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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 565 / 21.10.2011

Tatatataaa

Der Gewerkschaft ver.di zum zehnten Geburtstag

Allein machen sie dich ein

"Ver.di - da ist Musik drin!" Mit diesen Worten verkündeten die Vorsitzenden der Gewerkschaften DAG (Deutsche Angestellten-Gewerkschaft), ÖTV (Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr), HBV (Handel, Banken und Versicherungen), IG Medien und der Deutschen Postgewerkschaft ihren zusammen mehr als drei Millionen Mitgliedern die Namenswahl für die neue, gemeinsame Organisation. Ende September hat die "Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft» (knapp zwei Millionen Mitglieder, Durchschnittsalter 53 Jahre) ihren zehnten Jahrestag und ihren dritten Bundeskongress begangen. Jetzt ist sie also zehn. Was, schon? Häh, erst? Pff, na und? Es kommt wohl auf die Perspektive an. Wir haben drei ver.di-Mitglieder gefragt, was ihnen zum Geburtstag einfällt.

Selbstgewählte prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die es ermöglichen, mit ein bisschen Jobben über die Runden zu kommen, um sich den wirklich wichtigen politischen Aktivitäten zu widmen, kenne ich nur aus Erzählungen aus den 1980er Jahren. Bei anhaltend sinkenden Löhnen und steigenden Kosten wird ein Taxifahrer- oder Kellnerjob heute zur Knochenarbeit für diejenigen, die davon leben müssen. Aber auch andere beliebte ehemalige Nischen wie Bildungsarbeit oder vergleichbare Projektarbeit sind alles andere als gut bezahlt. Also: Was tun?

"Wir müssten eigentlich über unsere Arbeitsbedingungen nachdenken..." In linken Diskussionen ist dieser Satz immer öfter zu hören, meist bleibt es aber genau dabei. Selbst Arbeitskämpfe zu führen, ist innerhalb der Szene-Linken nach wie vor eine Seltenheit. Wegen des wachsenden ökonomischen Drucks müssen wir unsere Nischen verlassen und uns ganz banal fragen, wie wir die nächste Betriebskostenabrechnung bezahlen sollen. Auch wenn wir uns als freiberufliche GrafikerInnen, FotografInnen, LebenskünstlerInnen, BabysitterInnen und wissenschaftliche MitarbeiterInnen über die Runden bringen: Auch wir sind Arbeitende. Aber wo und wie organisieren wir uns?

Wir könnten uns in ver.di organisieren, denn das ist die Gewerkschaft, die auch für freiberuflich prekär Arbeitende offen ist. Da gibt es zum Beispiel Connexx.av (www.connexx-av.de), die Unterstützung und Service für Medienschaffende bietet. Es gibt aber auch die Vernetzung für Selbstständige und freie MitarbeiterInnen in ver.di (http://freie.verdi.de). Wenn wir nun gemeinsam bei ver.di eintreten würden, was wird ver.di dann für uns tun?

Nichts. Wir würden alle die ver.di-Zeitung publik lesen können, eine Mitgliedskarte und Vorteilsangebote erhalten, wie in anderen Clubs. Wer aber in einer Gewerkschaft keinen Club sondern eine kämpfende Organisation sucht, muss anfangen, selbst in ihr zu kämpfen. Ver.di ist erstmal nicht mehr als ein Möglichkeitsraum, der auf Grund seiner jüngeren Geschichte und der älteren Traditionen der jeweiligen Einzelgewerkschaften alles andere als leicht zugänglich oder besonders fortschrittlich ist.

Bei einigen Themen vertritt ver.di sogar regelrecht reaktionäre Positionen. Indem ver.di beispielsweise für ein Leistungsschutzrecht für Verlage eintritt, werden zwar die geschrumpften und gealterten Stammbelegschaften von Zeitungsverlagen vertreten. Gleichzeitig wäre ein solches Recht aber das Aus für viele BloggerInnen, denn ein solches Recht würde bedeuten, dass jedes verlegerische Werk - ob es nun ein Artikel oder ein Link ist - sein eigenes Verwertungsrecht bekäme. Wer es weiterverbreitet, muss dafür zahlen. Da die BloggerInnen bei ver.di zwar vielleicht einzeln Mitglieder aber nicht als BloggerInnen organisiert sind, wird ihr Protest dagegen leider auch nicht ernst genommen. Hier wird deutlich: Sich in ver.di zu organisieren, ist widersprüchlich und sicherlich nicht einfach. (Siehe ak 550)

Wie also könnte ein Organisieren bei ver.di aussehen? Mir ist kein Patentrezept dafür bekannt. Ich habe lediglich einige Anknüpfungspunkte. Die haben zwar wenig mit mir als prekär Arbeitende zu tun, sind aber ein erster Schritt, ein Kennenlernen und Verstehen der Organisation und der Spielräume darin. Ein solcher Anknüpfungspunkt war für mich die Dichtmachen-Aktion in Berlin. (Siehe ak 530) Nach monatelanger gemeinsamer Vorbereitung durch mehrere linke Gruppen, Gewerkschaftsfunktionäre, aktive KollegInnen und Betriebsräte haben am 6. Juni 2008 etwa 50 streikende Beschäftigte und 50 linke AktivistInnen um 6 Uhr morgens gemeinsam eine Reichelt-Filiale in Berlin bestreikt und de facto dichtgemacht.

Die Reaktionen auf diese Aktion waren enorm: Der Filiale entstand ein spürbarer Schaden, die öffentliche Resonanz war positiv. Dieser Streik hat zwar die Probleme im Einzelhandel nicht gelöst. Aber diese Aktion war für alle Beteiligten ein ermutigender Anknüpfungspunkt, ein erster Schritt zu einer Praxis, in der unterschiedliche Kampferfahrungen miteinander produktiv werden können.

Susanne Lang

Susanne Lang arbeitet seit 14 Jahren freiberuflich in unterschiedlichsten Projekten und ist seit 2007 Mitglied bei ver.di.

Happy Birthday, Chancengewerkschaft!

Zum Geburtstag zu gratulieren ist einfach: Alles Gute, lass dich feiern und weiterhin viel Erfolg auf all deinen Wegen! Bei einer politischen Organisation wird es schon schwieriger - insbesondere wenn das Pfingstfest der Liebe noch aussteht und noch nicht einmal alle Menschen halbwegs vernünftig leben können. Wenn man sich dann auch noch die Frage stellt, ob diese Organisation überhaupt einen Beitrag leisten will, das zu ändern ... Trotzdem möchte ich alles Gute sagen und den in ver.di organisierten Menschen alles Liebe und viel Erfolg wünschen. Schließlich sind, so stellt es der sehenswerte Film "We want sex" klar, "wir die Arbeiterklasse" und dieses "Wir" hat - so hoffe ich und wünsche es mir - noch verdammt viel vor.

Mich verbindet viel mit den Kämpfen der Klasse und auch einiges mit ver.di. Sicherlich gibt es bessere KommentatorInnen für die Entwicklung dieser Organisation - eine Vertrauensfrau aus einem vormals öffentlichen Betrieb zum Beispiel könnte die Möglichkeiten und Grenzen von ver.di sicher besser einschätzen. Zu allem Überfluss gibt es von Martin Kempe, dem früheren Chefredakteur der ver.di Mitgliedszeitschrift publik, einen lesenswerten Essay zur Entwicklung der Organisation und ihren Möglichkeiten. Kempe bezeichnet ver.di als "Chancengewerkschaft". Aus meiner Sicht ist viel dran an dieser Beschreibung. Und genau hier sind wir bei 10 Jahren ver.di und meinem Blick darauf.

Schlechte Bezahlung, fehlende Ausbildungsplätze, Diskriminierung am Arbeitsplatz, Befristungen, Arbeiten ohne Ende und fehlende Perspektiven sind tägliche Probleme vieler Beschäftigter. Für diese Probleme suchen sie Hilfe. Dabei spielen politische Analysen erstmal keine Rolle. Wenn das Geld für gar nichts reicht, ist es sekundär, ob der Wechsel vom Fordismus zum Postfordismus für die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses gesorgt hat. Dann braucht es zunächst mal eine Lösung für das Geldproblem. In diesem Sinne sind Gewerkschaften nach wie vor Sammelpunkte des Widerstandes gegen die Grausamkeiten des Kapitals.

Hierfür versuche ich als Hauptamtlicher einen Weg vorzuschlagen: den Weg gewerkschaftlicher Organisierung. Am Ende steht im Idealfall eine kollektive Lösung. Dieser Weg ist schwer, ein Scheitern immer möglich. Trotzdem ist es der einzig vernünftige Weg zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse im Hier und Jetzt. Ver.di ist in diesem Sinne eine Wegbereiterin. Insbesondere versucht ver.di, diesen Weg für neue Gruppen gangbar zu machen.

Seit Jahren kämpft ver.di für die Rechte der Pflegerin im diakonischen Krankenhaus, für den Call-Center-Agent oder für die Verkäuferin bei H&M. Spaltungen anhand von Pass, Geschlecht oder sexueller Orientierung sind zumindest Thema in ver.di, die Vielfalt der Klasse spiegelt sich wieder. Stellvertreterpolitik weicht immer mehr dem Wissen um die Notwendigkeit von Selbstermächtigung. Soziale Bewegungen werden mehr und mehr als Partner gesehen, und manche sehen sogar ver.di als soziale Bewegung. Das sind Chancen.

Also alles top? Keineswegs! Gerade in den Diskussionen über die Atomkraft oder die Bundeswehr lässt sich das verdeutlichen. Noch immer kann sich ver.di nicht zu den notwendigen Positionen für die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen und der unsinnigen Bundeswehr durchringen. Dabei geht es doch um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen?! Noch nicht einmal ein Gleichklang ist hier erreicht, Arbeit geht für viele FunktionärInnen vor. Zwei weitere Maluspunkte sammelt ver.di, weil sie es nicht schafft, die Auseinandersetzung um die Arbeitszeit als Thema zu setzen - das wäre eine Möglichkeit, auf die Produktivitätssteigerungen zu reagieren - und weil sie die Lohnspreizung durch prozentuale Lohnforderungen festschreibt, anstatt gleiche Festbeträge für alle zu fordern.

Warum trotzdem "Happy Birthday ver.di"? Nichts ist einfacher zu beantworten: Vor wenigen Wochen war ich in der nordhessischen Provinz auf einer Mitgliederversammlung mit fast hundert Kolleginnen und wenigen Kollegen. Anlass war die mögliche Aufnahme eines Arbeitskampfes. Nach der Entscheidung der KollegInnen für einen Streik sagte meine hauptamtliche Kollegin, dass ihr Kampf von anderen Betrieben geteilt wird und dass KollegInnen aus anderen Betrieben zur Streikkundgebung kommen werden. Sofort brach Jubel aus, alle klatschten, die Freude war zu spüren. Mir standen die Tränen in den Augen und ich wusste warum: Weil - "wir sind die Arbeiterklasse". Für uns gibt es eine Welt zu gewinnen. Diese Welt wird uns niemand schenken. Diskussion mit den KollegInnen - um eine andere Politik - heißt das zu verrichtende Tagewerk.

Fabian Rehm

Fabian Rehm ist ver.di Mitglied seit 2002 und arbeitet inzwischen als Gewerkschaftssekretär im Landesbezirk Hessen.

Krake mit appen Armen

Peter, und was denkst du über "zehn Jahre Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft"? Du hast 4.000 Zeichen, bis zum 10. Oktober, bitte! Danke der Nachfrage, aber das ist wirklich schwer zu beantworten. Ich brauche ein paar Zeilen und ein paar Jahre mehr. Wäre einfacher, wenn ihr nach der IG Metall fragen würdet. Die IG Metall ist eine Organisation, da weiß man, was man hat, wo oben und unten ist. Aber ver.di? Ver.di ist keine Organisation, eher eine Krake. Doch anders als bei einer richtigen Krake können sich die Arme vom Körper lösen und sich ganz eigenständig auf dem Meeresgrund bewegen. Leider erreichen sie fast nie die Wasseroberfläche.

Wer also ist ver.di? Mein prekarisierter Kollege, der wieder nur einen Werkvertrag bekommen hat? Die Kollegin, die morgens im Büro aufräumt, bevor alle anderen kommen - und das für ein Viertel des durchschnittlichen Lohns? Die Personalversammlung, auf der die Kernbelegschaft dominiert? Oder irgendein Typ, der in der Kantine der Bundesverwaltung oder in einem piefigen Bezirksbüro sitzt, früherer Genosse, und langsam immer unglücklicher wird? Die Antwort ist nicht, dass diese alle ver.di sind (das wäre total verlogen), aber die Tatsache, dass alle in ver.di sind, macht die Antwort auch nicht einfacher.

Ver.di erklärt sich für Kolleginnen und Kollegen zuständig, deren soziale Kämpfe für die Klassenkämpfe enorm wichtig sind: im Gesundheitsbereich, in der Pflege, auch in einigen Bereichen der Industrie. Die Zahl der Streiks in diesen Sektoren ist selbst in der Krise noch vergleichsweise hoch. Auch kommende soziale Konflikte werden nicht zuletzt in diesen Bereichen ausgetragen. Und die Frage nach der Organisierung der Prekarisierten ist, ob man will oder nicht, auch eine Frage nach der Rolle von ver.di. Ver.di ist wichtig, leider.

Trotzdem kommt mir kein Glückwunsch über die Lippen. Auf dem Leipziger Bundeskongress, höre ich, habe es viele "progressive Anträge" gegeben: Gefordert wurden sowohl Arbeitszeitverkürzung als auch ein politisches Streikrecht. Wenn ich die Homepage des Kongresses öffne, dann sehe ich ein Label, das sich selbst labelt, lauter Filmchen, Leute, die rote Enten mit dem ver.di-Logo in einem See "freilassen" usw. Sinkende Mitgliederzahlen? Streikfähige konkurrierende Branchengewerkschaften? Immerhin, es wurde gefeiert bis der Arzt kommt (der übrigens, ha, ha - im Marburger Bund organisiert ist).

Und die "progressiven Anträge"? Manche Delegierte sprachen mit Recht davon, dass "wir schnellstmöglich eine Gegenstrategie brauchen." Arbeitszeitverkürzung mit vollem Personalausgleich, am besten auf 24 Stunden in der Woche! Und viele Delegierte wissen, dass sich die durchschnittliche Situation der Beschäftigten selbst in "Deutschlands zweitem Wirtschaftswunder" dramatisch verschlechtert hat.

Aber was macht die Gesamtkrake damit? Sie begräbt das alles dritter Klasse "als Material an den Vorstand". Die Lage ist ernst, die Krake bleibt auf dem Meeresboden. Bleibt das so, wird ver.di in einer Situation sich zuspitzender sozialer Kämpfe im besten Falle eine Randfigur sein, im schlechtesten Falle eine Bremse. Und auch der Genosse im Bezirksbüro wird daran nichts ändern.

Peter Birke

Peter Birke ist seit 1984 Mitglied der IG Druck und Papier, später der IG Medien / ver.di. Zurzeit arbeitet er am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg (der früheren HWP).