Die Landkarte der Rebellion
Diskussion Raúl Zibechis Blick aus dem Inneren des »Planeten der Slums«
Von Christian Frings
Mit dem Ende des Kalten Krieges erlebte die Geopolitik ein regelrechtes Revival. Die durch den »Systemgegensatz« stabilisierte Abgrenzung von Ost und West, die auch das Verhältnis von Nord und Süd geprägt hatte, war weggefallen. Die Frage wurde wieder drängender, wie die Entwicklung und Stabilität des globalen Kapitalismus mit der räumlichen Konfiguration von Verwertungsketten und Rebellionszyklen verbunden sind. Diese Öffnung des Blicks trug dazu bei, eine gigantische Verschiebung in der räumlichen Zusammensetzung des globalen Proletariats wahrzunehmen.
Obwohl Eric Hobsbawm in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts - vielleicht etwas voreilig - bereits das Ende der Bauernschaft verkündet hatte, blieben die explosionsartig angeschwollenen Slums, Vorstädte, Hüttensiedlungen der Megacities doch mehr oder weniger eine Restgröße im vertrauten marxistischen Koordinatensystem von »Arbeitern und Bauern« - die Frage des Raums beschränkte sich auf den Gegensatz von »Stadt und Land«.
Es war daher das Verdienst von Mike Davis, in seinem Text »Planet of Slums« auf die Bedeutung dieser neuen Orte hinzuweisen, an denen heute über eine Milliarde Menschen leben. Sein Blick ist allerdings sehr pessimistisch: Davis sieht dort vor allem Tendenzen der Selbstzerstörung, auf deren Basis konterrevolutionäre religiöse Fundamentalisten - insbesondere die aus den USA finanzierten Pfingstkirchen und von Saudi-Arabien gesponsorten Islamisten - an Einfluss gewinnen und linke Strömungen verdrängen können.
Kritik an Mike Davis' »Blick von Außen«
Gegen diesen »Blick von Außen« und aus dem Norden erhob sich sofort Widerspruch aus dem Süden, von Menschen die sich selber aktiv an Kämpfen und Selbstorganisationsversuchen dieser neuen Kategorie der SlumbewohnerInnen beteiligen. So schrieb Richard Pithouse aus Südafrika, der mit Abahlali baseMjondolo, einer Selbstorganisation von HüttenbewohnerInnen in Durban, verbunden ist, im Juli 2007:
»Das Denken der Menschen, die in Hütten leben, fehlt völlig im Buch. Davis stellt zwar die Frage danach, ob und in welchem Maße die HüttenbewohnerInnen über die Fähigkeit verfügen, selber in die Geschichte einzugreifen, verpasst aber mehrmals die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass schon die Frage ein deutliches Vorurteil enthält. Er bedient sich Formulierungen wie trotz Riots und Protesten, untersucht aber nie, was denn die Rioter und Protestierenden selber dachten. Der Riot erscheint als ein Naturphänomen. In ähnlicher Weise verfällt er in Naturalisierung, wenn er schreibt, dass Soweto von einem Vorort zu einer Satellitenstadt herangewachsen sei, ohne zu erwähnen, dass es die Sofasonke-Bewegung von HüttenbewohnerInnen war, die 1944 mit über zehntausend Menschen das Land besetzte, das später Soweto werden sollte.
Genauso fehlt jeder Versuch, auf die Bedeutung der HüttenbewohnerInnen für kulturelle Erneuerungen hinzuweisen. Er hätte zum Beispiel auf den großen Schwulenstadtteil der Cato-Manor-Siedlung in Durban hinweisen können, in dem in den 1950er Jahren erstmals homosexuelle Ehen in Südafrika praktiziert wurden, oder wieviel die Musik in den USA Menschen verdankt, die in Hütten lebten - wie Woody Guthrie.« (abahlali.org)
Der Verlag Assoziation A hat nun zwei Bücher veröffentlicht, die den von Pithouse formulierten Imperativ aufgreifen und seine Kritik an Mike Davis mit einem kenntnisreichen »Blick von Innen« fortführen: Raúl Zibechis Studie »Territorien des Widerstands« und den Sammelband »Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt«, der in Aufsätzen zu Lateinamerika, dem Nahen Osten, Afrika, Indien sowie London und Berlin das Phänomen der neuen Religiösität in den Megacities nicht nur als Ideologie und imperialistischen Zugriff, sondern als Lebenspraxis begreift, die auch Momente von Selbstermächtigung und Widerstand beinhalten kann.
Während sich die HerausgeberInnen und einige Autoren von Urban Prayers explizit mit Mike Davis auseinandersetzen und auf kritische Stimmen wie die von Pithouse verweisen, nimmt Zibechi einfach den wichtigen Hinweis von Davis auf die neuen Orte auf und gibt ihm eine andere Wendung: »Die Slums der Städte der Dritten Welt sind der neue entscheidende geopolitische Schauplatz.« In seinem Buch versucht er darzustellen, wie und warum sich in Lateinamerika die Peripherien in diesen »entscheidenden Schauplatz« verwandelt haben. Mehr noch: in Gebiete, »in denen sich die subalternen Klassen als die wesentliche Herausforderung für das kapitalistische System herausstellen und sich sogar in Gegenmächte von unten verwandelt haben.«
Zibechi beschränkt sich auf Lateinamerika, weil er sich hier wirklich auskennt. Dort fährt er herum, redet mit den Menschen und spürt untergründigen Prozessen der Selbstorganisation des Lebens und der Reproduktion nach und ihren Momenten von Autonomie und Widerstand, die dem Blick von Außen verborgen bleiben müssen. In »Territorien des Widerstands« fasst er viele seiner Forschungen zusammen und präsentiert zugleich eine Fülle von konkreten Beispielen und Erfahrungen.
Um den Blick auf die Slums als Orte des Widerstands und der Gegenmacht überhaupt möglich zu machen, muss er zunächst die Vorurteile des westlichen Blicks demontieren. An maßgeblichen Theoretikern des globalen Nordens wie Wacquant, Bourdieu, Castells und auch Negri zeigt er, wie sie in geradezu »orientalistischen« Vorannahmen gefangen bleiben, die in den Megacities nur »Vorstädte der Verzweiflung« ausmachen können und daher allesamt ihre Zuflucht bei der regulierenden Macht des Staates suchen
Zibechi denkt konsequent antistaatlich und fragt danach, wie hier Räume (Territorien) von Lebens- und Arbeitsformen entstehen, die sich dem Zugriff des Staates und der Regierbarkeit entziehen. Dies geschieht immer in der Konfrontation zu einer modernisierten, durch NGOs vermittelten »Kunst, die Bewegungen zu regieren« bis hin zu den militärstrategischen Planungen, die in den Slums die Orte eines »Krieges der vierten Generation« sehen. Die Momente des Widerstands nicht isoliert und allzu beschaulich, sondern sehr genau im Wechselverhältnis zu den Machttechniken des globalen Systems zu analysieren, ist eine der Stärken des Buchs.
Die Slums als »entscheidender Schauplatz«
Einen zweiten westlich orientierten Begriff, der den Blick von Innen versperrt, sieht Zibechi in den »sozialen Bewegungen«. Ähnlich wie Piven und Cloward in »Aufstand der Armen« kritisiert er an dieser Bewegungssoziologie, dass sie Widerstand und Kämpfe erst an artikulierten Programmen und formalisierten Organisationen erkennen kann: »Der Großteil der Bewegungen funktioniert jedoch nicht in dieser Art und Weise. In den städtischen Peripherien verfügen die armen Frauen nicht über die Formen, die eine soziale Bewegung dieser Theoretisierung zu Folge aufweisen soll, und sie spielen trotzdem eine wichtige Rolle als Faktor des sozialen Wandels. Mehr noch, die Frauenbewegungen, die wir kennen, benutzen, abgesehen von einem kleinen Kern an fest organisierten Frauen, eine kapillare statt stabile oder institutionelle Aktionsform. Dennoch sind sie eine große Bewegung, die die Welt von Grund auf verändert hat.«
So wie Pithouse den Ursprung Sowetos in einer massenhaften Landbesetzung von 1944 ausmacht und damit von Anfang an die Dimension der Selbsttätigkeit und des Widerstands in die Geschichte der Slums hereinholt, fängt Zibechi mit der Gründung einer neuen Hüttensiedlung in Santiago de Chile 1957 an - und verfolgt von da aus die weitere Entwicklung der Vorstädte in ihrer ständigen Dialektik von Widerstand und staatlichem Zugriff.
Wie bei allen Versuchen, einen lange vernachlässigten Punkt stark zu machen und ihm die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, neigt auch Zibechi vielleicht bei einigen Beispielen zur Übertreibung der Momente von Autonomie einer eigenen Produktionsweise in den widerständigen Territorien, wenn er deren Zusammenhang mit der globalen Gesamtökonomie zu sehr ausklammert.
Aber gerade diese Einseitigkeit hat ihre Berechtigung als provokative These, die uns helfen kann, die Landkarte der globalen Rebellion angesichts der tiefen Krise des Systems neu zu vermessen. Trotz der etwas lieblos geratenen Bearbeitung der deutschen Übersetzung ist es daher sehr zu begrüßen, dass Zibechis wichtiger theoretischer und strategischer Beitrag aus dem Süden zu einer wirklich globalen Debatte jetzt auch hier zugänglich ist.
Christian Frings lebt in Köln. In ak 562 rezensierte er Susan Buck-Morss' Buch »Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte«.
Raúl Zibechi: Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas. Assoziation A, Berlin, Hamburg 2011. 176 Seiten, 16 EUR.
Raúl Zibechi,
geboren 1952 in Montevideo, war ab 1969 aktiv in einer den Tupamaros nahestehenden Studentenorganisation. Nach zwei Jahren Widerstand gegen die Diktatur ging er 1975 ins Exil. Mitte der 1980er Jahre kehrte er nach Uruguay zurück.
Als Sozialforscher und Aktivist hat er seitdem fast alle Länder Lateinamerikas bereist.