Das war erst der Anfang
Arabellion Was die Situation von Frauen angeht, steht die eigentliche Revolution noch aus
Von Hannah Wettig
Die arabischen Revolutionen hatten zwei Überraschungsmomente: Dass es sie überhaupt gab und dass Frauen daran maßgeblich beteiligt waren. Jahrzehntelang hatten KorrespondentInnen und IslamwissenschaftlerInnen die arabische Welt als politisch erstarrt dargestellt, die Unterdrückung der arabischen Frau war sogar Thema von Roman-Bestsellern. Nicht zu Unrecht.
Der erste UN-Entwicklungsbericht über die arabische Welt 2002 stellte fest, dass die langsame Entwicklung auf drei Defizite zurückzuführen sei: bei der Wissensaneignung, bei politischen Freiheiten und bei den Rechten von Frauen. Die folgenden Berichte stellten zwar positive Änderungen fest. Trotzdem blieb die arabische Welt die Region mit der größten Ungleichheit bei der Gesetzgebung und der geringsten Beteiligung von Frauen, ob im Erwerbsleben oder in der Politik.
In Entwicklungsstatistiken der UN sind Westasien und Nordafrika stets die Schlusslichter: Nur 19 Prozent der Erwerbstätigen außerhalb der Landwirtschaft sind Frauen, weltweit sind es 40 Prozent. Frauen stellen auch nur zehn Prozent der Parlamentsabgeordneten - in Subsahara-Afrika und Lateinamerika sind es 20 Prozent. In den letzten 20 Jahren gab es im Vergleich zu allen anderen Regionen wenig Veränderung. Jedenfalls sofern man nur Statistiken liest.
Als die Rebellionen Anfang 2011 begannen, wurden die Bilder von wütenden und lachenden Demonstrantinnen in die ganze Welt ausgestrahlt. Hunderte Artikel widmeten sich der Rolle der Frauen in den Revolutionen von Jemen bis Tunesien. Die meisten drückten ihr Erstaunen darüber aus, dass diese Frauen etwas zu sagen hatten und dass man sie ließ.
Der libanesische Schriftsteller Rashid Al-Daif schrieb 2006: "Frauen haben ein besseres Gespür für Veränderungen als Männer. Sie riechen das Neue schon aus der Ferne und fühlen es kommen." Wer sich vom Neuen ein Besseres erhofft, der nimmt solche Stimmungen wohl eher wahr. Für die arabischen Frauen, ob islamistische Vorstadtfrau, Bäuerin oder kosmopolite Feministin, standen die Chancen gut, dass jede Neuerung auch eine Verbesserung ihrer Situation bringt. Daher sollte es wenig erstaunen, dass sie in den Revolutionen eine wichtige Rolle spielten.
Internet als besonderer Befreiungsschlag für Frauen
Dieselben Entwicklungen, die die arabischen Revolutionen begünstigten, haben aber auch die Rolle der Frauen verändert. Die Verbreitung von Internet und sozialen Netzwerken war für politischen Aktivismus allgemein ein hervorragendes Instrument. Ein echter Befreiungsschlag war die Technologie aber für Frauen. Viele hatten dadurch erstmals die Möglichkeit, überhaupt regelmäßig mit Menschen außerhalb ihrer Familie zu kommunizieren. Bezeichnend ist auch, dass es in der arabischen Welt keinen Gendergap bei der Nutzung von Computern gibt. Schon vor zehn Jahren studierten etwa in den Golfstaaten mehr Frauen Informatik als Männer. In diesen konservativen Gesellschaften galt damals der Computer-Heimarbeitsplatz als optimal für Frauen, weil sie dort keinen Männern begegnen konnten. Die sozialen Netzwerke haben das Argument überholt, doch die Frauen sind nicht mehr vom Computer wegzukriegen.
Gleichzeitig haben sie sich in den vergangenen Jahren auch sichtbare Plätze in der Öffentlichkeit genommen. In vielen Ländern waren mit dem Aufstieg der Islamisten in den 1980er und 90er Jahren Frauen aus dem Stadtbild verdrängt worden. Am deutlichsten war diese Entwicklung in Kairo, wo sogar Christinnen sich aus Furcht um ihr Leben ein Kopftuch umbanden und wie ihre muslimischen Schwestern nur um Besorgungen zu machen auf die Straße gingen. Doch in den letzten zehn Jahren entstand in Kairo, aber auch in Damaskus eine junge Szene, die sich in Cafés traf. Frauengruppen trauten sich in ehemalige Männercafés, auch gemischte Gruppen trafen sich in der Öffentlichkeit.
In Bengasi berichtete mir eine Studentin diesen Sommer von der Restaurant-Revolution: In einer zentralen Einkaufsstraße ließen sich immer nur Männer in den Restaurants nieder. Dabei waren es vorrangig Frauen, die die Einkäufe erledigten. Vor wenigen Jahren hatte eine Frau davon die Nase voll. Sie war erschöpft und setzte sich in ein Restaurant. Als sie das immer wieder tat, kamen auch andere hinzu. Als im Februar dieses Jahres Muammar Gaddafi, der damalige Diktator Libyens, die Internetverbindungen für den Ostteil des Landes kappte, dauerte es nur wenige Tage, bis viele junge Frauen die Einwände ihrer Familien überwanden und in die Internetcafés strömten, um dort über Satellitenverbindungen im Internet zu surfen.
Diese Freiheiten werden sich die Frauen nicht mehr wegnehmen lassen, genauso wie es unwahrscheinlich ist, dass ein neues Regime den jungen Menschen, die ihre Diktatoren gestürzt haben, die Meinungsfreiheit wieder wegnehmen kann. Doch Freiheit heißt noch keine Beteiligung. Meinungsfreiheit geht auch in einer Scheindemokratie, wie der Libanon schon seit Jahrzehnten beweist.
Gefahr eines Backlash
In der Militärregierung Ägyptens sitzt keine einzige Frau. Die Quote des Mubarak-Regimes von 64 für Frauen reservierten Parlamentssitzen haben die neuen Machthaber abgeschafft. Bei der Wahl zum neuen Parlament galt lediglich, dass jede Partei zumindest eine Frau aufstellen sollte. Im libyschen Übergangsrat gibt es eine Frau, in vielen Stadträten gar keine. In Tunesien sitzen in der Übergangsregierung immerhin zwei Frauen: eine für Kultur, eine für Frauen. Gleichwohl ist die Lage in Tunesien eine ganz andere.
Als Habib Bourguiba 1956 in Tunesien an die Macht kam, setzte er von Anfang an auf Gleichberechtigung von Männern und Frauen - und war in einigem sogar Europa voraus. Er schaffte das auf der Scharia basierende Familienrecht ab. Er verbot Zwangsehen und Polygamie und schaffte die Gehorsamspflicht gegenüber männlichen Vormündern ab. Frauen durften ohne ihren Ehemann zu fragen arbeiten - das war ihnen in der Bundesrepublik erst zwei Jahre später erlaubt. Das neue Wahlgesetz, das bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung im Oktober angewandt wurde, verlangt, dass die Hälfte aller Listenplätze an Frauen vergeben wird. In Deutschland haben Grüne, Linkspartei und SPD vergleichbare Regeln, aber eben parteiintern, nicht als Gesetz.
Wie auch häufig bei den deutschen Grünen, Linken und Sozialdemokraten gelangten in Tunesien kaum Frauen auf die Spitzenplätze: Das Gesetz sicherte ihnen also immer nur einen unsicheren zweiten Listenplatz. Ausgerechnet die islamistische Ennahdah-Partei stellte eine Frau an die Spitze einer ihrer Listen. Die bei den Wahlen siegreiche Ennahdah ist außerdem die Partei, die nicht nur absolut, sondern auch prozentual die meisten Frauen in die Verfassunggebende Versammlung entsenden wird.
Die gemäßigten Islamisten, die sich an der türkischen AKP orientieren, werden die Gleichberechtigung der Frau im öffentlichen Raum nicht zurückdrehen. Es steht aber zu befürchten, dass sie die Familiengesetzgebung wieder an der Scharia ausrichten, Polygamie erlauben und Scheidungen für Frauen erschweren.
Auch in Ägypten haben die Islamisten die Wahlen gewonnen. Allerdings gewann nicht nur die Partei der Muslimbrüder, die in ihrem Programm der Ennahdah vergleichbar ist, sondern auch die radikal-salafistische Nour-Partei erhielt über 20 Prozent der Stimmen. Das ist ein Schock.
Bilden Muslimbrüder und Salafisten eine Regierung, steht vieles auf dem Spiel: die relative Freizügigkeit in Kairo, Alexandria und am Roten Meer, Alkoholkonsum und nicht zuletzt das Verhältnis zu Israel. Doch bleibt zu hoffen, dass die Islamisten letztlich dann doch klug genug sein werden, an all dem nichts zu ändern - sonst blieben nämlich womöglich die TouristInnen weg, auf die die ägyptische Wirtschaft überlebensnotwendig angewiesen ist. Ohne gleich den wirtschaftlichen Ruin zu riskieren, bleibt islamistischen Regierungen nur ein Feld, auf dem sie ihre islamischen Werte beweisen können: Mit Sicherheit werden sie versuchen, die Rechte von Frauen zu beschneiden.
Schon in den ersten Tagen der Revolution zeigte sich, dass konservative Kräfte versuchten, die Revolution und den Sturz von Mubaraks Clan für einen Backlash in der Frauenfrage zu instrumentalisieren. Demonstrantinnen wurden beschimpft, sie sollten doch zu Suzanne Mubarak, der Ehefrau von Mubarak gehen. Es wird ihrem Einsatz zugeschrieben, dass Mubarak die Scheidung für Frauen erleichterte, weshalb Gegner von Suzannes Gesetz sprachen - wie auch schon eine frühere Erleichterung im Scheidungsrecht als Jehans Gesetz bezeichnet wurde, weil die Frau von Anwar As Sadat, Jehan, sich dafür eingesetzt hatte.
Kampf gegen das Regime oder für Frauenrechte?
Überhaupt stimmt es nachdenklich, wie unbeliebt manche Präsidentengattinnen in der arabischen Welt sind. Bei Leila Trabelsi, der Ehefrau des aus Tunesien verjagten Ben Ali, hatte der bei vielen Demonstrationen gegen sie geäußerte Hass einen handfesten Grund: Ihre Familie hat wie keine andere von der Korruption profitiert. Allerdings stand vor allem sie in der Kritik - Bruder, Schwiegersohn, Cousins und Neffen weit weniger, obwohl sie mehr gestohlen haben.
Was genau Suzanne Mubarak getan hat, außer mit dem Falschen verheiratet zu sein, bleibt meist unbeantwortet. Schon früh hat sie ihr Vermögen zurückgegeben. Ein Argument, das man auf die Frage hört, ist denn auch: Diese Villa und das bisschen Geld könne nicht das gesamte Vermögen von Suzanne Mubarak sein.
Aktivistinnen in den arabischen Ländern haben im vergangenen Jahr immer wieder betont, wenn die Revolution vollendet sei, dann würden auch die Frauen eine wichtige Rolle in den neuen Gesellschaften spielen. Solange aber das Regime bekämpft werden müsse, habe es keinen Sinn, sich auf Frauenrechte zu konzentrieren. Das schien aus zwei Gründen plausibel: Die Diktaturen zu stürzen, war als Herausforderung groß genug. Zudem waren die Frauen in der Revolution, also bei Demonstrationen, Aktionen, Vernetzung vielerorts gleichberechtigt.
Doch jetzt könnte es sich rächen, dass die Frauen nicht von Anfang an auf formale Rechte gedrängt haben. Dass überall die Islamisten gewinnen und unter ihnen sogar die konservativsten hohe Stimmenzahlen erringen, zeigt, dass die patriarchale Gesellschaft ihre Vorrechte bis aufs Messer gegen die Frauen verteidigen wird.
Noch nicht ausgemacht ist, welchen Weg Libyen nehmen wird. Das Land muss sich aus der politischen Wüste, die Gaddafi hinterlassen hat, völlig neu erfinden. Dabei entstehen erstaunliche Widersprüche: Radikale Islamisten haben insbesondere bei der Befreiung von Tripolis eine bedeutende Rolle gespielt. Die gesellschaftlichen Regeln sind mit die konservativsten in der arabischen Welt: Fast alle Frauen tragen das Kopftuch, auch im eigenen Haus werden Männer und Frauen getrennt, wobei die Frauen in den Raum der Männer dürfen, um sie zu bedienen. Zugleich gibt es gerade eine Explosion an Freiheiten, die durch keine Militärregierung wie in Ägypten und Tunesien gebremst wird. In den neu entstandenen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern gibt es wenig Tabus, bei einer Buchmesse in Tripolis wurden kürzlich sogar sexuelle Aufklärungsbücher ausgestellt.
Hannah Wettig ist Sozialwissenschaftlerin und Arabistin. Seit Jahren berichtet sie als freie Journalistin über die arabische Welt und Entwicklungspolitik.