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ak logo ak-Sonderbeilage: Ein Jahr arabische Revolutionen - Fragen an die Linke / Winter 2011/2012

Editorial

Von der ak-Redaktion

17. Dezember 2010: Das Epizentrum liegt weit entfernt von den mythischen Orten auf der linken Revolutionsweltkarte. Ausgehend von der tunesischen Stadt Sidi Bouzid breiten sich die Revolten binnen weniger Wochen über die gesamte Region aus. Jahrzehntelang herrschende Diktatoren stürzen, Regime antworten mit brutaler Gewalt. Die Aufstände inspirieren Proteste in Europa, Israel und den USA. Heute ist Sidi Bouzid weltweit bekannt.

17. Dezember 2011: Tunesien hat gewählt, Ägypten nach einigem Zögern damit begonnen. In Tunesien ist die "moderat-religiöse" Partei Ennahdah als Siegerin aus den Wahlen hervorgegangen. Doch immer wieder kommt es zu Streiks und sozialen Unruhen, befriedet ist die tunesische Gesellschaft noch lange nicht.

Auch in Ägypten ist die erste Runde der ersten freien Parlamentswahlen an religiöse Parteien gegangen. Aber welche Bedeutung das Wahlergebnis überhaupt haben wird, ist alles andere als klar. Die Militärregierung versucht, sich einen weit reichenden Einfluss auf die neue Verfassung und die Arbeit des Parlaments zu sichern - wogegen unmittelbar vor dem ersten Wahlgang wieder Zehntausende protestieren. Das Militär antwortet mit brutaler Gewalt, Ende November sterben Dutzende DemonstrantInnen auf Kairos Straßen; Mitte Dezember toben erneut Straßenschlachten, wieder sterben Menschen. Die Bilder von Polizisten, die Protestierende ohnmächtig prügeln, gehen um die Welt; ägyptische AktivistInnen sprechen von einem Militärputsch.

In Syrien zählt die UN mittlerweile 5.000 Tote; die Proteste gegen das Regime Bashar al-Assads gehen davon scheinbar unbeirrt weiter, mehrheitlich unbewaffnet. Gruppen desertierter Soldaten sind indes punktuell zum Gegenangriff auf Truppen des Regimes übergegangen; die Antwort Assads sind Massaker an Deserteuren. Doch in Syrien wird es keine Intervention der westlichen NATO-Staaten geben.

In Libyen war das anders. Dort hatten NATO-Bomber zugunsten der Aufständischen in den Bürgerkrieg eingegriffen - ursprünglich mit dem Ziel, ein Massaker an der Bevölkerung von Bengasi verhindern zu wollen. Doch schon bald lautete das Kriegsziel: Sturz Gaddafis. Im August war die Allianz aus libyschen Gaddafi-Gegnern und seinen ehemaligen Verbündeten aus dem Westen siegreich. Im Oktober spürte die Allianz auch Gaddafi auf, wenig später war der libysche Diktator tot. Seitdem versucht eine Übergangsregierung, sich zu etablieren. Die Informationen aus dem Land, das monatelang im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, fließen wieder spärlicher.

Auch im Jemen wurde das ganze Jahr 2011 über protestiert. Mehrere Hundert Menschen verloren dabei ihr Leben, die meisten durch Schüsse von Sicherheitskräften. Ende November 2011 erklärte Präsident Ali Abdullah Salih seinen Amtsverzicht und kündigte vorgezogene Neuwahlen für Februar 2012 an. Das Königreich Bahrain rief im März Truppen aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ins Land, um die Proteste zu beenden. Und selbst Saudi-Arabien legte Sozialprogramme auf, um sozialen Frieden zu erkaufen.

Doch längst nicht alle Toten, die es im Zuge der Umbrüche zu beklagen gab, gehen auf das Konto der Regime der Region. Zahlreiche TunesierInnen und MigrantInnen aus anderen afrikanischen Ländern nutzten, als die Regierungen Ben Alis und Gaddafis fielen, die günstige Gelegenheit für Fluchtversuche über das Mittelmeer nach Europa. Im Februar schickte die EU ihre Grenzschutzschiffe vor die Küsten Nordafrikas, im März folgten die Kriegsschiffe der NATO. Die verschärften Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr verwandelten das Mittelmeer einmal mehr in ein Massengrab. Zahlreiche Flüchtlingsboote erlitten Schiffbruch; allein im Jahr 2011 zählt die UN 2.000 Todesopfer an dieser Außengrenze Europas.

Doch nicht nur die MigrantInnen machen sich weiter nach Europa auf, auch die Rebellion ist nicht auf die arabischen Länder beschränkt geblieben. Die Revolutionen und Kämpfe von Tunis bis Sanaa strahlen weltweit aus. Sie haben eine Welle des Protests von Madrid bis Athen, von Tel Aviv bis New York ausgelöst und mit den andauernden Versammlungen auf öffentlichen Plätzen ein neues Protestmodell geschaffen. Das Jahr 2011 hat vieles in Bewegung gebracht.

Linke Bewegungen und Akteure in Deutschland tun sich noch schwer, einen Bezug zu diesen Protesten herzustellen, auch wenn es erste Versuche der Kontaktaufnahme gibt. Die Verhältnisse in den nordafrikanischen und arabischen Ländern sind auch in der deutschen Linken wenig bekannt; orientalistische Bilder und Stereotype über rückständige, religiöse, politisch passive "Araber", die den gesellschaftlichen Diskurs der letzten Jahre dominierten, haben Spuren hinterlassen. Das Interesse für diese Länder, ihre politischen Traditionen und sozialen Akteure erwacht erst, der Bedarf an Information und Diskussion ist groß.

Um den Informationsbedarf zu decken und eine Auseinandersetzung mit den Bewegungen in den arabischen Ländern, ihren Anliegen, Akteuren und Strategien zu ermöglichen, haben wir uns entschlossen, eine Sammlung von Texten aus dem vergangenen Jahr und neuen Artikeln herauszugeben. Mit dem Abstand von zwölf Monaten wollen wir eine erste Bilanz ziehen, unsere Fragen an die Umbrüche des Jahres 2011 ordnen, das Gespräch über ihre politischen Konsequenzen für eine global orientierte Linke eröffnen.

Auch in der ak-Berichterstattung haben die Länder Nordafrikas und der arabischen Halbinsel in den letzten Jahren allenfalls eine Nebenrolle gespielt - sieht man vom Israel-Palästina-Konflikt und dem Krieg im Irak ab. Die Auseinandersetzung steckt in den Kinderschuhen. Man sieht es nicht zuletzt daran, dass wir - von zwei Interviews vom Frühjahr 2011 abgesehen - keine Texte von AutorInnen aus den beteiligten Ländern im Heft haben. Das ist die wohl schmerzlichste Leerstelle in dieser Sammlung. Ebenfalls auffällig: Die Auswahl konzentriert sich auf einige wenige Länder, zu denen es Kontakte gibt: Tunesien und Ägypten vor allem, außerdem Libyen, das wegen des lang dauernden Bürgerkrieges im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Artikel über Jemen, Bahrain oder Saudi-Arabien suchte man auch in ak vergeblich - wir hoffen, dass sich das im neuen Jahr ändern wird.

Dennoch meinen wir, dass ein Blick in diese Sammlung lohnt. Gerade die Texte vom Jahresbeginn 2011 vermitteln die Neugier auf die Ereignisse, ihre Faszination, sie sind immer noch eine inspirierende Lektüre. Und in den Hintergrundberichten und Analysen ist ein ansehnlicher Informationsschatz versammelt. Zudem meinen wir, dass es einiges an Gemeinsamkeiten zwischen "dort" und "hier" zu entdecken gibt - Gemeinsamkeiten, die das Bild der ach so fremden AraberInnen gehörig ins Wanken bringen. Auch darauf deutet das Überspringen der Bewegungen erst über das Mittelmeer, dann über den Atlantik. Dahinter stecke die Erfahrung, schrieb Raul Zelik im Sommer 2011, als das Prekariat Europas seine Zelte in den Städten aufschlug, "dass soziale und politische Teilhabe auch in Europa uneingelöste Versprechen sind".

Wir hoffen, dass diese Textsammlung zur Auseinandersetzung und zum Austausch mit den Bewegungen in den arabischen Ländern einlädt - und ein neues Gespräch darüber befördert, wie internationalistische Zusammenarbeit aussehen kann.

Die Broschüre ist in vier Teile gegliedert: Die Einleitung stellt der Textsammlung drei Artikel voran, die, so meinen wir, geeignet sind, den Blick auf die weiteren Texte zu schärfen. Abschnitt zwei ist dem Rückblick gewidmet. Hier finden sich Interviews mit AktivistInnen, Reiseberichte oder Schilderungen von Protestereignissen. Diese Artikel sind hauptsächlich Nachdrucke aus ak; zudem ist der Abschnitt recht "ägyptenlastig". Im dritten Teil des Hefts haben wir Hintergrundberichte und Analysen aus dem letzten Jahr zusammengetragen, im vierten Teil erste Ansätze zur Diskussion der Ereignisse und ihrer politischen Bedeutung. Zum Abschluss stellen wir zwei Initiativen vor, die versuchen, Solidarität zu organisieren: Das Projekt Adopt a Revolution organisiert den Austausch mit und die Unterstützung der lokalen Aufstandskomitees in Syrien; die Initiative Boats 4 People organisiert Solidarität und Öffentlichkeit für die Migration im Mittelmeerraum. Beide Projekte verdienen Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen AutorInnen, die uns im vergangenen Jahr mit Texten versorgt oder neue für diese Sammlung verfasst haben. Ein besonderer Dank geht auch an die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die die Herausgabe dieses Heftes als Kooperationsprojekt unterstützt.

Wir freuen uns über Anregungen und Kritik und hoffen, dass die Debatte mit eurer Hilfe weitergeht. Viel Spaß beim Lesen und: Auf unruhige Zeiten!