Der Gesellschaftskritik neue Kleider
Diskussion Die subkulturell geprägte Linke reproduziert die Kultur von Ausgrenzung und Konkurrenz
Von Jörg Nowak und Ceren Türkmen
Die Redaktion der sozialwissenschaftlichen Zeitschrift PROKLA kündigt zwei Ausgaben zum Thema kritische Gesellschaftstheorie an. Das Thema kommt unscheinbar ungewöhnlich allgemein daher. Bei genauem Hinsehen wird hingegen deutlich, dass die Frage nach den historischen Bedingungen und Widersprüchen kritischer Gesellschaftstheorie wichtig ist. Mehr noch: Für die linken Bewegungen wird sie zu einer entscheidenden wie auch notwendigen Haltung; sogar eine Chance für Aufklärung in Form kollektiven Nachdenkens über Versäumnisse, Engpässe und Durchbrüche im Verhältnis von linken Theorien und Politiken angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1970er Jahren.
Hierfür müsste die Diskussion in einem breiteren politischen Kontext geführt werden. In der plötzlichen Aufregung um den Aufstieg der Linkspartei, der Gründung des Instituts für Solidarische Moderne (ISM) und der Diskussion um Rot-Rot-Grün hatte sich eine solche Auseinandersetzung in Umrissen kurz angedeutet - auch in ak. Eine kohärente Diskussion innerhalb der Linken blieb jedoch aus.
Nicht nur bei den genannten Fragen werden keine gemeinsamen Politikforen gesucht, unausgesprochene Konflikte nicht thematisiert und werden »Differenzen« nicht politisch verhandelt. Dadurch wird eine linke Unbeholfenheit verstärkt, die sich auch in der aktuellen Beziehung zwischen der »heterogenen linken Bewegung« und der »Gesellschaft« in der Krise des Kapitalismus wiederfindet. Die Ohnmacht der Linken angesichts der globalen Finanzkrise ist Ausdruck der Hegemonie des Kapitals, selbst in seiner tiefsten Krise.
Für einen Ausweg aus dieser Situation bedarf es der Debatte - nicht um die unterschiedlichen Positionen in der Linken »einer Linie« zu subsumieren, sondern den aktuellen Zustand von (un)bezahlter Arbeit, Alltag und (Selbst)Befreiung auf der Höhe der aktuellen kapitalistischen Organisierung zu diskutieren, um Antworten aus multiplen Perspektiven zu erkennen und von »links« zu beantworten: Wie sehen die objektiven Veränderungen aus und wie die Kämpfe und die Bedingungen der Kämpfe und Kämpfenden?
Gesellschaftskritik über Ökonomie hinaus
Um eine neue Diskussion zu führen, fragen wir auch nach Selbstkritik: Was bedeutet es heute, ohne linke erfolgreiche breite Praktiken das subjektive Leben als eben »Linke« zu bestreiten? Was bedeutet es, in einer in sich zerrissenen bürgerlich ideologischen Ordnung in autonomen oder »linksradikalen« Gruppenstrukturen ein plurales »Wir« aufrechtzuerhalten? Warum wird daran festgehalten und wie - mit welchen Widersprüchen - reproduziert es sich? Wie erfolgt Anerkennung? Sind es die vielen einzelnen, endlosen, rastlosen, punktlosen Projekte, die Anerkennung verschaffen? Vor allem: Wie hat sich das Verhältnis zwischen bewegungslinken Gruppen und den Unterdrückten im Zuge der Klassentransformationen geändert?
Linke Theorie und Selbstverständigung haben sich in den letzten 40 Jahren allmählich verändert. Die Proklaredaktion beschreibt dies in einem Call for Paper folgendermaßen: »Zwei oder drei Generationen von an Marx orientierten Intellektuellen haben während der vergangenen Jahrzehnte versucht, Gesell-schaftsanalyse mit der Kritik der politischen Ökonomie zu verbinden. Doch die Diskrepanz scheint auch heute noch immer schwer überwindbar zu sein.« Dies geht mit der impliziten Annahme einher, postmoderne und poststrukturalistische Ansätze hätten die Veränderungen jenseits der Ökonomie analysiert, während sich die marxistischen AutorInnen vergeblich bemüht hätten, das Feld der Ökonomie hin zur Gesellschaftsanalyse zu erweitern.
Diese These greift allerdings zu kurz, denn sie übersieht die inneren Spannungen zwischen unterschiedlichen marxistischen Positionen, die in Deutschland zwischen einer frühen Marxrekonstruktion über eine Kapitalrelektüre hin zu einer gramscianisch orientierten Kulturwissenschaft entstanden. (1)
Dass die marxistische Gesellschaftstheorie gegenwärtig weniger sichtbar ist und nicht im Zentrum kontroverser breiter Diskussionen steht, ist vielerlei historischen Transformationen geschuldet. Die These, Subjektivität und Kultur seien nicht Bestandteil gewesen, trifft jedoch nicht auf die letzten 30 bis 40 Jahre insgesamt zu. Aus unserer Sicht ist eher die Verschiebung wesentlich, wie Gesellschaftstheorie und wie ihr Verhältnis zu linken Politik- und Organisationsformen verstanden wird.
Grenzen der Praxis alternativer Lebensformen
Die Kritikperspektive des Poststrukturalismus schlägt für die politische Praxis eher kleinere Schritte vor: einzelne Widerstände gegen spezifische Institutionen. So gibt es für Foucault explizit »nicht den einen Ort der großen Weigerung«, sondern »es gibt einzelne Widerstände«. (2) Damit verschiebt sich der Blick auf die großen Hierarchien, gegen die auch feministische, antirassistische Politiken wie auch Teile der Arbeiterbewegung gekämpft haben, zugunsten einer kulturalistischen Politik der Segmentierung von Lebensstilen. (3) Es geht auch eine kontroverse Debatte um Subalternität verloren - davon, dass es das Verhältnis zwischen Unterdrückten und Unterdrückern gibt. Und das eben nicht so leicht zu analysieren ist.
In der linken politischen Praxis hatte diese Verschiebung bei der nicht-parteiförmigen Linken die Einigelung in die eigenen »linken« Lebensstile zur Folge: »Die meisten Linken haben es verlernt ihre Nachbarn als Nachbarn zu begreifen, als Leute, mit denen sie zusammenleben und für deren Probleme sie sich interessieren«, so Michael Barg in ak 565. Mit der Kritik an Normierung von Subjektivität blieb die Perspektive der Veränderung wesentlich auf »alternative Lebensformen« beschränkt. (4) Im Zentrum stehen das Individuum und die Erwartungen gesellschaftlicher Institutionen an sein Verhalten bzw. die momentane Verweigerung gegenüber diesen Erwartungen.
»Alternative Lebensformen« traten mit dem Anspruch auf, neue Formen der Kollektivität zu schaffen. Diese Praxis geriet aber schnell an innere Grenzen, weil sie sich in Konsumstil einerseits und lebensweltlicher Abschottung als Lebensstil der Mittelklasse gegenüber Subalternen andererseits erschöpfte. Erreicht wurde zwar eine begrüßenswerte Liberalität. Aber: Die neuen Möglichkeiten für die Subjekte blieben beschränkt, da die materielle Absicherung und die sie tragende gesellschaftliche Solidarität allmählich erodierten. Die neuen Freiheiten können ex post auch als Befreiung der bürgerlichen Ordnung von ihrem eigenen Konservatismus - und damit als Freigabe aller Bereiche des menschlichen Lebens für Vermarktungsprozesse - interpretiert werden. Die Bourgeoisie liebt es, sich mit ihren eigenen Händen zu schlagen, so der Filmemacher Pier Paolo Pasolini.
Die Orientierung oppositioneller Bewegungen an »kulturellen Identitäten« bzw. an Subkulturen, die die »Abweichung« von der Masse zelebrierten, ging auch mit einer Kritik der Klassenidentität der alten Linken einher. Laut Foucault ist der politische, marxistische Bezug auf Produktion und Arbeit Teil des Humanismus und der »Disziplinen« der Moderne, die mit normierten Erwartungen an die Subjekte einhergehen. Diese aufkommende Perspektive entstand zeitlich parallel mit Thesen des »Abschieds vom Proletariat« (Andre Gorz, 1980), der »postindustriellen Gesellschaft« (Alain Touraine, 1969) sowie des »Endes der Arbeitsgesellschaft« (stellvertretend für viele: Jeremy Rifkin, 1995).
Die Veränderungen in der Ökonomie wurden von Teilen der Linken zu schnell in eine politische Abkehr von Klassen als Lebensrealität, von der Welt der Arbeit und der Produktion und einer Hinwendung zur Politik der Lebensstile und des utopischen Aussteigens im Hier und Jetzt gewendet. Nun geht es für uns nicht darum, ein einfaches »Zurück zu Marx« einzufordern - jedoch darum, zu verdeutlichen, welche Perspektive auf die Gesellschaft mit dem Denken der Lebensstile und der »lokalen Widerstände« verloren gegangen ist. Dass eine befreite Gesellschaft auch neue Lebensweisen hervorbringen wird, wenn sie bestehen will, war auch Bestandteil vieler marxistischer Konzeptionen von Politik, jedoch als Veränderung der Massen, eingebettet in ein universalistisches Projekt der Umgestaltung der Gesellschaft.
Klasse als soziales Verhältnis begreifen
Unserer Ansicht nach hat das postmoderne Konzept der partiellen Widerstände und der »Technologien des Selbst« eine Politik von Lebensweisen als Absonderung von der Gesellschaft legitimiert - und sie vermengte sich mit der in Deutschland besonders starken Subkulturalisierung der linken Bewegungen. Diese war in den 1960er und 1970er Jahren begründet in der Kluft zwischen der Bewegungslinken und der Arbeiterbewegung in der BRD sowie der Ablehnung jeder (nationalen) Volkskultur nach dem Faschismus.
Die Subkulturalisierung als »Szene« hat sich schließlich zu einem besonderen Merkmal der deutschen Linken verselbstständigt. Der starke Fokus auf alternative Lebensformen (WGs als Wohnform, Kleidungsstil als Erkennungsmerkmal) hat einerseits den Klassencharakter der Linksradikalen (Mittelschicht) verschleiert, andererseits den Ausschluss der meisten subalternen Akteure verstetigt.
Wir wollen keine neue Politik am Reißbrett entwerfen, um die Isolation der subkulturell und akademisch geprägten Bewegungslinken in der BRD zu überwinden. Es geht eher um den Versuch, in einer Debatte einen Perspektivwechsel und eine Verständigung über die Situation anzuregen, die im günstigen Fall erhebliche materielle Folgen haben können. Was der Bewegungslinken insgesamt fehlt, ist eine Verbindung zu popularer Kultur und Bewegung, was nicht mit unkritischer Romantik und religiösen Erlösungsansprüchen zu verwechseln ist.
Vielmehr geht es uns um Projekte, so auch von Gesellschaftstheorie und -analyse, die den Blick in die gesellschaftlichen Gruppen wagen, die nicht zur politischen Gesellschaft oder Szene gehören; den Blick in ihre generationelle Transformation und die historischen politischen Bedingungen der Widersprüche, innerhalb derer sich komplexes und widersprüchliches Alltagswissen und Alltagskulturen bilden.
Verheißungsvoll wird dies derzeit mit den Kämpfen um ein Recht auf Stadt oder gegen Gentrifizierung praktiziert. Mit »Recht auf Stadt« wurde das Thema Klasse als soziales Verhältnis begriffen und weniger als Kategorie, die in der Übersetzung auf das Subjekt der Befreiung treffen sollte. Es konnte Bezug genommen werden auf die kollektiven wie auch widersprüchlichen Bedingungen des Zusammenlebens, die umkämpft und neuen kapitalistischen Prozessen der Inwertsetzung ausgesetzt sind. Die Organisierung der Lohnarbeitenden selbst müsste in derselben Weise über den Arbeitsplatz hinaus mit anderen Lebensbereichen verbunden werden.
Wenn ein Element der »Krise des Marxismus« darin besteht, dass der Bezug marxistischer Theorie auf die Projektion »Arbeiterklasse« häufig unkritisch und geschichtsphilosophisch war, dann können wir heute sagen, dass dieses historische wie auch theoretische Erbe von der nächsten Generation nicht als integrierter Bestandteil linken Denkens aufgearbeitet wurde. Vielmehr entstanden neue Theorien, die neben notwendigen Kritiken dem Thema der »Klasse«, »Masse« und »Subalternität« schlicht die Relevanz abgesprochen und es verdrängt haben. Und vielleicht gerade so neue Gefängnisse aufgemacht haben.
Dennoch steht der Aufbau einer linken popularen Massenkultur als Aufgabe vor uns - und das schließt einen sozialen wie auch antirassistischen linken Zugang zum Thema Migration ein. Besonders heutzutage, wo Rassismus offensichtlicher denn je die Gesellschaft spaltend organisiert, einen gefährlichen Menschenhass der Mitte freilegt und Menschen exekutiert. Stattdessen ist die Kultur der Bewegungslinken, sind ihre mit Fremdworten überladenen Flugblätter, ihre sozialen Orte, ihre Kleidungsstile nicht nur von Selbstausgrenzung geprägt, sondern sie bezwecken geradezu die Ausgrenzung der Menschen, mit denen man vorgeblich Politik machen will. Dieses alte Problem der subkulturellen BRD-Linken läuft mit den gegenwärtigen Tendenzen der Fragmentierung in der gesamten Gesellschaft zusammen, ebenso wie mit dem Rassismus in Deutschland: zu einer Kultur der Abgrenzung und der Konkurrenz.
Anmerkungen:
1) Hier sei auf die von Marx inspirierte Literatur aufmerksam gemacht, die Gesellschaftsanalyse weit über die Ökonomie hinaus betrieben hat. Erwähnt seien Karl Korsch, Antonio Gramsci, Henri Lefebvre, Peter Brückner, Alfred Lorenzer, die Autoren der Frankfurter Schule und andere undogmatische MarxistInnen.
2) Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main 1977, S. 96.
3) Vgl. die ak-Debatte zu Feminismus ab ak 558.
4) Die Kritik an der Alternativbewegung als Entpolitisierung war bereits um 1980 stark präsent, blieb aber praktisch folgenlos. Hierzu Karl Heinz Roth: Die Geschäftsführer der Alternativbewegung. In: Karl Heinz Roth, Fritz Teufel (Hg.): Klaut sie! Tübingen 1980.