Marx über den Fetisch
Diskussion In den laufenden Sozialprotesten zeigt sich die Aktualität seiner Theorie
Von Hendrik Wallat
Marx hat uns leider keine so schönen Begriffsdefinitionen hinterlassen wie Max Weber. Um dem Fetisch auf die Spur zu kommen, versuche ich daher zuerst, verschiedene Begriffe abzugrenzen - was Marx selbst in dieser Deutlichkeit nicht gemacht hat -, um in einem zweiten Schritt die Aktualität von Marx' Fetischanalyse zu skizzieren.
Zuerst zum Verhältnis von Fetischismus und Ideologie. Mit dem Begriff der Ideologie bezeichnet Marx allgemein ein verkehrtes Bewusstsein, welches sich über seine eigene historische und soziale Genesis täuscht und sich als autonome Macht missversteht. Ideologie ist folglich ein Begriff, der Bewusstseinsformen thematisiert und kritisiert, die nicht allein Erscheinungen kapitalistischer Vergesellschaftung sind. In diesem Kontext zielt die marxsche Ideologiekritik darauf, philosophische Abstraktionen und idealistische Weltbilder auf religiöses Bewusstsein und politische Herrschaftslegenden zurückzuführen und ihre gesellschaftliche und geschichtliche Bedingtheit zu beleuchten.
Der Fetischismus ist nun die Basis-Ideologie kapitalistischer Vergesellschaftung. Der ökonomische Fetischismus ist der zentrale Aspekt ideologischer Bewusstseinsformen in kapitalistischen Gesellschaften. Der Fetischismus ist eine spezifische Form der Ideologie, mit einem spezifischen Funktionsmodus und einer inhaltlich spezifischen Wirkung. Anders als andere Formen der Ideologie entspringt der Fetischismus spontan und notwendig den sich in sozio-ökonomischer Formgegenständlichkeit verdinglichenden sozialen Verhältnissen und der mit diesen verbundenen Praxis.
Verdinglichung und Fetischismus
Verdeutlichen lässt sich das, indem der Unterschied und der zentrale Zusammenhang zwischen Verdinglichung und Fetischismus kurz erläutert wird: Marx bezeichnet mit dem Fetischcharakter der kapitalistischen Produktionsweise etwas sehr Bestimmtes. Dies ist, wie gesagt, die notwendig falsche Wahrnehmung der Realität. Der marxsche Fetischbegriff gilt daher allein für den Sachverhalt der falschen Wahrnehmung der Realität, nicht aber als Bezeichnung für die sachliche Vermittlung von Vergesellschaftung. Diese bezeichnet Marx als Verdinglichung. Der Begriff der Verdinglichung hat zwei Aspekte: »Es ist (...) schon in der Ware eingeschlossen, und noch mehr in der Ware als Produkt des Kapitals, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Produktionsbestimmungen und Versubjektivierung der materiellen Grundlagen, welche die ganze kapitalistische Produktionsweise charakterisiert.« (MEW 25, Seite 887). (1)
Die erste Dimension der Verdinglichung bezeichnet also den Sachverhalt der realen Objektivation eines sozialen Verhältnisses in einem Ding - Wert, der als Ware, Geld, Kapital und Zins erscheint. Der Begriff der Verdinglichung bezeichnet mithin nicht ein Bewusstseinsphänomen, sondern die so schwer zu fassende Realität sozio-ökonomischer Formgegenständlichkeit (wie Geld, Kapital etc.). Das Kapital gewinnt »mehr und mehr eine sachliche Gestalt, wird aus Verhältnis immer mehr Ding, aber Ding, das das gesellschaftliche Leben im Leib hat, (...) sich zu sich verhaltendes Ding, sinnlich-übersinnliches Wesen; und in dieser Form von Kapital und Profit erscheint es als fertige Voraussetzung auf der Oberfläche. Es ist die Form seiner Wirklichkeit oder vielmehr seine wirkliche Existenzform.« (MEW 26.3, Seite 474)
Diese Real-Verdinglichung des Sozialen ist nun des Weiteren durch eine Verselbstständigung gekennzeichnet, die Marx als »Versubjektivierung der materiellen Grundlagen« kennzeichnet. Hiermit ist die zweite Dimension der Verdinglichung angesprochen. In der Tradition des Entfremdungsbegriffs thematisiert Marx den Sachverhalt der Verselbstständigung der Verdinglichung als die Herrschaft des »automatischen Subjekts«: die in sich maß-, ziel- und rastlose »Selbstverwertung« des Wertes als »Selbstzweck«. (MEW 23, Seite 167ff.). Es ist dies die fundamentale »Verkehrung des Subjekts in das Objekt und umgekehrt« (MEGA II/4, Seite 62f.), die der reife Marx nicht mehr als Entfremdung von einem ontologischen Wesen des Menschen begreift, sondern als Beherrschung der Menschen durch selbstgeschaffene, aber naturwüchsig sich gestaltende soziale Verhältnisse entschlüsselt. (2)
Der Fetischcharakter bezeichnet nun nicht die sozio-ökonomische Formgegenständlichkeit und Verdinglichung sozialer Beziehungen, sondern die adäquate (objektiv gültige Gedankenform) und doch zugleich falsche Wahrnehmung dieses gesellschaftlichen Seins. Die letzte Paradoxie ist nur scheinbar ein Widerspruch: Die Erscheinung zeigt sich als das, was sie ist: gesellschaftliches Verhältnis von Sachen (Ware, Geld, Kapital, Zins) und verdeckt dabei zugleich ihr Wesen/Sein: nämlich, dass die realen sozial-vermittelnden Eigenschaften der Dinge, diesen eben nicht als Dingen an sich, sondern als Objektivationen eines spezifischen sozialen Verhältnisses zukommen. Da diese Wahrnehmung aber kein Zufall, sondern der Selbstverrätselung der sozialen Realität im Kapitalismus geschuldet ist, geht es der Fetischtheorie nicht nur um die falsche (bezüglich der gesellschaftlichen Wesens- bzw. Seinsebene) und doch adäquate (bezüglich der Ebene der Erscheinung/realer Schein der ökonomischen Gegenständlichkeit) Wahrnehmung dieser Realität, sondern um die verkehrte Konstitution der Realität selbst. Die verkehrte Auffassung gründet in der spezifischen Form der menschlichen Praxis in kapitalistischen Gesellschaften, die somit als die eigentliche Ursache falscher Wahrnehmung, d.h. als die eigentliche Verkehrung zu klassifizieren ist.
Die Aufhebung des Fetischismus ist dementsprechend auch keine Frage der Aufhebung eines Bewusstseinsphänomens, sondern der Aufhebung der das Bewusstsein konstituierenden Form gesellschaftlicher Verhältnisse und der aus diesen resultierenden Praxis: »Die verdrehte Form, worin die wirkliche Verkehrung sich ausdrückt, findet sich natürlich reproduziert in den Vorstellungen der Agenten dieser Produktionsweise.« (MEW 26.3, Seite 445) Dieser Zustand wird von Marx in der Tradition der Aufklärung als unvernünftig kritisiert, weil er die Autonomie der Individuen zerstört. Die marxsche Fetischanalyse hat folglich die doppelte Stoßrichtung einer Herrschafts- und Erkenntniskritik, deren Kern darin besteht, die kapitalistische Produktionsweise als ein gesellschaftliches Verhältnis zu dechiffrieren, dessen Herrschaftscharakter dinglich vermittelt ist und gleichsam als natürliche und unveränderbare, womöglich noch beste aller Welten erscheint.
Nach so viel Theoriebrocken will ich an drei Beispielen die Aktualität, aber auch die Grenzen der Fetischkritik skizzieren:
Erstens: das Phänomen des verkürzten Antikapitalismus, das derzeit wieder auf den Straßen anzutreffen ist, wo Zinsen und Banken, Banker oder auch PolitikerInnen für die kapitalistische Krise verantwortlich gemacht werden. Hier hat man genau das Phänomen des Fetisch: eine Kritik, die sich an den oberflächlichen Erscheinungsformen des Kapitalismus entzündet, an der besonders augenfälligen Verselbstständigung der Produktionsverhältnisse im Geld heckenden Wert - etwa dem Zins, den Aktien, Börsenkursen oder der falschen Gegenüberstellung von Staat und Markt. Diese Phänomene der Verselbstständigung der Ökonomie werden aus ihrem kapitalistischen Gesamtkontext gerissen. Sie werden nicht als Momente eines Zusammenhangs erkannt, sondern bloß als Auswüchse angeprangert, für die allein besonders gierige Menschen verantwortlich sind.
Auch wenn es solche sicher gibt und bestimmte Formen der Markt(de)regulierung natürlich auf bestimmte Formen der Politik zurückgehen, ist dies eben ein sehr verkürzter Antikapitalismus, der kritisiert gehört; nicht zuletzt, weil im Hintergrund häufig urbürgerliche Leistungsideologie lauert: Hass auf arbeitsloses Einkommen, mühelosen Reichtum, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen ... Das alles muss kritisiert werden und kann auch mit der Fetischtheorie auf den Punkt gebracht werden.
Aktualität und Grenzen der Fetischkritik
Trotzdem ist der verkürzte Antikapitalismus, der in vielen verschiedenen Formen auftreten kann, m.E. nicht so furchtbar schlimm, wie häufig von interessierter Seite behauptet; er ist auch nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen - ich komme gleich darauf zurück. Ihn rundum ideologiekritisch zu verdammen, ist praktisch und theoretisch selbst verkürzend. Jede emanzipatorische Theorie und Praxis muss den blutigen Umschlag von Revolte in Ressentiment abwehren und den verkürzten Antikapitalismus bekämpfen. Ihn zum Grund der Absage an jede Praxis zu machen, ist aber verkehrt. Verkürzter Antikapitalismus kann sowohl der Anfang in weitergehende Einsichten als auch durch und durch reaktionär sein. Er ist aber selbst dann nicht, wenn er sich nach Widerwärtigkeiten wie Nation, starkem Staat, autoritärer Führung oder einfach nur nach der Idylle des Landlebens zurücksehnt, mit Antisemitismus gleichzusetzen.
Zweitens: Dem Antisemitismus kann ein verkürzter Antikapitalismus innewohnen, aber er ist viel mehr und viel gefährlicher als dieser, der selbst antisemitisch motiviert sein kann, keineswegs aber sein muss. Beim Antisemitismus handelt es sich um eine geschlossene, wahnhafte Weltanschauung, die, um es deutlich zu machen, nicht bloß gegen Banken und besonders üble Charaktermasken des Kapitals wettert, sondern die Vernichtung der Juden als Prinzip des Bösen will - für mich ein qualitativer Unterschied: Den verkürzten Antikapitalismus als Antisemitismus zu bezeichnen, wird erstem nicht gerecht, und verharmlost letzteren.
Da der moderne Antisemitismus zweifelsohne eine Frucht der kapitalistischen Gesellschaft ist, kann die Fetischtheorie aber auch hier etwas zur Erklärung beitragen. Ganz verkürzt: Die Juden repersonalisieren die anonyme, unpersönliche Herrschaft des Kapitals: Die verdinglichte Macht der Verhältnisse wird wieder greifbar - die Juden werden für deren Folgen persönlich haftbar gemacht. Die undurchschauten Verhältnisse werden personalisiert und Momente des Kapitals werden universalisiert: etwa der Zins, dessen Fetisch der Antisemitismus frönt, indem er ihn als jüdische Geldgier ausgibt.
Doch dies sind nur Momente des Antisemitismus. Und hier ist die Grenze der Fetischtheorie zu benennen. Es kommt die Kulturgeschichte ins Spiel - wieso eigentlich Juden? - und weitere Aspekte des Antisemitismus, die nichts mit dem verkürzten Antikapitalismus zu tun haben, und natürlich auch die (Sozial-)Psychologie des Antisemitismus, wo die Fetischtheorie nichts mehr zu bieten hat. Der antisemitische Vernichtungswahn und die völkische Paranoia lassen sich nicht aus dem Fetischcharakter des Kapitalismus ableiten. Nur im Kontext vieler Vermittlungsschritte kann die Fetischtheorie also auch etwas zur Erklärung des Antisemitismus beitragen: Er kann auf die fetischistische Wahrnehmung der sozio-ökonomischen Formen zurückbezogen werden, er entspringt diesen Formen aber nicht notwendig und spontan; sein (Bewusstseins-)Inhalt ist keine notwendige Erscheinung dieser Formen.
Drittens: Gleiches gilt auch für den Sozialchauvinismus, d.h. die Wahrnehmung von Armut und Arbeitslosigkeit durch diejenigen die noch Arbeit haben und sich ganz mit ihr identifizieren. Dem seine eigenen Triebe Unterdrückenden erscheint die Freiheit in der verkehrten Gestalt des Arbeitslosen. Der Frust über die eigene Existenz wird zum Hass auf diejenigen, die nicht das zweifelhafte Glück haben Lohnarbeiter zu sein. Auch hier liegt ein falsches Bewusstsein vor: Die vom Kapitalismus produzierten Überflüssigen, werden als freiwillige Schmarotzer denunziert. Nicht die Ausbeutung der Lohnarbeit wird zum Skandal, vielmehr wird der Frust der Arbeitenden auf jene gelenkt, die eigentlich gar nichts haben: weder Macht noch Geld, nur den Hass der Arbeitenden.
Der Klassenkampf nimmt hier die Form an, dass die ArbeiterInnen nicht gegen die Herrschaft des Kapitals aufstehen, die sie zur Arbeit zwingt, sondern dass sie auf die Schwächsten einprügeln, die sie auf ihre eigenen unbewussten Lüge hinweisen: dass Lohnarbeit schön sei. Auch hier wird die eigentliche Herrschaftsstruktur des Kapitalismus völlig verkannt. Aber auch hier, wie beim Antisemitismus, gibt uns die Fetischtheorie zwar wichtige Hinweise, wieso dieses falsche Bewusstsein auftreten kann, nicht aber eine befriedigende Erklärung. Abermals bedarf es weiterer Vermittlungsschritte: Psychologie des Ressentiments und die bewusste Produktion von Ideologie über die Kulturindustrie. Plakativ: Bildzeitung und Privatfernsehen, die ein solches Bewusstsein formen. Der Fetischcharakter, der die eigentlichen Herrschaftsverhältnisse verschleiert, liegt ihm zugrunde, bis er aber eine solche Form des sozialchauvinistischen Bewusstseins annimmt, ist es ein langer Weg: Die Ideologie etwa in Form des Sozialchauvinismus ist (anders als der Fetisch von Geld, Kapital, Zins) eben nicht spontan und auf den ersten Blick einleuchtend, sondern muss über Apparate ständig produziert werden: über Bilder, die in der Psyche wirken können.
Ein wichtiger Bestandteil kritischer Theorie
Direkt aus dem Fetischismus abgeleitet werden können diese Bilder aber nicht. Er ist vielmehr ein Moment im Universum kapitalistischer Herrschaft, das zentralen Aspekten ideologisch-falschen Bewusstseins zugrunde liegt. Das ist nicht wenig, aber auch nicht alles: Wenn man den Fetischismus nicht zum Universalschlüssel für die Erklärung aller Phänomene des Kapitalismus stilisiert, ist er bleibender Bestandteil einer kritischen Theorie kapitalistischer Herrschaft und ihrer Bewusstseinsformen. Als solcher steht er in der Tradition großer Philosophie, die seit jeher die Aufklärung von falschem Bewusstsein bezweckt und stets praktisch motiviert ist: (theoretische) Aufklärung intendiert (praktische) Aufhebung des Falschen.
Hendrik Wallat lebt in Hannover und publizierte 2009 das Buch »Das Bewusstsein der Krise« (Transcript Verlag). Der Text basiert auf seinem Vortrag im Rahmen der 4. Marx-Herbst-Schule, die Ende Oktober in Berlin stattfand.
Anmerkungen:
1) MEW: Marx/Engels Werke; Hervorhebungen in den Zitaten durch den Verfasser.
2) MEGA: Marx-Engels-Gesamt-Ausgabe.