Sie kamen nicht aus dem Nichts
Rechte Der rechte Terror fußt in der Entwicklung neonazistischer Kernmilieus in den neuen Ländern
Von Björn Collin
Die im November 2011 aufgedeckte Mordserie, die von einer neonazistischen Untergrundgruppe begangen worden sein soll, wirft vielfältige Fragen auf. Dabei geht es unter anderem um eventuelle Kontinuitäten jener Milieus, die solche Taten möglich machten. Handelt es sich bei der Entstehung des »Nationalsozialistischen Untergrunds« um eine von den Dynamiken des Neonazismus abgekoppelte Entwicklung? Offenbar nicht.
Die Existenz einer solchen Untergrundgruppe kann nur aus der Kontinuität neonazistischer Kernmilieus seit Beginn der 1990er Jahre in Ostdeutschland verstanden werden. Die Beschreibung der nun aufgedeckten Taten unter dem Begriff des »Rechtsterrorismus« verstellt den Blick auf jene stabilen Milieus, die seit mehr als einem Jahrzehnt im Dreieck zwischen neonazistischer Gruppengewalt, jugendkulturellen Ausdrucksformen und politischer Intervention erfolgreich agieren. Der Begriff des »Rechtsterrorismus« ist zur Beschreibung des Phänomens »Nationalsozialistischer Untergrund« deshalb ungeeignet, weil er suggeriert, die TäterInnen hätten abgekoppelt von der Dynamik des rechtsextremen Milieus Taten begangen, die dort auf Ablehnung gestoßen wären.
Ein kleiner Grenzübergang in Thüringen im Frühjahr 1990: Der westdeutsche Neonaziführer Michael Kühnen reist in die im Untergang begriffene DDR ein. Er trägt ein Dokument bei sich, dass unter dem großspurigen und historisch anspielungsreichen Titel »Generalplan Ost« den Aufbau neonazistischer Gruppen auf dem Gebiet der DDR vorsieht. (1)
Kühnen, euphorisiert vom Mauerfall, war damals der festen Überzeugung, die Wiederzulassung der NSDAP liege zum Greifen nahe. In den folgenden Monaten bis zur Wiedervereinigung gelang es ihm, Kontaktleute in vielen Großstädten der DDR zu rekrutieren. Kühnen konnte dabei auf Verbindungen zu Neonazis zurückgreifen, die vor dem Mauerfall von der Bundesrepublik aus der DDR freigekauft wurden. Diese entstammten wiederum der Fascho- und Skinheadszene der DDR, deren Entstehungsphase bis in die frühen 1980er Jahre zurückreicht.
Doch auf die in den Monaten nach der Wiedervereinigung anrollende Welle rassistischer Gewalttaten in den neuen Bundesländern nahmen Kühnens Gefolgsleute weniger Einfluss als gerade in den neuen Ländern vielfach behauptet wird. Ebenso zweifelhaft ist die These, dass eine geheim strukturierte westdeutsche Neonaziszene als Drahtzieher für die rassistischen Pogrome in Ostdeutschland agierte.
Dabei bedurfte es nicht einmal eines organisatorischen Rückgrats für die rassistischen Ausschreitungen gegen jene kleine Zahl von MigrantInnen in den neuen Ländern. Der Anstieg rassistischer Gewaltakte entwickelte sich unter den Bedingungen einer zunehmend nationalistischen Stimmung in breiten Bevölkerungsschichten und des Vakuums staatlicher Sanktionsinstrumentarien zu einem Selbstläufer, der die Planspiele organisierter Neonazis bei weitem übertraf.
Eine neonazistische Bewegung entsteht
Binnen weniger Jahre formte sich in den neuen Ländern eine regional deutungsmächtige und gewaltförmig sanktionsfähige neonazistische Bewegung, die auch nach dem relativen Rückgang rassistisch motivierter Gewalttaten Bestand hatte.
Die politische Sozialisation der in diesem Milieu aufgewachsenen jungen Neonazis war von der Erzählung bestimmt, dass entgrenzte Gewalt gegenüber MigrantInnen und politischen GegnerInnen keine strafrechtlichen und gesellschaftlichen Sanktionen nach sich ziehen würde. Man war davon überzeugt, dass das eigene Handeln im Einklang mit der Mehrheit der Bevölkerung stand. Dieser Eindruck verfestigte sich umso mehr, als der Rechtsstaat sein durchaus vorhandenes Instrumentarium zur Bekämpfung rechter Gewalt nicht anwandte.
Der Fall der »Zwickauer Zelle« aktualisierte zudem noch einmal die Diskussion um den sozialisierenden Einfluss der DDR-Erziehung auf jene Generation junger Neonazis, welcher die TäterInnen und ihr Umfeld angehören. Wie bereits in den Debatten um die Ursachen des ostdeutschen Rechtsextremismus in den 1990er Jahren (2) wird auf die Militarisierung der Bildungsinstitutionen der DDR und den sie prägenden autoritären Geist verwiesen.
In der Tat kam eine 1988/89 an der Ostberliner Humboldtuniversität angefertigte Studie der Kriminologin Loni Niederländer zu dem Ergebnis, dass die von ihr als »neofaschistisch« klassifizierten Einstellungen politisch rechts motivierter StraftäterInnen keinen Widerspruch zu deren Anpassungsbereitschaft gegenüber den Normen des realsozialistischen Alltags darstellten. (3) Niederländer war bei der Auswertung von Verfahrensakten rechter StraftäterInnen aufgefallen, dass die von Ausbildungsbetrieben und Schulen gestellten Sozialprognosen durchweg positiv ausfielen, da sich die TäterInnen bislang als makellose »sozialistische Persönlichkeiten« erwiesen hätten. Ebenfalls noch zu DDR-Zeiten hatte der Bürgerrechtler und Filmemacher Konrad Weiß auf die DDR-spezifischen Rassismen hingewiesen, die sich insbesondere gegen PolInnen und vietnamesische VertragsarbeiterInnen wandten. (4) In der Forschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die sich nach der Wiedervereinigung vollziehenden gesellschaftlichen Verwerfungen die Radikalisierung dieser Generation junger Neonazis entscheidend prägten.
Aus der rassistischen Bewegungs- und Mobilisierungsphase neonazistischer Jugendkultur entstanden Mitte der 1990er Jahre zahlenmäßig kleinere neonazistische Milieus, die sich weiterhin durch Gewaltbereitschaft und regionales Dominanzstreben auszeichneten. Das Spektrum ihrer Aktivitäten war breit gefächert und zielte auf den Aufbau neonazistischer Strukturen im vorpolitischen Raum. Als Basis dienten Fanprojekte (5) und Szeneevents wie Konzerte und Demonstrationen, die das Selbstbewusstsein der Bewegung stärkten. Oder auch Jugendclubs, wie jener in Magdeburg-Nord, in dem Rechtsrockbands wie »Elbsturm« oder »Deutsche Patrioten« probten. Die einsetzende Normalisierung der Präsenz eines rechten Lifestyles war dort erfolgreich, wo sich neonazistische Gruppen soziale Anerkennung erwarben, z.B. in dem sie sich für das »Gemeinwohl« einsetzten. (6)
Dass hier strategisch Gewalt als Instrument eingesetzt wurde, um politische GegnerInnen einzuschüchtern und zu verdrängen, ist in diesem Kontext kein Widerspruch, sondern logische Konsequenz der Schaffung von rechtsdominierten Zonen.
Neue Formen des politischen Kampfes
Die Mitte der 1990er Jahre ergangenen Verbote neonazistischer Kleinstorganisationen tasteten das skizzierte Milieu nicht an. Im Zuge der Verbote radikalisierte sich ein Teil der organisierten Neonazis; neue Formen des politischen Kampfes wurden diskutiert. Ausgehend von der Briefbombenserie der Jahre 1994/95 in Österreich wurde von Teilen der Szene der Übergang zum bewaffneten Kampf erwogen. (7)
Die Bereitschaft, gezielte Tötungen zu begehen, ist also nicht nur eine Frage der individuellen Persönlichkeitsstruktur, sondern auch eine nach dem Grad der Identifikation mit den propagierten politischen Denkmustern. So mag der Schritt von der Aktivität in Kameradschaftsstrukturen hin zur planmäßigen Gewalt im »Untergrund« groß erscheinen - die ideologische Selbstlegitimation der Betreffenden ist bereits vollbracht. Die Logik neonazistischen Denkens impliziert die Tat.
Die Kerne der zuvor verbotenen Organisationen wurden unter anderem Namen, überregional koordiniert, fortgeführt. Die interne Debatte um den Aufbau von Neonazistrukturen, die sich einem drohenden Verbot entziehen konnten, mündete im Osten wie im Westen in der Umsetzung des Konzepts »Freie Nationalisten« - als dem Aufbau von regional agierenden sogenannten Kameradschaften. Dies schloss ein Interaktionsverhältnis der regionalen Neonazistrukturen zu strategisch planenden neonazistischen Führungsgruppen ein.
Zudem ergaben sich durch das sukzessive Erstarken der NPD und die gestiegene Ausstrahlungskraft einer rechten Jugendkultur neue Anknüpfungspunkte für die neonazistische Bewegung. In Regionen Sachsens, Brandenburgs, Thüringens, Sachsen-Anhalts, Mecklenburg-Vorpommerns und Berlins entstanden regional verankerte neonazistische Kernmilieus, deren Fortbestand nicht an eine feste Organisationsstruktur gebunden war. Ausschlaggebend für die dynamische Entwicklung des Milieus wurde vielmehr seine Allgegenwärtigkeit im Alltag. Diese wurde und wird vor Ort nicht über Organisationen, sondern über Personen und ihr Umfeld realisiert. Mittlerweile sind Jugendliche aus zwei Generationen mit den niedrigschwelligen stets verfügbaren neonazistischen Politikangeboten in ihrem Lebensumfeld in Kontakt gekommen: als Gegenentwurf zu dem auf dem Rückzug befindlichen demokratischen Wertesystem.
Dass der Charakter dieser neonazistischen Kernmilieus von den Behörden systematisch unterschätzt wurde, lässt sich am Beispiel des neonazistischen Netzwerkes Freies Netz zeigen. Aus den Ländern Sachsen und Thüringen heraus entwickelte sich das Freie Netz zur überregionalen, koordinierenden Kampagnenagentur, deren Organisationsprinzip auf der strategischen politischen Planung von neonazistischen Schlüsselpersonen beruhte. Die Landesregierung in Sachsen vertrat die Auffassung, die genannte Struktur verbinde nicht mehr als ein gemeinsamer Internetauftritt. Interne Dokumente belegen jedoch, dass es sich beim Freien Netz um einen organisatorischen Zusammenschluss handelt, der politische Kampagnen plante, Demonstrationen koordinierte und die gezielte Ausübung von Gewalttaten diskutierte. (8)
Sukzessive wird klar, dass die Existenz einer wie auch immer strukturierten »terroristischen« Gruppe ohne das soziale und politische Kapillarsystem des neonazistischen Milieus nicht möglich gewesen wäre. In Wahrheit setzte das Nazi-Trio mit tatkräftiger Unterstützung seines Umfeldes nur konsequent um, was die neonazistische Szene als legitimes Mittel ansieht: die Vernichtung von als Feind markierten Gruppen und Personen, die politisch, lebensweltlich oder weltanschaulich im Widerspruch zur NS-Ideologie stehen.
Björn Collin war 1988/89 Mitbegründer einer antifaschistischen Initiativgruppe in Brandenburg/Havel. Heute ist er in der Erwachsenenbildung tätig.
Anmerkungen:
1) Vgl. Antifaschistisches Autorenkollektiv: Drahtzieher im Braunen Netz: Der Wiederaufbau der NSDAP. Edition ID Archiv, Amsterdam 1991. Siehe auch: Rainer Erb: Neonazismus und rechte Subkultur. Metropol Verlag, Berlin 1994.
2) Vgl. Britta Bugiel: Rechtsextremismus Jugendlicher in der DDR und in den neuen Bundesländern 1982 - 1998. LIT Verlag, Münster 2002.
3) Vgl. Loni Niederländer: Das politische Wesen der Skinheadgruppierungen und ihre Sicherheitsrelevanz. Humbodt-Universität zu Berlin, Sektion Kriminalistik, DDR, Februar 1989. Unveröffentlichtes Typoskript.
4) Vgl. Konrad Weiß: Die neue alte Gefahr: Junge Faschisten in der DDR. Kontext, Ostberlin 1988.
5) Vgl. Ronny Blaschke: Angriff von rechts Außen. Wie Neonazis den Fußball missbrauchen. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2011.
6) Im Zuge der Hochwasserkatastrophe in Sachsen und Sachsen-Anhalt traten Neonazis vielfach als organisierte HelferInnen in Erscheinung und erfuhren dafür Anerkennung von BürgerInnen und VertreterInnen aus der Kommunalpolitik.
7) In den Jahren 1993 bis 1997 kam es in Österreich zu einer rassistisch motivierten Anschlagsserie mittels Brief- und Rohrbomben, bei denen u.a. vier Roma getötet und mehr als zwölf Menschen verletzt wurden, unter ihnen auch der damalige Wiener Bürgermeister Zilk.
8) Vgl »Internes Naziforum geleaked«, vom 6.11.2011 unter blog.zeit.de/stoerungsmelder.