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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 567 / 16.12.2011

Abenteuerreisen in musikalische Sonderzonen

Kultur Drei grenzüberschreitende Popjournale im Portrait

Von Haddl Konopka

Wie muss ein Magazin beschaffen sein, das Musik nicht als Ware behandelt, sondern als Kunstform? Ein Magazin, das auch Literatur, Film und andere visuelle Ausdrucksformen einbezieht? Das widerständige Alltagskultur, linkes Bewusstsein sowie den Popkosmos, vor allem dessen Ränder, zusammenbringt? Ich stelle euch gleich drei vor, zwei deutsch- und ein englischsprachiges: skug, testcard und The WIRE.

Unsere Abenteuerreise beginnt in Wien. Dort erscheint seit 21 Jahren »skug - Journal für Musik«. skug kommt vierteljährlich im Magazinformat und lässt uns erst einmal staunen über das Kulturwunderland Österreich. Okay, dass abgefahrene Welt-Literatur aus diesem von außen so seltsam wirkenden Land mit seinen ständigen politischen Skandalen kommt, ist nichts Neues, auch Filme von Glawogger, Seidel und Haneke sind Kulturinteressierten bekannt. Aber was es so an Subkultur zu entdecken gibt - na servas! Allein die für den Winter angekündigten Veranstaltungen in Linz, Wien und Graz lassen einen Piefke vor Neid erblassen. Ist am Ende doch was dran an der These, je schwieriger die Lage desto radikaler die Kunst?

Aber die skug-Welt ist nicht nur Österreich. In der aktuellen Ausgabe #88, 10 - 12/2011 gibt der gerade 70 Jahre alt gewordene Freejazzer Peter Brötzmann den Coverboy, und im fünfseitigen Interview beweist er, dass er noch immer der linksradikale Geist ist, der er schon in den 1960ern war. Neben KünstlerInnen-Portraits, Platten-, Bücher-, Film- und Kunstbesprechungen gibt es auch eine Würdigung des politischen Kunstkollektivs qujOchö aus Linz, das seit zehn Jahren mit seinen radikalen Aktionen für Wirbel sorgt. Den meisten Aufruhr verursachte 2009 die Aktion »Mythos Hofer«, bei der das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck zu einem RAF-Mahnmal umfunktioniert wurde. In der Heftmitte findet sich eine 18-seitige Beilage mit dem Titel »Im Warteraum der Interpretationen«, in der anlässlich von zehn Jahren Offenes Kulturhaus Linz Themen wie Retromanie, digitale Kollateralschäden, Feminismus in der Musikszene oder der Fetisch des Neuen diskutiert werden.

»Empire Me«, ein Film über Mikronationen

Mein persönliches Highlight dieser Ausgabe aber ist eine Besprechung des Films »Empire Me. New Worlds Are Happening« von Paul Poet. Ein Dokumentarfilm über Mikronationen, die derzeit fast inflationär gedeihen. Von einer Landkommune nahe Berlin, die ihre Ideologie von befreiter Sexualität inklusive Gruppensex und anschließender Gruppensitzung auslebt, über Informationspiraten auf einer ehemaligen Fliegerabwehrplattform im Ärmelkanal bis zu den »Swimming Cities of Serenissima« der New Yorker Künstlerin Swoon fängt die Kamera des Filmemachers und skug-Autors Poet »alle diese Widersprüche ein, möchte über die Unzulänglichkeiten der untersuchten Projekte aber nicht ihre grundsätzliche Öffnung von Möglichkeitsräumen aus den Augen verlieren«.

Das schreibt skug-Kollege Johannes Springer in einem Essay über den Film. Keine Gefälligkeitsbesprechung, im Gegenteil: Seine Sichtweise auf das Thema öffnet noch einmal ganz neue Räume: »Generell fällt auf, dass Mikronationen als Gefäß sowohl von rechts als auch von links Anziehungskraft besitzen. Es ist kein Zufall, dass die Krise der gegenwärtigen Politik Mikronationen Auftrieb gibt und sich in Staatskritik nach dem Muster der Tea Party gleichermaßen manifestiert wie in interessanteren Projekten, die afrikanischen Migranten zu Ausweisdokumenten verhelfen und gängige Staatlichkeit in Frage stellen, das Prinzip Nation ridikülisieren (lächerlich machen; Anm. ak) oder einfach ausscheren wollen aus der scheinbaren Ausweglosigkeit des kapitalistischen Realismus.« Der Film »Empire Me« ist ab Januar 2012 in ausgewählten Kinos zu sehen, und sicher nicht nur in Österreich.

Von Wien geht's nach Mainz, aber nur als Ausgangspunkt für weitere Abenteuer: »Access Denied - Ortsverschiebungen in der realen und virtuellen Gegenwart« heißt der Titel von testcard #20. Das Thema der aktuellen Ausgabe war, wie auch aller vorherigen bei testcard, die Idee von Martin Büsser. Dieser meiner Meinung nach beste unter den kritischen deutschsprachigen Musikjournalisten ist im September 2010 im Alter von 42 Jahren gestorben. (siehe Nachruf in ak 554) »Martins plötzliche Erkrankung und sein Tod sind eine Katastrophe. Für testcard, für den Ventilverlag, für den nicht-gekauften, nicht anzug-tragenden Journalismus und für vieles und viele mehr«, schreibt Johannes Ullmaier, einer der Herausgeber.

Bis zu seinem letzten Tag waren die Redaktionsmitglieder an sein Krankenbett gekommen und hatten mit ihm über das Thema »Orts-Diskurse« diskutiert. Ohne ihn hat es dann viel länger gedauert als sonst, die normalerweise zweimal pro Jahr in Buchform erscheinende testcard fertigzustellen. Es gibt Artikel, Essays und Interviews zu Themen wie »Linke Räume«, »Der kommende Aufstand«, »Bohemistische Lebensweisen«, »Queere Subkulturen«, »Weltmusik 2.0«, eine Fotostrecke über Proberäume. Dazu Aufzeichnungen von Gesprächsrunden mit JournalistInnen und Aktiven aus verschiedenen Subkulturen: Tisch Nord in Mainz, in dem es vor allem um die Frage geht, warum die Beteiligten nicht nach Berlin ziehen; Tisch Süd in Wien, mit persönlichen Erfahrungen von Migrantinnen aus Ex-Jugoslawien und zum Exotismus in den Filmen von Emir Kusturica; sowie einen Nahost-Tisch, in dem die Punkszene in Israel Thema ist.

Eine Abwärtsspirale des Geschmacks

Und, wie schon im Titel angekündigt, geht es auch um Musikrezeption in der virtuellen Gegenwart. »Beim Zappen auf MySpace oder Youtube verbindet sich Trägheit mit dem grassierenden Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu einer Abwärtsspirale des Geschmacks. In deren Folge lässt die Wahrnehmung nur das Ewiggleiche in immer weiter verwässerter Form durch. Erfolg hat, was nach spätestens zehn Sekunden auf den Punkt kommt. Andernfalls wird weggeklickt«, polemisiert Wolfgang Seidel in seinem Artikel »Echtzeitmusik«, in dem er die gleichnamige Improvisationsszene Berlins vorstellt.

Darin beschreibt er auch die Rolle der MusikerInnen beim Verdrängungsprozess der Gentrifizierung, der gerade in Neukölln angekommen ist: »Dass der Kunst die Bionade-Bourgeoisie folgt, deren erste Welle die KünstlerInnen noch wegen der gebotenen Vielfalt umarmt, deren zweite Welle dann aber meist schon wegen Ruhestörung die Polizei ruft, ist nicht die Schuld der Kunst. Die Kunstszene ist nicht bloß die Vorhut der Gentrifizierung, sondern ebenso auf der Flucht. Die Kunst - oder zumindest jener Teil davon, dem die Echtzeitmusik zuzuordnen wäre - läuft davon, immer an der Peripherie der urbanen Zentren und der für die KünstlerInnen notwendigen Infrastruktur und Öffentlichkeit entlang.«

Neben dem jeweiligen Thema stellt testcard auf etwa 80 Seiten in den Rubriken »Tonträger«, »Papier« und »DVDs« Platten, CDs, Sachbücher, Comics, Belletristik und Filme vor. Leider wird in den Platten- und CD-Besprechungen grundsätzlich alles bejubelt, die sogenannten Kritiken sind nichts als Begeisterungs- und Befindlichkeitslyrik. Deshalb weiter nach London, wo das Monatsmagazin The WIRE den entscheidenden Unterschied macht. Dort erfährt man genaue Beschreibungen der verhandelten Musik, über die Produktion der Sounds, Einordnung gegenüber Vergleich- und Unterscheidbarem, und häufig genug auch deutliche Kritik bis hin zum Verriss. Nur so machen Besprechungen Sinn.

The WIRE, Untertitel »Adventures In Modern Music«, ist ein Reisemagazin, das sich seit über 25 Jahren der ungewöhnlichen bis experimentellen Musik und angrenzenden Kunst und Literatur aus allen Ecken der Erde vermittelt. In der Ausgabe Nr. 334 vom Dezember 2011 geht es um psychedelische Musik aus der Türkei der 1970er Jahre, die Geschichte eines Krautrockers aus Deutschland und dessen Einfluss auf Techno, Videoanimationen aus Schweden, nach Chicago zur dort grassierenden Footwork-Szene, und in den Festival- und Konzertrückblicken überall hin. Auf der seit einem knappen Jahr installierten »Collateral Damage«-Seite gibt es jeweils einen Beitrag aus der Musikbranche zum heftig diskutierten Überthema »Musik und Internet«. Dazu kommt, dass durchschnittlich jeder zweiten Ausgabe eine CD beiliegt. In der letzten waren es sogar zwei: The WIRE Tapper 27, die von der Redaktion zusammengestellt wird, sowie »Estonian Music« mit experimenteller Musik aus Estland.

Die Rezeption von The WIRE ist ein geographischer, musikalischer und transzendierender Trip. Die Verbindung von gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und künstlerischen Themen ist hier selbstverständlich und damit deutlich anders als im deutschsprachigen Raum. Allein, dass jeden Monat mindesten vier neue Bücher besprochen werden, die sich mit Musik auseinandersetzen. Dazu kommt, zumindest für mich als jemanden mit durchschnittlichen Englischkenntnissen, das Abenteuer des Sprachverständnisses, das aus einer Entdeckungs- öfters eine Phantasiereise werden lässt.

Allen drei Magazinen gemeinsam ist die Wertschätzung des Visuellen, von Layout über Fotos bis zur Gestaltung von Anzeigen, die eher ein zusätzlicher Informationspool sind. Sie gehen keine Komplizenschaft ein mit der Mode-, Elektronik- und Eventindustrie, wie das bei anderen Popkulturmagazinen wie SPEX, Intro, de:bug oder Groove der Fall ist.

The WIRE, skug und testcard möchte ich allen LeserInnen von analyse 'amp; kritik empfehlen, für die Musik und Kunst mehr sind als Formate, über die politische Inhalte transportiert werden. Mit der Umgestaltung von ak verbinde ich auch die Hoffnung, dass in Zukunft der Diskussion von herausfordernder Kunst und Ästhetik mehr Raum gegeben wird, gemäß dem Song der Goldenen Zitronen: »Plötzlich neue Positionen, und die Fähigkeit zur Handlung.« Dass das nicht einfach wird, hat auch Martin Büsser festgehalten: »Es fällt schwer, innerhalb der Linken ästhetische Ansätze zu vermitteln, die vom Experiment - im Sinne einer ästhetisch entgrenzenden oder doch zumindest ungewohnt konfrontierenden Erfahrung - leben, was im Falle der Musik heiß: die Dissonanzen besitzen.« Auf ins Abenteuerland der Ästhetik!

Haddl Konopka lebt in Nürnberg und ist Selector, Veranstalter und verantwortlich für die Sendungen »Radio Mao« und »Step Across The Border« beim freien Radio Z.

skug - Journal für Musik, erscheint vierteljährlich, Einzelheft 4 EUR, www.skug.at.testcard - Beiträge zur Popgeschichte, halbjährlich im Ventil Verlag, im Buchhandel 15 EUR, www.testcard.de.The WIRE - Adventures In Modern Music, erscheint monatlich, Jahresabo 69 EUR, www.thewire.co.uk.