Eine Frage der Würde
Arabellion Ein Gespräch über das ansteckende Moment der Kämpfe und internationale Solidarität
Die Revolten in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern brachten nicht nur langjährige Autokraten zu Fall und stellten die politischen Verhältnisse in der Region auf den Kopf. Sie haben auch den rassistischen Blick des Westens abgeschüttelt und ein anderes Selbstbild erkämpft. Ein Gespräch über das unerwartete Element der Aufstände, ihre Rezeption im Westen und über Konsequenzen für linke Politik.
Interview: Jan Ole Arps
Der Beginn der arabischen Revolutionen liegt nun ein Jahr zurück. Wie unterscheidet sich die Situation von der im Dezember 2010?
Juliane Schumacher: In Ägypten hat sich in der Lebensrealität, in Bezug auf Pressefreiheit, Menschenrechte etc., wenig geändert. Die entscheidende Veränderung betrifft das Bild der Menschen in den Ländern. Zuvor waren arabische Länder auch für die Linke in Deutschland ein blinder Fleck, sie wurden als rückständig und undemokratisch gesehen. Auch viele Ägypterinnen und Ägypter orientieren sich stark daran, wie andere sie definieren - eine Folge der Kolonialgeschichte. Nun haben die Leute selbst ein anderes Bild erkämpft. Die rassistische Zuschreibung als unfähig, rückständig etc. ist hinfällig.
Pedram Shahyar: Für mich entscheidend ist die Erfahrung der Selbstermächtigung. Auch wenn es Rückschritte gibt: Diese Leute wissen, sie können wieder was erreichen. Auch die repressive Kontrolle von Hunderten Millionen Menschen im arabischen Raum ist gebrochen. Die alten Institutionen sind vielleicht noch da, aber sie haben bei weitem nicht mehr die Macht, die sie früher hatten.
Hans-Peter Kartenberg: Natürlich spielt es jetzt auch eine Rolle, ob sich die sozialen Verhältnisse tatsächlich verbessern. Dennoch ist aber die politische Dimension von enormer Bedeutung: Nachdem die großen kommunistischen Parteien in der Region längst ausgeblutet waren und der arabische Nationalismus keine Zukunft mehr hatte, lag die Frage längst vor: Kann es ein neues politisches Subjekt jenseits der Figur des dankbaren Untertanen geben, den sowohl der panarabische wie auch der radikal-religiöse Diskurs in der Region vor Augen hatte? Gegen diesen autoritären Diskurs hat sich die Menge nun als politisches Subjekt neu formiert.
Elias Perabo: Ich habe in der Rezeption der Revolutionen im Westen Schwankungen erlebt. Gegenüber den Aufständen in Tunesien und Ägypten herrschte große Euphorie. Gegenüber Jemen gibt es von deutscher Seite eine unglaubliche Fremdheit. Ähnlich bei Libyen. Dort richtet sich der Kampf berechtigt gegen Gaddafi, aber ob da nun progressive Kräfte am Werk sind oder nicht, ließ sich nur schwer beurteilen. In Bezug auf Syrien schwankt die deutsche Wahrnehmung sehr. Nun kommt hinzu, dass in Tunesien und Ägypten mehr oder minder die Islamisten die Wahlen gewonnen haben. Das hat in der westlichen Wahrnehmung doch eine deutliche Reserviertheit bewirkt. Die alten Bilder von den konservativen, religiösen, teilweise barbarischen Muslimen kehren zurück.
Beim Beginn der Proteste vor einem Jahr war die Überraschung groß. Habt ihr eine Erklärung für deren unerwartetes Auftauchen?
Pedram Shahyar: In Ägypten gab es seit 2000 drei Protestzyklen. Im Jahr 2000 sind aus Solidarität mit der Intifada erstmals seit Jahren wieder Leute auf die Straße gegangen, mobilisiert von Linken übrigens. In den Jahren 2004 bis 2006 wandte sich die Kifaya-Bewegung gegen den Betrug bei den Parlamentswahlen. Und 2008, mit dem großen Streik vom 6. April, ist die soziale Dissidenz sehr massiv wieder auf den Plan getreten. Revolutionen gehen meines Erachtens immer auf einen Prozess zurück und auf organisierte Gruppen, die diesen Prozess forcieren. Dennoch ist das Ereignis ein Bruch gewesen. Das bedeutet nicht, dass sich alles ändert, aber in bestimmten Bereichen ändert sich etwas grundsätzlich, zum Beispiel in der politischen Kultur. Auf der Ebene der Ökonomie, des sozialen Lebens oder der traditionellen Familienstrukturen hat sich nur sehr wenig geändert, das beginnt erst. Die ökonomische Lage für die meisten Menschen hat sich sogar verschärft.
Hans-Peter Kartenberg: Um den bisherigen Verlauf der Revolution zu verstehen, müssen wir uns die Unterschiede in den einzelnen Ländern vor Augen führen. In Tunesien und Ägypten konnten die popularen Aufstände auch deshalb siegen, weil in beiden Ländern das herrschende Regime nicht mit dem Staat identisch war. In beiden Ländern gab es Verfassungen und eine politische Kultur außerhalb der herrschenden Cliquen. In Libyen aber war der Diktator selbst das System. Deshalb ging es, als Gaddafi auf die ersten Demonstrationen in Bengasi schießen ließ, sofort ums Ganze. Ähnlich ist es in Syrien, das seit den 1960er Jahren nur eine totalitäre Einparteienherrschaft kennt. In Bahrain wiederum wird die schiitische Mehrheit der Bevölkerung unterdrückt und vom Fürstenhaus politisch ausgegrenzt. Als der Perl-Platz besetzt wurde, ließ der Emir die Menge zusammenschießen und saudische Truppen einmarschieren. Der Westen opferte diese Proteste, um in Libyen mit Rückendeckung der Arabischen Liga intervenieren zu können. Der Golf-Kooperationsrat ist jetzt die reaktionäre Entente, seine Politik lautet: präventive Konterrevolution. Die Vereinigten Arabischen Emirate werben Söldner an, die bereits im irakischen Abu Ghraib folterten, Überwachungstechnik wird installiert, und der saudische König pumpt 130 Milliarden Dollar in Wohnungsbauprogramme, damit alles beim Alten bleibt. Aber alle wissen, dass nichts mehr unabänderlich ist.
Elias Perabo: Auch in Syrien hat es in den letzten Jahren Veränderungen gegeben, auch durch den Regimewechsel vom Vater auf den Sohn Assad. Aber dort ist keine politische Kultur vergleichbar mit der in Ägypten entstanden. Im Aufstand spielte das spontane Element eine sehr große Rolle. Seitdem hat eine enorme Politisierung stattgefunden. Ein Beispiel: Die meisten lokalen Komitees sind erst im Zuge des Aufstands entstanden, Anfang Juni haben sie sich in einem Netzwerk zusammengeschlossen. Dieses Netzwerk hat versucht, politische Positionen zu erarbeiten und diese mit den anderen Komitees abzustimmen. Zu Anfang haben viele Komitees gesagt, wir können eine Demo organisieren, uns um die Gefangenen kümmern, aber zu den politischen Positionen haben wir keine besondere Meinung. Als ich im August wieder da war, lief alles viel, viel langsamer, weil auf einmal alle mitreden wollen.
Juliane Schumacher: In Europa dominieren zwei Erklärungsansätze. Zum einen heißt es, die Leute wollen demokratische Freiheiten, Bürgerrechte etc. Das zeigt sich zum Beispiel darin, wie wichtig in der europäischen Medienlandschaft die Wahlen in Tunesien und Ägypten genommen werden. Zum anderen ist bei vielen europäischen Linken eine Sichtweise beliebt, nach der es den Leuten in erster Linie um soziale Gerechtigkeit geht. Beides trifft aus meiner Erfahrung so nicht zu.
Mir gegenüber haben viele Leute dagegen vor allem die Motive der Würde und der Menschlichkeit betont. Diese Betonung der Würde hat auch mit der massiven Repression zu tun. All diesen Ländern war gemein, dass es ein Ausmaß an staatlicher Gewalt und Willkür gab, das hier überhaupt nicht vorstellbar ist. Das gezielte Brechen der Würde, die Erniedrigung vor der Polizei, um einen Job zu kriegen, um zu überleben, war eine ständige Erfahrung. Deshalb konnte die Selbstverbrennung des jungen Prekären in Sidi Bouzid zum Auslöser der Revolutionen in vielen Ländern werden.
Pedram Shahyar: Schon unter Mubarak war die Polizei nicht nur ein Instrument der politischen Repression, sondern auch der ökonomischen Ausbeutung. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit ist daher immanent, sie ist gar nicht wegzudenken. Ich glaube, dass wir Schwierigkeiten haben, diesen Charakter zu fassen, weil uns sowohl der Liberalismus als auch eine verflachte Variante des Marxismus begrifflich versaut haben. Beide denken Ökonomie und Politik als zwei getrennte Sphären - da ist die Ökonomie, hier die Politik, Basis und Überbau. Die arabischen Revolutionen sind von einer Einheit der sozialen und politischen Frage gekennzeichnet. Der Begriff der Würde kann ein Hilfsmittel sein, um diese Einheit zu beschreiben, aber eigentlich fehlt uns das begriffliche Repertoire, um diese Revolution zu fassen.
Die Revolte ist nicht nur innerhalb der nordafrikanischen und arabischen Länder übergesprungen, sondern auch nach Südeuropa, Israel - wenn auch mit anderen Themen - und in die USA. All diese Proteste haben die Formen kopiert, die in den arabischen Revolutionen entwickelt wurden - die Versammlung auf zentralen Plätzen, die andauernde Diskussion. Worin liegt die Gemeinsamkeit dieser Bewegungen? Im Gefühl des Überflüssig- und Ausgeschlossenseins?
Elias Perabo: Ich glaube, das zentrale Gefühl, das man selbst in den zarten Ansätzen von Occupy-Protesten in Deutschland findet, ist: Wir wollen selbst über unser Leben bestimmen, und diese Möglichkeit wird uns verwehrt.
Pedram Shahyar: Meines Erachtens besteht das Ansteckende, das von der arabischen Revolution ausgeht, in der Erfahrung: Du kannst es machen. Revolutionen sind möglich, übermächtig erscheinende Gegner können gestürzt werden.
Hans-Peter Kartenberg: Vorhin wurde das Selbstbild in den arabischen Ländern, die Verinnerlichung des europäischen Blicks angesprochen. Was wir alle nicht für möglich gehalten haben: Auf einmal erkannten sich die Menschen in Europa in der Menge auf den arabischen Plätzen wieder. Wir sahen nicht mehr den Anderen, den Araber, den vermeintlichen Islamisten oder Antisemiten - all diese weißen, chauvinistischen Bilder, die besonders in der jüngeren deutschen Linken zuletzt so wirkungsmächtig waren. Sondern wir sahen Aktivisten, die sich in ihrem Äußeren, ihrer Artikulation und Handlung kaum von uns selbst unterscheiden. Hier beginnt die Identifikation. Das macht nicht nur Mut, sondern ließ auch das Moment der Organisierung überspringen: Alle wollen es nachmachen - weil wir es auch erleben wollen. Darin liegt der universelle Charakter der ägyptischen Revolution. Deshalb strahlte die Form des Protests über die Region hinaus. Ich finde das völlig faszinierend. Niemand hat vorhergesehen, dass dieser rebellische Impuls aus der arabischen Region kommt - linke Diskurse orientierten sich eher an Venezuela, Brasilien oder den Zapatisten.
Nicht nur die Form ist übergesprungen und wurde kopiert, auch die Ablehnung des politischen Programms.
Juliane Schumacher: Es gibt einige Punkte, die sind dem Volksaufstand inhärent: das Plötzliche und Unerwartete, die Selbstermächtigung, das Führerlose. Einen Unterschied zwischen den Occupy-Protesten und den arabischen Revolutionen sehe ich in der Qualität des Ausschlusses, gegen den sie sich wenden. Die europäischen prekären Jugendlichen sind nicht in dem Maße chancenlos wie die Jugendlichen in Ägypten oder Tunesien. Vor allem aber finden die arabischen Revolutionen in einem Raum statt, in dem sie nach der Zuschreibung von außen nicht hätten stattfinden dürfen. An einem Ort, den das »demokratische Europa« eigentlich als sein undemokratisches, rückständiges Gegenstück braucht. Gleichzeitig sollte man bei aller Begeisterung nicht in positive Verklärung verfallen. »Die« Ereignisse in »den« arabischen Ländern sind nicht nur großartig. In Ägypten gibt es auch innerhalb der Revolution scharfe Klassengegensätze und einen enormen Nationalismus. »Ägypten über alles« ist auch ein Slogan von Teilen der Protestbewegung geworden.
Pedram Shahyar: Ich denke, dass der Tahrir-Platz viel von dem vorgezeichnet hat, was den neuen Bewegungszyklus ausmacht, den wir am 15. Oktober in Ansätzen auch in Europa gesehen haben. In meinen Augen gibt es eine heimliche Verwandtschaft zwischen dem Weltsozialforum, den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz und den Occupy-Protesten. Die Frage ist: Wie agiert eine globale Linke in dem neuen Rahmen? Das direkt Demokratische, die Ablehnung der Repräsentation, die Selbstermächtigung ist zugleich eine Stärke und ein Dilemma. Es führt auch dazu, dass die Aufstände bislang keine anderen zentralen Institutionen entwickeln. In Ägypten blieb, nachdem der alte Staatsapparat paralysiert war, nur noch die Armee übrig als Institution, die versprechen konnte, die Gesellschaft zu ordnen. Das ist ein Problem der neuen Aufstände: Wie ersetzt man das Alte, das man zerschlagen will?
Sind die Versammlungen auf den Plätzen kein Versuch, etwas Neues zu entwickeln?
Juliane Schumacher: Ich denke schon. Die westliche intellektuelle politische Kultur und individuelle Identität, auch die linke, definiert sich ganz stark dadurch, wie sie sich von anderen abgrenzt. Das gab es - das ist meine Erfahrung - in Ägypten so nicht. Das schlägt sich auch in der Berichterstattung nieder: Von Europa aus wird viel Wert auf die Spaltung in religiöse und säkulare Gruppen gelegt. Nach meiner Wahrnehmung spielt das für die Protestierenden eine sehr geringe Rolle. Für mich macht dieser Punkt das Protestgefühl des Tahrir-Platzes aus: größtmögliche Toleranz und Offenheit füreinander. Die Linke in Europa hat Schwierigkeiten, mit dieser Offenheit umzugehen.
Hans-Peter Kartenberg: Mich überzeugt das Argument einer identitären Linken nur bedingt. Natürlich gibt es von sich selbst Illuminierte mehr als genug in der Linken, besonders in der radikalen, aber als allgemeine Charakterisierung funktioniert es nicht. Spätestens seit den Protesten in Heiligendamm 2007 gibt es immer wieder Versuche, offene Aktionsformen zu entwickeln, die eine militante Haltung mit Formen der massenhaften Selbstermächtigung verbinden. Sei es das Schottern gegen den Castor oder die zahlreichen Blockadebündnisse gegen Nazis. In Europa und besonders in Deutschland brauchen wir diese Momente der massenhaften Selbstermächtigung, und es ist die Aufgabe radikaler Linker, dafür Räume und Konfrontationspunkte zu bestimmen.
Wenn es in den Kämpfen vor allem um Würde geht und darum, eine Situation der Ohnmacht zu beenden, dann ist der Wunsch, aus der eigenen Lage heraus zu sprechen und sich nicht gleich wieder unter das nächste Programm unterzuordnen, nur verständlich. Müssen wir lernen, stärker aus unserer eigenen sozialen Position heraus zu sprechen? Anstatt zuerst vom politischen Programm auszugehen?
Hans-Peter Kartenberg: Das Programm der globalisierungskritischen Bewegung ist doch, wenn wir es ins Verhältnis zur Epoche der Parteiorganisationslinken setzen, eine Agenda der absoluten Programmfreiheit, zusammengefasst im Motto: »Eine andere Welt ist möglich«. Es gibt weder gemeinsame Aufrufe, noch strategische Beschlüsse. Das ist eine bewusste Offenheit. Die radikale Linke in Deutschland spricht immer erstmal von sich: von ihren Bedürfnissen, ihrem Umweltbewusstsein, Genderfragen. Der Vorwurf, dass die Bewegung für eine Klasse oder Kämpfe auftritt, die selbst noch nicht durch ihre Praxis sprechen, trifft so allgemein nicht zu. Die interessantere Frage lautet, wie können radikale Linke aus ihren eigenen Bedürfnissen und Kämpfen eine allgemeine gesellschaftliche Notwendigkeit formulieren.
Elias Perabo: Mir brennt eine ganz andere Frage auf den Nägeln: In welchem Verhältnis steht die deutsche Linke zu den Ereignissen? Welche Formen internationalistischer Solidarität sind möglich? In Syrien haben die lokalen Komitees jetzt neun Monate friedlicher Auseinandersetzung hinter sich, und sie sind, was das Ökonomische betrifft, ziemlich am Ende. Sie müssen Aktivisten im Untergrund versorgen, sie brauchen Kommunikationsmittel, das medizinische Equipment fehlt, es gibt eine Bandbreite sinnvoller ökonomischer und praktischer Hilfe.
Meine Erfahrung aus Gesprächen mit jungen Aktivisten in Damaskus ist zweitens, dass es auch den Wunsch nach Austausch von Aktionserfahrungen gibt. Die Erfahrungen einer europäischen Linken mit Formen des Protests, die jenseits von Demonstrationen liegen, aber noch nicht bewaffneter Kampf sind, sind durchaus interessant für sie.
Pedram Shahyar: Ich glaube, das Hauptproblem des praktischen Internationalismus war bisher die fehlende Kenntnis. Man wusste nichts über diese Region.
Hans-Peter Kartenberg: Das Problem war ein doppeltes Ressentiment. Ein linker Orientalismus mischte sich nach dem 11. September mit plumper Antireligiosität. Hinzu kommt, dass einige Linke noch immer die antiwestliche Rhetorik vieler arabischer Regime affirmieren.
Pedram Shahyar: Ja, Ressentiments und fehlende Kenntnis. Deshalb: Die erste Ebene ist der politisch-kulturelle Austausch. Der zweite Punkt: Moral ist echt ein Faktor bei Revolutionen. Deswegen Solidaritätsaktionen, Petitionen, ein Transparent raushängen: »Solidarität mit Tahrir«, Foto machen, auf Youtube stellen, das verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Und die dritte Ebene ist Ressourcentransfer.
Hans-Peter Kartenberg: Es gibt auch Erfahrungen und Kämpfe, von denen man jetzt wieder lernen kann, auch in Deutschland. Beispielsweise die internationale Solidaritätsbewegung mit palästinensischen Dorfkomitees. Hier kämpfen aktivistische Linke aus den USA und Europa zusammen mit israelischen und palästinensischen Aktivisten seit Jahren gegen den Mauerbau in der Westbank, eines der seltenen Beispiele für ein gleichberechtigtes Solidaritätsverhältnis. Seit dem Sturz von Ben Ali gibt es von antirassistischen europäischen No-Border-Netzwerken verstärkte Kontakte zu Migrationsaktivisten im Maghreb. Hier findet nicht nur ein Praxistransfer statt, sondern die Kämpfe kommen zueinander, und der geographische Raum beginnt, zu einem politischen Raum zu werden, in dem sich die Aktivisten begegnen und austauschen. Wir beginnen erneut, unsere gemeinsamen, universalistischen Ziele zu entdecken, und organisieren die Kommunikation darüber. Damit wird der Relativismus in der Wahrnehmung gebrochen, nach dem wir alle so unterschiedlich sind. Das ist eine Voraussetzung für ein anderes internationalistisches Bewusstsein.
Juliane Schumacher: Was mich an der Diskussion stört: Da schwingt schon wieder mit, dass der Erfolg dort davon abhängig sein könnte, was aus Europa kommt. Müsste der Transfer nicht andersrum laufen? Die Leute dort haben gerade eine Revolution gemacht - wir nicht. In Ägypten wird Hilfe aus dem Westen häufig als Gefahr für die Bewegung gesehen, weil die Regierungspropaganda sagt, dass der Aufstand vom Westen initiiert ist, Gelder aus dem Ausland kommen etc.
Was praktische Unterstützung angeht, bin ich sehr für persönlichen Austausch. Darüber hinaus sollte man thematisieren, wie die dortigen Regime durch Deutschland unterstützt werden. Sehr viele deutsche Firmen haben enge Kontakte nach Ägypten, die Bundesregierung unterstützt die jetzige Militärregierung, Deutschland verkauft Waffen dorthin etc. Aber der erste Schritt wäre, die Leute vor Ort zu fragen, was sie sinnvoll finden. Und eine Antwort, die man sehr häufig hört, lautet: Mehr als alles andere würde es der Revolution in den arabischen Staaten helfen, wenn in Europa auch eine stattfände.
Pedram Shahyar: Ich muss wirklich widersprechen in dem Punkt, dass es in Kairo oder Ägypten kein Ressourcenproblem gäbe. Es gibt keine einzige Bibliothek für kritische Bücher, es gibt kein Undergroundkino, kein soziales Zentrum, wo linke Bildung stattfinden kann. Viele Leute dort würden so was toll finden. Saudische Scheichs finanzieren Krankenhäuser und Moscheen, sie bauen ihre Basis auf, man kann es an den Wahlergebnissen ablesen. Wir Linken haben meines Erachtens eine Verantwortung, weil wir in einem imperialen Zentrum sitzen und ein vergleichsweise gutes Leben haben. Wir müssen den Ressourcentransfer organisieren - das ist Internationalismus.
Juliane Schumacher: Wir haben im Juli versucht, ein kleines soziales Zentrum in Kairo aufzubauen. Die Finanzierung wäre kein so großes Problem, aber es ist daran gescheitert, dass die Protestierenden es abgelehnt haben, aus Angst vor Repression, aber auch, weil sie unabhängig bleiben wollten.
Elias Perabo: In Syrien folgen die lokalen Organisationen noch zum großen Teil einem unbewaffneten Widerstand. Es ist ein unglaublicher Wert, es so zu halten, weil es Raum bietet für emanzipatorische Prozesse, der bei einer Militarisierung des Konflikts verloren geht. Wenn wir eine militärische Eskalation ablehnen und eine Intervention von außen verhindern wollen, müssen wir mit unseren Mitteln intervenieren. Das ist sinnvoller, als erst abzuwarten und dann gegen militärische Intervention auf die Straße zu gehen.
Ist das nicht eine Überschätzung der eigenen Rolle?
Hans-Peter Kartenberg: Die Frage kann nicht lauten, was die Ressource wäre, um eine Entscheidung herbeizuführen. Wenn in Syrien jetzt die Optionen nur lauten: Militarisierung oder Repression, dann gibt es kaum noch eine Freiheit in der Wahl. Eine linke Intervention müsste versuchen die Möglichkeit einer dritten Option zu stärken, die weiterhin auf die kollektive Selbstermächtigung setzt. Ob und wie sie erfolgreich sein wird, wissen wir nicht.
Die GesprächsteilnehmerInnen
Juliane Schumacher hat von März bis November in Kairo gelebt. Sie arbeitet als Journalistin und schreibt gerade mit Gaby Osman ein Buch über das erste Jahr der Revolution und die Rolle des Militärs.
Pedram Shahyar ist Aktivist und war seit Februar viermal in Kairo. Er betreibt den Blog pedram-shahyar.org.
Hans-Peter Kartenberg ist Mitglied der Solidaritätsinitiative Libertad! und Aktivist in der Interventionistischen Linken (IL).
Elias Perabo war von März bis Juni erst in Syrien, dann im Libanon, wo er einen syrischen Cyber-Aktivisten unterstützte. Im August war er noch einmal für mehrere Wochen im Libanon.