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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 566 / 18.11.2011

Nichts ist wie es scheint

Kultur Krimiautor Wolfgang Schorlau thematisiert die Strategien der Pharmaindustrie

Von Werner Rätz

Es ist natürlich keineswegs ein auswegloser Fall, den der ehemalige Polizist Georg Dengler, der nunmehr zum sechsten Mal privat ermittelt, diesmal lösen muss. Zwar scheint es so, als habe der Berliner Arzt Dr. Bernhard Voss die neunjährige Jasmin entführt, vergewaltigt und ermordet. Aber spätestens, als Denglers Freund sagt, »die Beweise sollen eindeutig sein«, weiß der/die geübte KrimileserIn, dass Voss unschuldig im Gefängnis sitzt. Es geht also nicht darum, ob der Arzt der Täter war, sondern wer sonst. Auch diese Frage kann bald beantwortet werden, und die Krimispannung verlagert sich mehr darauf, wie Denlger das herausfinden wird.

Das ist alles flott und unterhaltsam erzählt, wäre aber der Rede weiter nicht wert und schon gar nicht der Besprechung in einer linken Zeitung, wenn es alles wäre. Neben und in der Krimihandlung laufen ein paar weitere Stränge, die das eigentlich Spannende des Buches ausmachen. Es ist kein Zufall, dass der Verdächtige Dr. Voss Professor an der Berliner Charité ist. In dem Zusammenhang ist er nicht nur Teil der ärztlichen Seite des Gesundheitswesens, sondern auch der forschenden und damit derjenigen, wo die großen wirtschaftlichen Interessen angesiedelt sind. Über diesen Bereich will Wolfgang Schorlau etwas erzählen. Das tut er gut, umfassend und spannend.

Zwar mag es bekannt sein, dass PharmavertreterInnen versuchen, ÄrztInnen fest an ihre Firma zu binden. Dafür gibt es keine direkten Bestechungen, aber kleine und später auch größere geldwerte Aufmerksamkeiten, die einen medizinischen Zweck nur vordergründig vorgeben: Probepackungen der neuesten Medikamente, Fortbildungen auf Firmenkosten, Praxiscomputer mit eingebauter Software, die für jede Diagnose das Präparat der Firma automatisch ins Rezeptformular eingibt. Weniger dürfte sich herumgesprochen haben, dass sinnlose Scheinhandlungen wie das Ausfüllen von Fragebögen mit hohen Honoraren vergütet werden. Und dann gibt es für ÄrztInnen, die ein neues, teures Medikament anwenden, pro Verordnung eine ansehnliche Vergütung. Da kann eineR schon mal »100.000 Euro extra machen. Im Jahr.«

Eine Reihe weiterer Aspekte werden recht genau ausgeleuchtet, die Tätigkeit der PharmareferentInnen etwa, die an der »Front« arbeiten, bei den »VerordnerInnen«, denn darauf reduziert sich die ärztliche Rolle aus Sicht der Pharmafirmen. Dabei erfasst Schorlau auch Entwicklungen, die außerhalb der Szene medizinkritischer ExpertInnen häufig übersehen werden. Das betrifft erstens die Marktstrategien der Konzerne. Für sie sind spezielle Medikamente von besonderer Bedeutung, die in großer Zahl monopolartig von ihnen verkauft werden können, sogenannte Blockbuster. Voraussetzung dafür ist, dass die Firma ein Patent auf das Präparat hält, weil sie nur dann den alleinigen Zugriff hat. Patente laufen nach 20 Jahren aus, sodass die Forschungsstrategie der Konzerne allein darauf gerichtet ist, rechtzeitig ein patentierbares Nachfolgemedikament auf den Markt zu bringen. Das hat dann in der Regel irgendeine nebensächliche Veränderung gegenüber dem früheren, oft eine, die neue und gefährliche Nebenwirkungen erzeugt, aber keinen neuen medizinischen Nutzen. So bleiben Medikamente unter Patentschutz, obwohl der real abgelaufen ist. An neuen Wirkstoffen und an Grundlagen forschen in der Regel öffentlich finanzierte Einrichtungen, oft Universitäten wie die Charité. Was sich »forschende Arzneimittelfirmen« nennt, setzt in der Regel die öffentlichen Ergebnisse in firmeneigene Patente um und verlängert diese künstlich.

Neben dieser auf das Angebot zielenden Marketingstrategie der Konzerne ist eine zweite von besonderer Bedeutung. Diese nimmt die Nachfrage in den Blick. Die Pharmaindustrie fördert und finanziert im großen Rahmen PatientInnen- und Selbsthilfegruppen, und »wenn sie nicht mitmachen, gründen wir eben neue«. Auf diese Weise wird das Werbeverbot für Heilmittel unterlaufen, weil ja nicht die Firmen werben, sondern die (potenziellen) PatientInnen nach »ihrem« Medikament rufen, das ihnen von den ach so bösen Gesundheitsbürokraten mit ihrer dummen Prüfbesessenheit vorenthalten wird. Die Hinweise müssen hier genügen, obwohl Ausführungen zu Patientenzielgruppen und anderes durchaus angebracht wären.

In diesem Strang liegt für den/die politische LeserIn die eigentliche Bedeutung des Buches, auch wenn Schorlau selbst dem noch eine direkt politische Linie hinzufügt. Da sein Held aus Stuttgart kommt, geht er ausführlich auf die Proteste gegen Stuttgart 21 im Herbst 2010 ein. Das ist engagiert, aber dem/der LeserIn bekannt, wie überhaupt die künstlerischen Mittel, mit denen Informationen in die Handlung eingeführt werden, oft etwas konstruiert und aufgesetzt wirken. Und die Einzelheiten und Details, die mitverarbeitet werden, wie Computerhacken, Krebserkrankung, Sterbehilfe, Selbstermächtigung zum illegalen Handeln, sind zwar je für sich alle hochinteressant, aber es sind so viele, dass das Gefühl überhand nimmt, hier habe einer mehr unterbringen wollen, als er konnte.

Werner Rätz ist Mitgründer von attac Deutschland, Redakteur bei ila, der Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika Bonn und schrieb in ak 562 über »soziale Infrastruktur« als radikale Reformpolitik.

Wolfgang Schorlau: Die letzte Flucht. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2011. 370 Seiten, 8,99 EUR.