Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 612 / 19.1.2016

Profiteure der Revolten

Arabellion Islamisten zwischen Massenprotesten, Taktiererei und Fundamentalismus

Von Bernhard Schmid

Die ersten freien, wirklich pluralistischen und unmanipulierten Wahlen in mehreren Ländern der Region wurden von islamistischen Parteien gewonnen. Dabei variiert ihr Erfolg und gesellschaftlicher Einfluss ebenso stark wie ihr politisches Profil. Eine einheitliche Strategie verfolgen die unterschiedlichen Bewegungen und Parteien des politischen Islam nicht. Allerdings gibt es dennoch ideologische Gemeinsamkeiten, da bei fast allen einige Grundelemente vorhanden sind.

Im Allgemeinen bestehen ihre Programmatik und ihr Diskurs aus einem Mix von Themen sowie »Werten«, die rund um die Vorstellung einer Art Remoralisierung der Gesellschaft angeordnet sind. Dazu zählen eine repressive Sexualmoral und Familienvorstellung, das Versprechen sozialer Gerechtigkeit - vor allem durch die »Bekämpfung von Korruption« - sowie das Eintreten für eine stärkere Selbstbehauptung gegenüber Dominanzansprüchen der Länder des Nordens.

Aus der Vorstellung einer Rückkehr zu einer verbindlicheren Moral wird auch hergeleitet, dass dann die Korruption als Hauptquelle sozialer Übel verschwände und dass mehr soziale Gerechtigkeit herrschen werde. Schließlich wird auch der Anspruch erhoben, dass man bedrängten Muslimen überall auf der Welt - sei es im Bosnienkonflikt vor wenigen Jahren, PalästinenserInnen unter israelischer Besatzung oder MigrantInnen in Europa - in einer Art Solidargemeinschaft beistehen müsse.

Die jüngsten Wahlen

In Tunesien und Marokko gewannen bei den Wahlen im Herbst als moderat-islamistisch bezeichnete Parteien, die eine institutionelle Strategie verfolgen und in der näheren Zukunft in Koalitionen mit bürgerlichen respektive sozialdemokratischen Parteien regieren werden. In Marokko hatte sich der PJD (Parti de la justice et du développement) - die »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« - aus der Protestbewegung des »arabischen Frühlings« weitgehend herausgehalten. Dennoch profitierte die Partei später von ihrer Anti-Korruptions-Kampagne, die sie in den Augen vieler MarokkanerInnen als eine Art dritte Kraft zwischen der außerparlamentarischen Opposition und den Regimekräften erscheinen ließ. Umgekehrt ist eine charismatische, gewaltlos-messianische islamistische Kraft Al-Adl wal Ihsane (»Gerechtigkeit und gute Taten«) - ein integraler Bestandteil des außerparlamentarischen Oppositionsbündnisses, dem ansonsten überwiegend linke Kräfte angehören.

Während Al-Adl wal Ihsane nicht zu Wahlen antritt und auch nicht offiziell zugelassen ist, wurde der PJD im November 2011 mit 26 Prozent der Stimmen zur stärksten Partei. Dieser Erfolg ist dennoch relativ. Von 21 Millionen volljährigen MarokkanerInnen hatten sich insgesamt 13 Millionen in die Wählerregister eingetragen, und von den Letztgenannten gingen insgesamt 45,4 Prozent an die Wahlurnen. Im Übrigen war mehr als ein Fünftel der abgegebenen Stimmzettel ungültig gemacht. Dies relativiert die Wählerzahl der Partei doch sehr stark.

Dagegen mischte die größte islamistische Partei in Tunesien, Ennahdah (»Wiedergeburt«), bei der Massenbewegung gegen die Diktatur Ben Alis im Januar 2011 indirekt mit. Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Oktober wurde Ennahdah ebenfalls zur stärksten Partei, mit einem Stimmenanteil zwischen 38 und 39 Prozent und 41,4 Prozent der Sitze. Auch hier ist der Erfolg allerdings zu relativieren: Insgesamt ging nur gut jedeR zweite volljährige TunesierIn zur Wahl. Ennahdah wurde von insgesamt 21 Prozent der erwachsenen tunesischen Bevölkerung gewählt.

Nochmals anders sieht die Lage in Ägypten aus, wo am 4. Dezember die ersten Ergebnisse des ersten Durchgangs zur Wahl des parlamentarischen »Unterhauses« in neun Gouverneursbezirken bekannt gegeben wurden; gewählt wurde in den am dichtesten bevölkerten Gebieten, darunter die Großstädte Kairo und Alexandria. Bei einer Wahlbeteiligung von 52 Prozent erhielten islamistische Parteien insgesamt 65,25 Prozent der Stimmen. Dabei ist ihr Spektrum jedoch weit aufgefächert.

Im Zentrum stehen die Muslimbrüder, die sich als eine Art »Mitte-Rechts-Partei« zu profilieren versuchen und als ungefähre Entsprechung zu einer christdemokratischen »Volkspartei«, freilich mit autoritärer Vergangenheit, auftreten. Seit Jahresbeginn verhandeln sie offen mit den derzeit regierenden Militärs, mit der US-Administration und anderen Akteuren und versuchen, Garantien für ihre »Berechenbarkeit«, Harmlosigkeit und Akzeptanz demokratischer Spielregeln abzugeben. Ihre Partei Horrya wa' Adalat (»Freiheit und Gerechtigkeit«) erzielte 36,6 Prozent der Stimmen.

Zugleich erhielten die, im engeren Sinne »fundamentalistisch« auftretenden, Salafisten mit ihrem Parteienbündnis (deren Hauptkraft En-Nour, »Das Licht«, darstellte) 24,4 Prozent. Vielen erschienen sie offenkundig als konsequentere und »ehrlichere« Kraft. Und dies, obwohl die Salafisten bis zum Jahresanfang nicht nur keine Opposition gegen das Mubarak-Regime betrieben, sondern von diesem mit ihren (dank üppiger Gelder aus Saudi-Arabien betriebenen) Fernsehsendern und ihrer Videokassetten-Propaganda durch dieses faktisch toleriert wurden - um den Muslimbrüdern Konkurrenz zu bereiten. Erst in den letzten Monaten nahmen auch die Salafisten an Demonstrationen gegen die jetzige Militärregierung teil. Eine in den 1990er Jahren entstandene bürgerlich-demokratische Abspaltung der Muslimbrüder wiederum, El-Wassat (»Das Zentrum, die Mitte«), erhielt 4,3 Prozent.

Probleme mit den Protesten

Vor allem die Muslimbrüder hatten in Ägypten, nach wochenlangem Zögern, ab Februar 2011 schließlich teilweise an den Protesten gegen das damalige Mubarak-Regime teilgenommen. Dies war keineswegs selbstverständlich, und es war mit erheblichen Widersprüchen verbunden.

Denn die Massenproteste, in Tunesien wie in Ägypten, wurden durch die Islamisten weder ausgelöst noch kanalisiert oder beherrscht. Im Gegenteil. Auslöser waren mehrere Selbstverbrennungen verzweifelter Arbeitsloser in Tunesien, denen weitere in Algerien, Mauretanien, Ägypten und Saudi-Arabien folgten. Diese lösten zunächst in Zentraltunesien eine Revolte in den sozialen Unterklassen aus, die sich dann auf das ganze Land sowie breitere gesellschaftliche Kreise ausbreitete und später auf die Nachbarländer übergriff. Was immer man von einer extremen »Protestform« wie der Selbstverbrennung hält - sie steht auf jeden Fall in scharfem Widerspruch zu orthodox-islamischem Denken. Dieses verbietet jede Form von Freitod außerhalb von Kampfhandlungen und betrachten ihn als eine der allerschlimmsten Sünden.

Die Islamisten und konservativ-islamische Kräfte standen also zunächst aus ideologischen Gründen im Abseits, als die so lange unterdrückten Emotionen, Frustrationen und verdrängten Wünsche nach einem besseren Leben durch die Revolte »entfesselt« wurden. Selbstverständlich nahmen später auch islamistische Kader an den Demonstrationen teil; als Repräsentanten einer unter mehreren politischen Kräften, die eine (jeweils unterschiedliche) politische Orientierung anzubieten suchten.

Im ägyptischen Falle spaltete sich dabei ein Teil der auf Aktivität und Öffnung gegenüber anderen Protestkräften drängenden Jugend im Verlauf der Massenbewegung von den Muslimbrüdern ab. Ihre im Frühjahr 2011 lancierte »Partei der ägyptischen Strömung« (Hizb al-tayyar al-misri) beteiligte sich an dem Wahlbündnis »The revolution continues«, das von jungen RevolutionsteilnehmerInnen gebildet wurde und eher von Linken geprägt ist. Dieses Bündnis erhielt 3,5 Prozent der Stimmen - ein Ergebnis, das nicht nur eine Kluft zwischen städtischer Avantgarde der Massenproteste und breiten Teilen der übrigen Bevölkerung widerspiegelt, sondern auch darauf zurückzuführen ist, dass sich die unmittelbar aus den Massenprotesten hervorgegangenen oder diese unterstützenden Listen ab den ersten Novembertagen 2011 aus dem Wahlkampf zurückzogen. Damals waren die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo wieder aufgeflammt, u.a. gegen die Pläne der Militärregierung, noch bis 2013 im Amt zu bleiben. Inzwischen wurde der Rücktritt der Militärregierung offiziell auf Juni 2012 vorgezogen.

Bernhard Schmid lebt meistens in Paris und analysiert seit vielen Jahren für ak die Politik in Frankreich und Nordafrika.