanal zum Auftakt eines "palästinensischen Herbstes" angekündigt. Es ist die letzte Trumpfkarte der PA. Sie soll die Spielregeln des israelisch-palästinensischen Konfliktes verändern, indem das Korsett bilateraler Verhandlungen gesprengt und der Konflikt internationalisiert wird.
Tatsächlich wurde der sogenannte Friedensprozess von Israel bislang stets genutzt, um ungehindert weiter Fakten in Form von Siedlungen in der Westbank und in Ostjerusalem zu schaffen. Damit wurden die Rahmenbedingungen für Verhandlungen immer weiter zuungunsten der PA verschoben.
Gegenwärtig befindet sich der Antrag zur Begutachtung beim UN-Sicherheitsrat. Das absehbare Veto der USA wird ihn dort zwar zu Fall bringen, doch die UN-Vollversammlung wird ihn anschließend wahrscheinlich mit Zweidrittelmehrheit annehmen und die PA dadurch in den Status eines non member observer states erheben.
Letzte Trumpfkarte von Abbas und Co.
Dieser Status beinhaltet die Mitgliedschaft in allen UN-Unterorganisationen, so auch im Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag. Dadurch hätte die PA die Möglichkeit, mutmaßliche israelische Kriegsverbrechen und Verstöße gegen internationales Recht zur Anklage vor dem ICC zu bringen. Dies würde den Druck auf Israel und den Preis für die Aufrechterhaltung der Besatzung tatsächlich signifikant erhöhen.
Doch in der Region ist von alledem bislang nichts zu spüren; kein politischer Tsunami ist in Sicht, wie ihn Israels Kriegsminister Ehud Barak im März dieses Jahres vorhersah. Aus Sicht der Regierung scheint die Lage aber gerade bestens: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat es auf der Bühne der UN mal wieder allen gezeigt und seine bekannte Verweigerungshaltung bekräftigt. Flankiert wurde er von US-Präsident Barak Obama, der dort in einem peinlichen Auftritt aus wahltaktischen Überlegungen seine früheren Positionen zum israelisch-palästinensischen Konflikt geräumt und eine überaus zionistische Rede gehalten hat.
Zur Feier des Tages hat Netanjahu bei seiner Rückkehr gleich den Bau von 1.100 weiteren Wohneinheiten in der Siedlung Gilo in Ostjerusalem bewilligt, mit dem maliziösen, aber korrekten Hinweis, selbst die PA hätte bereits darin eingewilligt, dass Gilo zu Israel gehöre. Dies ist ein Verweis auf die durch die Veröffentlichung der Palestine Papers (vgl. ak 558) publik gewordenen Verhandlungen in der Zeit von Olmert/Livni, in denen die PA tatsächlich zu an totale Selbstaufgabe grenzenden Zugeständnissen gegenüber Israel bereit war, etwa bezüglich Ost-Jerusalem.
Doch je weiter sich die PA erniedrigt, desto unerreichbarer scheint das Ziel eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 zu werden. Auch diese Verhandlungen verliefen im Sand, und genauso zerrinnt die Glaubwürdigkeit der PA in den Augen der palästinensischen Öffentlichkeit, nicht zuletzt forciert durch die Veröffentlichung der Verhandlungsprotokolle durch al-Jazeera. Letztlich will die gegenwärtige israelische Regierung wie andere vor und wahrscheinlich auch nach ihr einfach keinen palästinensischen Staat und keinen Stopp des Siedlungsbaus. Bislang scheint sie damit durchzukommen.
Auch die Sozialproteste dieses Sommers (vgl. ak 564) sind abgeflaut und alle Zeltlager abgebrochen. Die Empfehlungen des infolge der Massendemos der letzten Monate gebildeten sogenannten Trejtenberg-Komittees hinsichtlich nötiger Sozialreformen wurden im zweiten Anlauf doch noch vom Kabinett abgenickt. Passend zu den jüdischen Feiertagen konnte Netanjahu sogar noch die Freilassung des Rekruten Gilad Shalit nach fünfjähriger Gefangenschaft im Gazastreifen bekannt geben, im Austausch mit bis zu 1.000 palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen. Wer sollte da noch unzufrieden sein mit der Regierungsperformance?
Doch die Ruhe trügt. Denn die PA-Initiative bei der UN ist tatsächlich ein game-changer. Welche spezifischen Auswirkungen sie auf die israelisch-palästinensische Achse haben wird, ist noch unklar, doch einige Punkte deuten sich bereits an: Indem sie den Antrag auf UN-Mitgliedschaft gegen den Widerstand der USA durchgezogen hat, zwingt die PA Obama zu einem Veto im Sicherheitsrat, das dem Ansehen der USA und seiner eigenen Glaubwürdigkeit in der Region schweren Schaden zufügt. Und das ausgerechnet in der Zeit des "arabischen Frühlings", durch den die öffentliche Meinung in arabischen Ländern zum Faktor im politischen Spiel wird. Die Tage der USA als Hegemon in der Region sind gezählt, was Israels Isolation zukünftig noch verstärken wird.
Die PA wird kurzfristig ruppige Zeiten durchmachen, sollten etwa Überweisungen der Geberländer ausbleiben, doch ihr Zusammenbruch ist erst mal unwahrscheinlich, da dies auch israelischen Interessen entgegenstünde und im Notfall arabische Länder als Sponsoren einspringen würden. Daher wird der Kampf um eine Zweistaatenlösung wohl noch etwas weitergehen, denn es ist das politische Projekt der PLO/PA. Fällt die Autonomiebehörde, dann begräbt sie auch die Zweistaatenlösung.
Der Gang vor die UN ist dennoch kein strategisch durchdachter Schritt der PA, sondern eine Taktik, um Zeit zu gewinnen, und ein verzweifelter Versuch, die Karten des Spiels neu zu mischen. Konkrete Ergebnisse wird Abbas zunächst nicht präsentieren können, denn die Besatzung geht so oder so weiter. Die Internationalisierung bringt zwar Zeit und etwas Legitimität zu Hause, ändert aber nichts Grundlegendes.
Weder Netanjahu noch Abbas haben in der Hand, was folgt
Um die Besatzung wirkungsvoll angreifen zu können, bräuchte es einen mit der PA-Initiative koordinierten zivilen Aufstand im Stile des arabischen Frühlings. Doch wer soll den organisieren? Bisher scheint die Neigung zu einer dritten Intifada in der Westbank denkbar niedrig zu sein, und die PA regiert weiterhin im Stile autoritärer Regime. Allerdings haben die Palestine Papers ihrem Ansehen großen Schaden zugefügt, die noch vor Kurzem gefeierte Versöhnung mit Hamas wurde von Abbas nie praktisch umgesetzt, und die Frage der Flüchtlinge von 1948 wurde von der PA in ihrer UN-Initiative gleich ganz ausgeklammert.
Die PA dürfte eine eventuelle dritte Intifada daher mit Skepsis betrachten. Würde sich dieser Aufstand nur gegen Besatzung oder auch gegen PA richten? Man muss schon ziemlich optimistisch sein, um ein Szenario vorherzusehen, in dem der arabische Frühling in seiner Wucht auch in Palästina erwacht und im Zusammenspiel mit öffentlicher Meinung und Regierungshandeln in den arabischen Nachbarländern ein Momentum entfacht, in dem Israel aus der Westbank verdrängt wird. Dies wäre der diplomatische Tsumani, den Barak befürchtet.
Angenommen, der bleibt aus, dann ist die Zweistaatenlösung jetzt schon tot. Denn die Trennung der Territorien und der beiden nationalen Bevölkerungsgruppen wird praktisch von Tag zu Tag weniger umsetzbar. Eine territoriale Integrität des palästinensischen Staates ist bereits heute kaum vorstellbar. Die Zweistaatenlösung ist also bereits eine Totgeburt, wenn sich nichts dramatisches ändert.
Über kurz oder lang liefe dies auf die Desintegration der PA infolge von Aufständen hinaus, die auch in einen palästinensischen Bürgerkrieg umschlagen könnten. Israel würde dann notgedrungen erneut die volle Verantwortung in den besetzten Gebieten übernehmen, und die PalästinenserInnen könnten dann auf die Idee kommen, die Forderung nach one (wo)man one vote zu erheben, also die Aufnahme in den israelischen Staat beantragen, in dessen Herrschaftsgebiet sie seit Jahrzehnten leben. Dies wäre die Mutter des Tsumanis, den Barak befürchtet, weil Israel in diesem Fall nur die Wahl bliebe, entweder kein jüdischer Staat oder ein Apartheidstaat zu werden, in dem eine jüdische Minderheit über eine palästinensische Mehrheit auf ethnischer Grundlage herrscht.
Kein Wunder, dass zahlreiche KommentatorInnen in den israelischen Medien derzeit die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und eine politische Initiative Israels anmahnen, die eine politische Lösung des Konflikts ermöglicht, bevor es zu spät ist. Beiden Seiten in diesem Konflikt kann man nur wünschen, dass sich etwas Positives aus der palästinensischen UN-Initiative entwickelt, deren Folgen weder Abbas noch Netanjahu in der Hand haben.
Auch innerhalb Israels stehen die Zeichen auf Sturm. Die Empfehlungen des Trejtenberg-Komitees zur Linderung der von der sommerlichen Protestbewegung angemahnten sozialen Schieflage werden von der Regierung wohl nicht umgesetzt werden. In den Augen der Bewegung finden sie ohnehin keine Gnade: Vor allem hinsichtlich der Frage bezahlbaren Wohnraums und der zunehmend prekarisierten Arbeitsverhältnisse seien die Empfehlungen unzureichend, wird kritisiert. Zudem seien anstelle eines geforderten erweiterten neuen Haushalts zur Finanzierung sozialer Reformen lediglich Umschichtungen auf Kosten anderer Ressorts vorgesehen, vor allem des aufgeblähten Verteidigungsressorts.
Ab Mitte Oktober sind neue Proteste angekündigt. Ein landesweiter Streik der Studierenden mit Beginn des Semesters ist geplant. Nach monatelangem Tauziehen mit der Regierung haben über 380 KrankenhausärztInnen aus ganz Israel Anfang Oktober ihren Job aus Protest gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen gekündigt und bleiben bis auf Weiteres zu Hause mit unabsehbaren Folgen für das öffentliche Gesundheitssystem. Prompt schlossen sich Tausende jüngerer WissenschaftlerInnen an israelischen Universitäten ihrem Protest an; sie rufen für Ende Oktober zu einem Streik gegen ihre miesen Arbeitsbedingungen auf.
Besorgniserregend sind die gestiegenen Aktivitäten eines aus der Siedlerbewegung gespeisten militanten jüdisch-israelischen Untergrunds, der mit Angriffen gegen Wohnsitze bekannter linker Israelis, mit Angriffen gegen Armeeeinheiten (!) in der Westbank, Brandstiftungen an Moscheen in der Westbank und nun auch in Galiläa sowie mit Schändungen arabischer Gräber in Yaffa und viel anti-arabischer Hassgraffiti im ganzen Land auf sich aufmerksam macht. Die israelischen Geheimdienste sind auf diesem Auge traditionell erschreckend blind, und so dürften sich diese Vorfälle noch eine Weile fortsetzen.
Innerhalb Israels stehen die Zeichen auf Sturm
Die TäterInnen zielen darauf, den politischen Konflikt zwischen Israelis und PalästinenserInnen in einen religiösen Konflikt zu überführen; sie zündeln den Clash of Civilisations herbei und spielen zudem mit der in Israel unterschwellig immer verbreiteten Angst vor einem jüdischen Bürgerkrieg. Es ist, als ob die Siedlungsbewegung nach der Westbank nun auch Israel selbst erobern wolle.
Es sind Geister, die die Regierung Netanjahu mit einigen ihrer skandalösen anti-demokratischen und anti-arabischen Gesetzesinitiativen selbst gerufen hat, etwa mit der Idee, die Staatsbürgerschaft von einem Loyalitätsschwur zu Israel als jüdischem Staat abhängig zu machen, was für mindestens 20 Prozent der israelischen Bevölkerung (nämlich die palästinensische Minderheit) nicht infrage kommt.
Die beiden Strömungen innerhalb der israelischen Gesellschaft werden irgendwann unweigerlich aufeinanderprallen. Man kann nur hoffen, dass die Bewegung des israelischen Sommers sich zu einer wahrhaft inklusiven und den Rechten aller BewohnerInnen des Landes verpflichteten Massenbewegung auswachsen wird, die mächtig genug ist, um die faschistoide Alternative zu verhindern, die sich derzeit warmläuft.
Achim Rohde