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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 565 / 21.10.2011

Die Kinder der Nachbarn

Was die Riots in England mit Jugendprotesten in Köln-Kalk verbindet

Kaum waren die Riots, die Anfang August England erschütterten, vorbei, begann der Kampf um die Deutung der Ereignisse, in der auch linke Stimmen zu hören waren. Aber hat auch jemand mit den Beteiligten gesprochen? Diese Frage geht Michael Barg durch den Kopf, als er von den Ereignissen hört. Sie erinnert ihn an eine Erfahrung, die er vor Jahren im Kölner Stadtteil Kalk gemacht hat. Als es dort zu spontanen Jugendprotesten kam, redete alle Welt über die Jugendlichen, aber niemand mit ihnen. Michael Barg, der im Stadtteil lebt und arbeitet, gehörte zu den wenigen, die auf den Versammlungen das Gespräch suchten. In ak berichtet er vom Kampf um Würde und linken Versäumnissen.

Am 9. August 2011 sendet die BBC ein Interview mit dem in Trinidad geborenen britischen Autor und Bürgerrechtler Darcus Howe. Howe steht auf einer Straße, die in der Nacht zuvor Schauplatz heftiger Krawalle war - im Hintergrund ist ein ausgebranntes Gebäude zu sehen, in das die Feuerwehr Löschwasser spritzt -, als die BBC-Reporterin Fiona Armstrong ihn fragt: "Marcus Dowe, sind Sie schockiert von dem, was Sie gestern Nacht erlebt haben?" Darcus Howe verneint und beginnt, über die Erfahrungen seines Enkelsohns mit Polizeikontrollen zu sprechen, doch die Reporterin unterbricht ihn: "Sie sagen, Sie sind nicht schockiert, bedeutet das, Sie billigen, was letzte Nacht in Ihrer Nachbarschaft geschehen ist?" Howe erklärt, ihn beunruhige vor allem, dass ein Polizist dem jungen Mark Duggan Tage zuvor in den Kopf geschossen habe und dass es üblich sei, dass schwarze Jugendliche wie sein eigener Enkelsohn ohne jeden Grund von der Polizei angehalten und kontrolliert würden. Armstrong unterbricht Howe erneut, und nach einigem Hin und Her fragt sie: "Verstehe ich Sie richtig, dass Sie in der Vergangenheit selbst an Krawallen beteiligt waren?"

Besonders diese Unterstellung ruft Empörung hervor, so dass sich die BBC wenig später offiziell dafür entschuldigt. Doch mindestens ebenso aufschlussreich sind die Minuten, die dem Satz vorangehen, denn sie dokumentieren eine umfassende Ignoranz der weißen BBC gegenüber der Sichtweise und Deutung der Ereignisse durch den schwarzen "Stadtteilbewohner" Darcus Howe - und das, obwohl "Marcus Dowe", wie die Reporterin ihren Gesprächspartner eingangs nennt, in genau dieser Eigenschaft interviewt wurde.

Es kommt nicht häufig vor, dass sich die rassistische Struktur der (Medien-)Öffentlichkeit so unverblümt zeigt wie im Fall Fiona Armstrong vs. Darcus Howe - und noch seltener wird ein Skandal daraus. Doch das Muster lässt sich auch an anderen Orten studieren. Zum Beispiel in Köln-Kalk.

Am Freitag, den 18. Januar 2008, kommt es auf der Kalker Hauptstraße in Köln zu einem Zwischenfall mit Folgen. Zwei Jugendliche überfallen zwei junge Männer. Einer der Überfallenen wehrt sich mit einem Messer und sticht einem Angreifer in die Brust. Der 17-jährige Salih L., dessen Familie aus Marokko stammt, läuft ein paar Schritte, bricht zusammen und stirbt. Der junge Deutsche, der ihn erstochen hat - wie sich später herausstellt, ist seine Familie einige Jahre zuvor aus Kasachstan nach Köln gezogen -, wird von der Polizei am Tatort vernommen und laufen gelassen. Am nächsten Tag erklärt die Staatsanwaltschaft, er habe in Notwehr gehandelt.

Im Stadtteil Kalk, einem Arbeiterviertel mit hohem Migrantenanteil, sorgt der Fall für Empörung. Viele fragen sich, ob wohl ebenso schnell auf Notwehr entschieden worden wäre, wenn der Tote ein Deutscher und der "Messerstecher" marokkanischer Herkunft gewesen wäre. Wenige Wochen zuvor hatte der Fall der "Münchner U-Bahn-Schläger" Schlagzeilen gemacht. Zwei junge Männer hatten in einer Münchner U-Bahnstation einen Rentner bewusstlos getreten. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch schlachtete den Fall für seinen Wahlkampf aus: "Wir haben zu viele kriminelle Ausländer", eiferte er in Bild.

Kaum jemand von Salihs Freunden glaubt daher der Darstellung der Polizei und Staatsanwaltschaft; viele Jugendliche aus dem Viertel haben selbst Erfahrungen mit grundlosen Polizeikontrollen und rassistischer Behandlung durch Behörden, VermieterInnen, Nachbarn und ArbeitgeberInnen gemacht. Am späten Nachmittag versammeln sich immer mehr Jugendliche an der Todesstelle.

Michael Barg ist an diesem Nachmittag an seinem Arbeitsplatz im Naturfreundehaus, einem Stadtteilzentrum in Kalk. Als er hört, dass sich Jugendliche auf der Kalker Hauptstraße versammeln, geht er hin, um zu sehen, was los ist. "Da standen vielleicht 150 Jugendliche an der Ecke Josephskirchstraße, sie hatten ein Bild aufgehängt, Kerzen aufgestellt und unterhielten sich." Auf Nachfrage erfährt er, was geschehen ist. Viele der Jugendlichen sind Freunde von Salih, SchulkameradInnen von der Max Albermann Schule oder Mannschaftskameraden vom Fußballverein Deutz 05. Außerdem hört er, dass der 17-jährige seinen Realschulabschluss machen wollte und nebenher im Kiosk gejobbt hat.

Am nächsten Tag ist die Versammlung schon größer, auf vielleicht 300 schätzt Michael Barg die Zahl der Anwesenden, vor allem Jugendliche aus dem Stadtteil, die meisten arabischer, türkischer, kurdischer Herkunft. Schnell formiert sich eine kleine Demonstration. Michael Barg, der auch politisch im Stadtteil aktiv ist, ist mit ein paar FreundInnen da, sie haben ein Transparent dabei, "Widerstand gegen soziale Ausgrenzung und Rassismus. Kein Mensch ist illegal", steht darauf. Als die Organisatoren der Demo, eine Gruppe junger Männer, das sehen, bitten sie darum, es als Fronttransparent benutzen zu dürfen.

In der Demonstration gibt es einige selbstgemalte Schilder, die "Gerechtigkeit" fordern. Auf einem steht "U-Bahn-Schläger 15 Jahre, deutsche Mörder in die Freiheit" - ein direkter Verweis auf die Debatte um die Attacke in München. Die Gruppe um Michael Barg gehört zu den wenigen "Deutschen", die mitlaufen, vereinzelt sind noch andere im Stadtteil bekannte Linke dabei, ein Stadtrat der Linkspartei zum Beispiel. Das war es dann auch.

Obwohl die Demonstration ohne Zwischenfälle endet, wird sie am nächsten Tag heiß diskutiert. "Ein CDU-Mann zog Parallelen zu den Krawallen in den französischen Banlieues - ,jetzt drohen französische Verhältnisse' - und viele Deutsche haben sich bedroht gefühlt. ,Wer war denn das, was machen die, oh Gott, oh Gott' - das war die Stimmung, wie ich sie am nächsten Morgen mitbekommen habe", sagt Michael Barg. Auch viele Linke rümpfen die Nase, vor allem weil einige DemonstrantInnen nicht nur "Gerechtigkeit" verlangt, sondern auch "Allahu akbar" gerufen hatten. Und: "Es gibt nur einen Gott".

"Stimmt, das haben sie gerufen", sagt Michael Barg. "Und das haben die Leute, die am Rand standen, als Angriff auf sich wahrgenommen. Aber sie haben es völlig falsch verstanden! Ich habe nachgefragt, warum ruft ihr Allahu Akbar, und die Erklärung der Jugendlichen war ganz einfach: um deutlich zu machen, dass es nur einen Gott gibt, dass vor Gott alle Menschen gleich sind und man sie nicht anders behandeln soll als blonde deutsche Jugendliche!"

Zwischen dieser Positionierung und ihrer Wahrnehmung durch die meisten "Deutschen" - und auch die Mehrzahl der Medienberichte - besteht ein Zusammenhang. Der Zusammenhang ist der alltägliche Rassismus, der für die einen eine persönliche Erfahrung, für die anderen, für die "Mehrheitsgesellschaft", nicht existent ist. Das Problem liegt auf Seiten der "Mehrheitsgesellschaft", die für religiöse Rufe nur die Deutung "Islamismus" kennt - und die, weil sie nicht das Gespräch mit den Jugendlichen sucht, auch keine andere Interpretation entwickeln kann. Von Empathie gar nicht zu sprechen.

Auch in den nächsten Tagen versammeln sich die Jugendlichen; am Mittwoch, den 23. Januar, sind es bereits mehrere Hundert. Die Polizei ist ebenfalls stärker präsent, sie bildet einen Kessel um die Gruppe. "Aber es kamen immer mehr Jugendliche, auch aus den Nachbarbezirken, und sie wurden langsam sauer. Die Polizei machte den Kessel immer enger, offenbar hatten sie einen entsprechenden Befehl bekommen, und ich bekam das Gefühl, gleich explodiert die Stimmung." Michael Barg kann sich noch gut an die Situation erinnern, denn dann passierte etwas, das ihn bis heute beeindruckt.

"Während ich noch dachte, gleich knallt's, nahm plötzlich einer der Jugendlichen ein Megaphon und sagte: ,Setzt euch alle hin!' Und in dem Moment schlug die Stimmung um, und zwar in einer Weise, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Jugendlichen setzten sich hin, und dann standen einzelne auf - fast nur Männer, vielleicht zwei Frauen - und sprachen von ihrem Leben, einer machte sogar einen Freestyle Rap. Einer erzählte zum Beispiel, jedes Mal, wenn er zum FC Köln geht, wird er kontrolliert - weil er schwarze, krause Haare hat. Und ein anderer sagte: ,Es ist doch immer das Gleiche: Wenn wir Bewerbungen schreiben, wenn wir die Postleitzahl 51103 darauf schreiben, ist eh schon klar, dass wir die Lehrstelle nicht bekommen.' Ein Älterer stand auf und sagte zu den Bereitschaftspolizisten, die nicht wesentlich älter als die Jugendlichen waren: ,Ihr habt Glück, ihr habt eine anständige Arbeit, wir haben gar nichts, ihr habt eine Zukunft, wir haben keine, ihr müsst uns verstehen.' Dieser Appell - auch wenn ich den Inhalt nicht teile - hatte in der Situation eine unglaubliche Kraft. Und ganz langsam lockerte sich der Ring der Polizei, einfach weil die Polizisten in der ersten Reihe das nicht mehr aushalten konnten, den Druck, den die Jugendlichen erzeugt haben, indem sie sich so verhalten haben, wie sie sich verhalten haben!"

Auch an diesem Mittwoch geht es um den Tod von Salih und die Betroffenheit, die er auslöst. Doch immer stärker tritt die Wut über den Alltagsrassismus und die soziale Perspektivlosigkeit in den Vordergrund. Und das Gefühl, ausgeschlossen zu sein: "Wenn du irgendjemanden gefragt hast, was habt ihr denn für ne Forderung, haben sie gesagt, wir haben keine Forderungen, wir sind nicht politisch. Und direkt hinterher sagen sie, was ist das für eine Schweinerei, dass wir so schlecht behandelt werden, dass wir keine Ausbildungsplätze kriegen - und vor allem: dass die Leute uns nicht als Kalker wahrnehmen. Das war wirklich ganz stark: ,Wir wollen als Teil der Bevölkerung hier wahrgenommen werden, wir sind Kalker.'"

Einige Gruppen versuchen, Einfluss auf die OrganisatorInnen der Proteste zu nehmen, Michael Barg beobachtet eine salafistische Gemeinde und eine Gruppe stark verschleierter Frauen. Beide versuchen, die religiösen Elemente zu verstärken. Auch Gangs aus dem Stadtteil sind da. Sie stehen am Rand und checken, was passiert. "Ab und zu sind Einzelne zu den jungen Männern, die was zu melden hatten, rüber gegangen und haben konferiert", erinnert sich Michael Barg. "So wie wir das auch gemacht haben und wie die verschleierten Frauen das auch gemacht haben. Es war wirklich ein Kampf um Einfluss. Aber die Jugendlichen haben sich sehr schlau verhalten. Sie haben alle Einflussversuche ,zugelassen', allen gesagt, schön, dass ihr da seid. Aber sie haben ihren Protest nicht aus der Hand gegeben, niemanden zu nah an sich heran gelassen."

Im Stadtteil lösen die Aktionen der Jugendlichen eine breite Solidarisierung der migrantischen Bevölkerung aus, die sich auf die Seite ihrer Kinder schlägt. Die deutsche Bevölkerung hält sich fern, auch der Großteil der Linken, FernsehreporterInnen reden Bedrohungsszenarien herbei, und in den Kommentarspalten von indymedia häufen sich zynische Bemerkungen nach dem Motto "Ein Kleinkrimineller hat gekriegt, was er verdient hat."

Auch das ist eine Parallele zu den Ereignissen in England: Die Geschichte des Jugendprotests in Köln-Kalk dokumentiert, wie wenig die Linke zu den Konflikten des Alltags zu sagen hat. Spontane Empathie ist eine Seltenheit geworden, ein Verständnis dafür, wie sich Rassismus und soziale Fragen im Alltag mischen, existiert allenfalls theoretisch. Weil viele Linke sich daran gewöhnt haben, sich selbst nicht als Teil der Gesellschaft zu sehen, sondern sich lieber als ihr Gegner in Szene setzen, sind ihnen Forderungen nach Anerkennung und Inklusion suspekt. Doch wenn Linke Desinteresse demonstrieren, weshalb sollte man mit ihnen sprechen, anstatt mit Gangs oder religiösen Kräften?

"Die meisten Linken haben es verlernt, ihre Nachbarn als Nachbarn zu begreifen", meint auch Michael Barg, "als Leute, mit denen sie zusammenleben und für deren Probleme sie sich interessieren. Höchstens fällt ihnen noch ein, ein Flugblatt zu verteilen, auf dem steht, wie man die Gesellschaft eigentlich kritisieren sollte. Aber darum geht es nicht, die Jugendlichen haben um Würde und Anerkennung gekämpft. In so einem Moment kannst du dich nicht hinter einem Flugblatt verstecken, sondern du musst dort hingehen, dabei sein - und dann mit den Leuten reden."

Jan Ole Arps