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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 566 / 18.11.2011

Warum hier fast nichts stehen kann

40 Jahre ak Was es für eine linke Zeitung bedeutet, wenn man alles sagen, aber nichts machen darf

Von Dietmar Dath

Alles Scheiße. Wie soll ich das erklären, wo ich es doch selbst kaum verstehen mag, weil es so wahnsinnig schlechte Stimmung mit sich schleppt, wenn man's begreift, und eine Lähmung erzeugt, die sich nicht mal mehr selbst wahrnehmen möchte? Es ist, wie alles immer überall, nur historisch zu ergründen.

Weil ich zwar noch nicht alt, aber doch wohl kaum mehr jung bin, kann ich mich an Zeiten erinnern, als man beim Schreiben und Veröffentlichen politisch gemeinter Texte nur vier Probleme hatte, die, von heute aus gesehen, an Niedlichkeit kaum zu übertrumpfen sind: Zensur, Plagiat, Irrtum, Lüge. Das fünfte, das meistens aus irgendeiner Art von Melange, Legierung, Amalgam der anderen vier, in je unterschiedlichen Proportionen, zu resultieren pflegte, spare ich mir für weiter unten auf, es ist komplexer und heißt Ideologie.

Zensur hieß, dass man auch in der Schülerzeitung nicht alles preisgab, was man über die pädophilen Verfehlungen des Chemielehrers, die bunten Pillen des Rektors und die seltsamen Fehlzeiten der Musiklehrerin wusste oder vermutete, weil man sonst mindestens nachsitzen und schlimmstenfalls den Eltern erklären musste, wieso man nach dem Abitur unbedingt in Stammheim auf der Knastmatratze brutzeln wollte.

Vier niedliche Probleme: Zensur, Plagiat, Irrtum, Lüge

Plagiat hieß, dass man manchmal keinen Gedanken fand, der einem richtiger vorkam als das, was Ingrid Strobl, Wolfgang Pohrt, Shulamith Firestone oder Hermann L. Gremliza zur jeweils in Rede stehenden Sache schon geschrieben hatten, aber keine Lust verspürte, das Zitat des so ungefähr Erinnerten rauszusuchen und die Quelle freizulegen, weshalb man es einfach so lange umformulierte, bis es nicht mehr richtig war, und dann als eigenen Einfall ausgab.

Irrtum hieß, dass man manchmal zu dumm war für das Thema, an das man sich wagen wollte, eineN aber niemand aufhielt, und dann stand es irgendwo (aber man wurde nur in der Kneipe zur Rechenschaft gezogen, allenfalls drei, vier Abende lang - es gab kein Netz). Lüge hieß, dass man sich einen Vorteil (Geld, Prestige, Priorität etc.) davon versprach, etwas irgendwo hinzuschreiben, was man nicht für wahr hielt. Tempi passati - vergangene Zeiten!

Zensur wird hinfällig, wenn die Schleusen so weit geöffnet sind, dass praktisch alles durchkommt, sodass der Unterschied zwischen dem in Gramscis Sinn hegemonialen Schrott einerseits und den drei, vier Einwänden dagegen andererseits über reine Quantität reguliert wird, die wiederum von ökonomischer Leistungsstärke, also Zeit und Personal abhängt. Das Wahre und Vernünftige wird einfach unterm Kack begraben, es muss nicht mehr einzeln abgestellt werden. Wenn China, Nordkorea und der Iran in ihrer gegenwärtigen politischen Gestalt überleben wollen, werden die dortigen TonangeberInnen das auch noch lernen. Allerdings sind sie dann nicht mehr die, die sie jetzt sind, und ihr System nicht mehr das, in dem sie jetzt regieren, sondern einfach dieselben Fressen in derselben Choreographie wie hier, das heißt im Netz, das heißt nirgends. Wo wir wohnen und unser Gefängnis den von Hermann Peter Piwitt vor Jahren schon geschmiedeten Namen trägt: Man kommt überall hin, aber nicht mehr raus.

Plagiat hat sich erledigt, wo die letzten ökonomisch nicht erpressbaren Subjekte unter den MelderInnen und MeinerInnen in formal freie (also etwa nirgends versicherte, in jedem Schadensfall auf sich selbst geworfene), real aber abhängige TriangelspielerInnen im Riesen-Meinungs-und-Meldungs-Orchester diverser sogenannter Öffentlichkeiten transformiert werden. Wenn jede und jeder jemandem gehört, kann man die Leute nicht mehr bestehlen. Von Schwachsinn wie den »Ich-AGs«, die das Zusammenballen von Kapitalmasse zu juristischen Personen auf der Ebene des Protopauperismus von Leuten, die niemand einstellt, im Stil von Cargo-Kult-Ritualen imitiert, sowieso abgesehen, gibt es inzwischen praktisch auch keine Lebewesen mehr, auf welche die alte Kleingroßbürger- oder Großkleinbürgerkategorie »selbständig« zutrifft - der/die ÄrztIn und der/die ArchitektIn gehören den Banken, bei denen sie existenzgründungshalber in der Kreide stehen. Das Eigentum (»meine eigene Praxis«) ist so abgeschafft wie die von der ökonomisch-juristischen aufgefressene frühbürgerlich-naturrechtliche Person, und man brauchte gar keinen furchterregenden totalitären Kollektivismus dazu. Die totale Individualisierung hat völlig ausgereicht, um die letzten Individuen zu beseitigen (wie die Verbürgerlichung der Linken völlig ausgereicht hat, die letzten erfreulichen bürgerlichen Erbgüter im linken Reden und Tun, die letzten Nachlasskrümel von 1989 zum Verschwinden zu bringen).

Politische Möglichkeiten im toten Winkel

Irrtum und Lüge gehen gemeinsam baden, wo das Kriterium dafür, ob etwas stimmt oder etwas geglaubt wird, nämlich die Praxis, von der soeben zu erlebenden, historisch beispiellosen Explosion rein kommentierender und auf diesem Weg Teilhabe symbolisch, aber nicht ökonomisch, oder politisch inszenierender und organisierender Beschäftigungen gerade der reichsten Menschen, die also, da sie über die großzügigsten Zeitbudgets verfügen, auch am ehesten geeignet wären, sich systemerschütternde Streiche und systemüberwindende koordinierte Aktionen auszudenken, aus der Bestimmung der Kommunikation gebleicht wird.

Dass die Benennung von Sachverhalten und die Formulierung von in diesen wohnenden Möglichkeiten der Koordination von Handlungen dient, hat zuerst das Wirtschaften vergessen - das heißt, in den toten Winkel geschoben, in dem eben keine Managementseminare, Kurswochenenden für NormalmitarbeiterInnen, Empowerment-, Diversity-, Qualitätsoptimierungs-, Sensitivitäts- und Sicherheitstrainings-Alfanzereien ausgedacht und angeboten werden, die das Erwerbsleben und damit die Survival-Schaltkreise der BewohnerInnen der vom gröbsten Elend verschonten und also fürs System besonders sensiblen Zonen prägen, sondern nur Tweets oder Flugblätter dazu einladen, sich ohne weiterreichenden Game-Plan zu rührenden Sit-Ins auf dem arschkalten Rasen zwischen EZB und Schauspielhaus in Frankfurt am Main zu verabreden.

Wenn es wurst ist, was wir reden, wir aber nichts anderes dürfen als eben reden, wird es uns furchtbar wichtig, weil es das Einzige ist, das sich noch sozial anfühlt, und der Mensch auf Sachen angewiesen bleibt, die sich sozial anfühlen, weil dieser Typ, selbst wenn er eine Frau ist, als Hordentier ja in ständiger Angst vor Gemeinschaftsentzug lebt, da dieser Gemeinschaftsentzug selbst bei relativ niedrig entwickelter Arbeitsteilung, also in der berühmten Urhorde (in die uns zurückzuführen die heilige Mission von Facebook ist), ernste Hunger-, Obdachlosigkeits- und Liebesverlustpanik weckt, die sich vor allem deshalb derzeit so quälend anfühlt, weil sie in einer historischen Epoche, die alle extensiven und indirekten, also nicht familien- und hordenartigen Existenzsicherungseinrichtungen vernichtet, absolut berechtigt ist. Aus dem, was wir sind, ergibt sich also, dass wir das Gerede, Getweete, Gemaile und Gesmse sehr ernst nehmen müssen; aus dem, was wir als Gesellschaft aber gerade tun, ergibt sich, dass es wurst ist. Wie nennt man Leute, die ebenso zwanghaft wie zwangsläufig etwas sehr ernst nehmen, das wurst ist? Bekloppt. Bei Bekloppten aber noch von Irrtum oder Lüge zu sprechen, wäre eine grob fahrlässige Verharmlosung.

Der Unterschied zwischen den schwerfälligen, personalstarken, auf altmodischen Wegen versendeten und gedruckten Trägern politischen Meldens und Meinens auf der einen Seite und den agilen, dezentralen, modularen, individualisierten Bloggereien etc. auf der anderen ist vor diesem Hintergrund eben nicht der zwischen Gatekeepern von Herrschaftswissen einerseits und findigen Trüffelschweinen, Perlentauchern oder Läuseknackern andererseits, wie das die Letzteren im Moment gern verbreiten, noch auch, wie es eher von und bei den ersteren behauptet wird, einer zwischen ihnen als den Fortsetzern irgendeiner erhabenen urbürgerlichen Tradition von Recherche, Gegenprobe, Audiatur-et-altera-pars und wie die schönen, im Augenblick überall verramschten Ideale sonst heißen mögen.

Es ist einfach der Unterschied zwischen einer Armee und einem Freikorps. Erstere hat mehr Wucht, kommt aber langsamer vom Fleck, letzteres plündert und vergewaltigt ein bisschen spontaner, irregulärer, asymmetrischer. Je abscheulicher der Krieg, desto mehr ähneln die beiden einander. Wir werden es bald erleben, die Libyensauerei war ein erster, auf kompakte zwei Wochen zusammengedrückter Probelauf des denkbaren Wettrennens zwischen beweglicher und stumpfer Hetze, zwischen Gekreisch und Gedröhne.

Weil das so ist, werden die alten Schreibhaltungen, an die man sich in der schönen Zeit von Zensur, Plagiat, Irrtum und Lüge gewöhnt hat oder die Jüngere beim Kennenlernen des Handwerks in den alten Texten gefunden haben, ohne Kontakt zu den Sachverhalten, über die es heute zu schreiben gälte, oder den Programmen, die ihnen entgegenzuhalten wären, mehr oder weniger blind reproduziert und fortgeschrieben; und in Gestalt dieser Blindheit kehrt das Fluidum zurück, in dem diese vier alten Schwierigkeiten löslich waren und sind, weshalb man in ebenjenem Fluidum früher die Mischverhältnisse zwischen ihnen auszuhandeln gewohnt war. Das Fluidum heißt Ideologie und besteht nicht in irgendwelchen Checklisten politischer Absichten (Realosozialismus, Neokonservatismus, Neoliberalismus, Anarchosyndikalismus etc. usw.), sondern primär in der Illusion, es ließe sich in vitro über gesellschaftliche Dinge nachdenken und reden und dieses Wissen dann irgendwie auf die Situation in vivo übertragen. (1)

Das Neue wird man schon selber machen müssen

Wer glaubt, es gäbe eine vom Geldverdienen, Mietezahlen, Anschluss suchen, vom Produzieren und Reproduzieren des Gegebenen sauber zu scheidende Ebene des Bloggens oder Zeitungmachens, produziert Ideologie, eine Art Schleim also, in der früher die Eier Zensur, Plagiat, Irrtum und Lüge warmgehalten wurden, damit sie Propaganda ausbrüten konnten, die beim Schlüpfen dann die Gestalt von Meinung oder Meldung annahm. Neue Eier hat die Welt noch keine erfunden, aber in den Genlabors der Technoelite von Informations- und Biopolitik werden sie wahrscheinlich gerade designt.

In den hegemonialen wie den sich oppositionell verstehenden Medien kann, bis die neuen Monster zur Welt kommen und man sich dann sowohl einzeln und fallweise wie insgesamt und auf Übersicht zielend überlegen kann und darf, was man gegen sie unternimmt, fast gar nichts stehen, jedenfalls anteilig, verglichen mit dem Schleim als solchem. Ein paar Splitter von Eierschalen alter Eier, ein paar Schuppen und Haare und Zähne der Wesen, die damals aus ihnen hervorbrachen. Dieser Text hat versucht, sie zu so etwas wie einer schematischen Retrobiologie der ausgestorbenen Untiere des sogenannten Diskurses zu versammeln.

Alles Scheiße, aber das war es immer. Das Bekannte macht die Verhältnisse aus, es stammt von den Herrschenden, selbst wenn sie es nicht planen, sondern es eher bewusstlos aus ihnen herausquillt, wie besagter Schleim. Das Neue, wenn man es will, wird man dagegen schon selber machen müssen.

Die Romane, Sachbücher und Artikel von Dietmar Dath unterwandern, überfliegen und durchkreuzen Gattungs- und Vorstellungsgrenzen - mit System.

Anmerkung:

1) Als »in vitro« bezeichnet man organische Vorgänge, die »im Glas« stattfinden und beobachtet werden - im Gegensatz zu denen am lebenden Objekt (»in vivo«).