Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de
ak bei facebook

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 566 / 18.11.2011

Tödliche Fälschung

Kultur Umberto Ecos vielschichtiger Roman über die »Protokolle der Weisen von Zion«

Von Jens Renner

Dem deutschen Feuilleton gefällt er nicht: Umberto Ecos neuer Roman »Der Friedhof in Prag« sei ein »Fehlschlag«, der Autor »gescheitert an seinem Spieltrieb«, er habe mal wieder seinen akademischen »Zettelkasten« als Roman ausgegeben und sich dabei selbst »verzettelt«. Angereichert wird die Kritik mit (vergiftetem) Lob für die »Gelehrsamkeit und Phantasie« des Professors - auch das hat seit Ecos genialem Erstling »Der Name der Rose« in deutschen Landen jeden seiner Romane begleitet.

Natürlich kann man über die literarische Qualität auch dieses Buches unterschiedlicher Meinung sein. Dass es politisch ausgesprochen gehaltvoll ist, lässt sich jedoch nicht ernsthaft bezweifeln. Es geht um die Entstehungsgeschichte der »Protokolle der Weisen von Zion« - der folgenreichsten antisemitischen Fälschung der Geschichte. Das Thema beschäftigt Eco seit vielen Jahren. Schon in seiner Rede zur Eröffnung des Akademischen Jahres 1994-1995 an der Universität Bologna hatte er eine Art Exposé für den »Friedhof in Prag« vorgelegt.

Seine wichtigste Quelle, Norman Cohns Studie »Die Protokolle der Weisen von Zion. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung«, wurde in ak 389 ausführlich gewürdigt als »die beste Gesamtdarstellung über Entstehung und Wirkungsgeschichte der Protokolle«. Wie macht Eco daraus einen Roman? Ganz einfach: Er erzählt die Geschichte der »Protokolle« als (Auto-)Biographie ihres angeblichen Urhebers, des italienisch-französischen Antisemiten Simon Simonini.

Als gespaltene Persönlichkeit mit zeitweiligem Gedächtnisverlust rekonstruiert dieser 1897 seine Vergangenheit in einem Tagebuch - auf Anraten des jüdischen Psychiaters Dr. Froïde. Aus den Eintragungen Simoninis und seines Alter Ego, des Abbé dalla Piccola, sowie aus Zwischentexten des Erzählers entsteht das Bild eines hochbegabten Schurken, der täuscht, fälscht, mordet, historischen Figuren (darunter der italienische Nationalheld Garibaldi und die Schriftsteller Alexandre Dumas und Ippolito Nievo) begegnet, mit Geheimdienstagenten konspiriert, als Agent Provocateur den Terrorismus fördert und schließlich selbst in der Pariser Metro eine Bombe legt.

Eco verarbeitet klassische Antisemitismustheorien

Simonini ist, wenn man von einigen StatistInnen absieht, die einzige fiktive Gestalt des Romans. Mit ihm, so Eco, habe er »die vielleicht hinterhältigste und abstoßendste Figur der gesamten Literaturgeschichte geschaffen«. Simonini ist der Prototyp des Antisemiten, so wie er in einigen der bedeutendsten Antisemitismustheorien beschrieben wird, namentlich bei Freud, Sartre und Adorno/Horkheimer. Simonini kennt Juden nur vom Hörensagen, vor allem aus den Schreckenserzählungen seines reaktionären Großvaters; er verabscheut neben den Juden, von denen er sich in seinen Träumen verfolgt fühlt, auch Deutsche, Italiener, Franzosen und Priester, während er zugleich betont, keine Vorurteile zu haben. Ganz besonders hasst Simonini die Frauen, seit einer demütigenden Begegnung mit einer jungen Schönheit, die er für eine Jüdin hält: »Bin ich von einer Tochter Zions beleidigt worden? Vielleicht weil ich so dick bin? In jedem Fall hat hier mein Krieg mit allen Töchtern Evas begonnen.«

Freud hätte dieses Erlebnis des 14-jährigen Simonini eine narzisstische Kränkung genannt. Diese hat weitreichende Folgen. Fortan ekelt Simonini sich vor Sex und empfindet Lust allein bei unmäßigem Essen; zugleich schreibt er den Juden besondere sexuelle Potenz zu, mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung: Er hasst die Juden und will zugleich sein wie sie - auch dies ein klassischer antisemitismustheoretischer Befund.

Nicht nur von Freud, auch von Sartre hat Eco sich inspirieren lassen. In dessen Essay »Portrait de l'antisémite« aus dem Jahre 1945 finden sich diverse Charakterisierungen, die auf Simonini zutreffen: Nicht das reale Verhalten von Juden, sondern seine Vorstellung davon, die »Idee des Juden«, treibe den Antisemiten um, schreibt Sartre: »Er ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiss: vor sich selbst, vor seinem Bewusstsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt; vor allem, außer vor dem Juden.« Dieser sei nur ein Vorwand, oder anders gesagt: »Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.«

Von Adorno/Horkheimer schließlich stammt die Beobachtung, dass AntisemitInnen die Juden nicht nur als Ursache allen Übels sehen, sondern diese falsche Projektion auch nachzuahmen und zu übertreffen trachten: »Die völkischen Phantasien jüdischer Verbrechen, die Kindermorde und die sadistischen Exzesse, der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung zurück.« So steht es in der 1947 erschienenen »Dialektik der Aufklärung«. Dass der fiktive Simonini, der Anti-Held aus dem späten 19. Jahrhundert, auch hierin dem von der Kritischen Theorie beschriebenen Idealtypus gleicht, wird noch zu zeigen sein.

Es ist erstaunlich, dass das deutsche Feuilleton Ecos Hinweise auf klassische Antisemitismustheorien schlichtweg übersieht. Offensichtlich waren die RezensentInnen schon mit den historischen Ereignissen überfordert, die sich im Hintergrund vollziehen. Darunter sind die italienische Nationalstaatsgründung 1860/61, die Pariser Kommune zehn Jahre später, die Dreyfus-Affäre und die Repression gegen revolutionäre Bewegungen im zaristischen Russland.

Nebenbei widmet Eco sich auch noch den Strukturprinzipien von Verschwörungstheorien. Damit sie funktionieren und Massen in Erregung versetzen, sind strenge Regeln zu beachten: Am besten verabreicht man sie dem Publikum in nicht zu großen Portionen und indem man Bekanntes wiederholt und variiert, je nach Zielgruppe und Zeitumständen; logische Widersprüche fallen dabei nicht ins Gewicht, wenn nur der Feind klar markiert wird. Wer hier auch an die täglichen Manipulationen der Massenmedien denkt, liegt sicher nicht falsch. Italienische LeserInnen werden sich zudem an landestypische Besonderheiten erinnert fühlen: etwa an die 1981 aufgeflogene geheime Freimaurerloge Propaganda Due (P2), der neben Politikern und Unternehmern auch hohe Geheimdienstfunktionäre angehörten - und Silvio Berlusconi. Zu dessen Spezialitäten gehört seit Jahrzehnten die Selbstinszenierung als unbeugsamer Kämpfer gegen die kommunistische Verschwörung.

Hat Eco bei all seinen Anspielungen das Wesentliche übersehen, vor allem die »kollektive Wirkung« der »Protokolle«? Diesem u.a. von Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung (8.10.2011) erhobenen Vorwurf könnte man entgegenhalten, dass Ecos Geschichte nun mal 1898 endet. Die Nazis, die von den »Protokollen« den schrecklichsten Gebrauch machten, gab es damals noch nicht. Und doch kommen sie vor: Im vorletzten Kapitel, überschrieben »Die Endlösung«, spricht der russische Geheimdienstmann Golowinski ganz offen aus, wozu Simoninis Fälschung benutzt werden soll: »Das wird ein exemplarischer Text werden, aus dem ihr tiefer Hass hervorgehen wird, den sie als Rasse und als Religion hegen. Diese Seiten brodeln geradezu von Hass, er scheint aus einem Gefäß voller Galle überzulaufen ... Viele werden begreifen, dass es Zeit für die Endlösung ist.«

Simonini und der nazistische Erlösungsantisemitismus

Simonini antwortet: »Den Ausdruck habe ich schon mal gehört.« Nämlich von einem gewissen Osman-Bey, dessen Nationalität und wirklicher Name unklar bleiben. In dem nach ihm benannten Kapitel sagt Osman-Bey: »Also werden wir eines Tages die einzig vernünftige Lösung anpacken müssen, die Endlösung: die Vernichtung aller Juden.« Simonini widerspricht dem von Eco mehrfach ins Spiel gebrachten Plan einer »Endlösung« an keiner Stelle, er gesteht auch - im Unterschied zu Eichmann und anderen Bürokraten des Völkermords - seine Mittäterschaft durchaus ein: »O Gott, ein ganzes Volk auszurotten, zum Glück musste ich es nicht selber tun, aber meinen bescheidenen Beitrag leistete ich gerade dazu.«

Und das ganz ohne schlechtes Gewissen. Es ist ebenfalls Osman-Bey, der ihm die Rechtfertigung für den Völkermord liefert: Mit dem Verschwinden der Juden würde auf der Erde ein »Goldenes Zeitalter« anbrechen. Ganz offensichtlich glaubt er wirklich daran - wie später die Nazis und wie Simonini, der nur fragt, auf welche Weise denn dieses Verschwinden der Juden zu bewerkstelligen sei, und die Antwort erhält: durch Vernichtung. Für diese Weltanschauung prägte der Shoah-Forscher Saul Friedländer den Begriff Erlösungsantisemitismus.

Ohne ihn zu benutzen, zeigt Eco so die Motive seines Protagonisten, der auch hierin - trotz seiner bizarren Persönlichkeit - für Millionen Gleichgesinnter steht. Damit erweist sich Eco auch mit dem »Friedhof in Prag« als Aufklärer. Zugleich verhüllt er seine Botschaften durch eine erschlagende Fülle von Personen, Ereignissen und Zitaten aus den einschlägigen Machwerken des 19. Jahrhunderts. Die Kritik, dass er damit zu viel des Guten (oder des Bösen) getan hat, ist nicht von der Hand zu weisen.

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag. Roman. Hanser-Verlag, München 2011. 526 Seiten, 26 EUR.