Republik der NGOs
International Zwei Jahre nach dem Erdbeben ist die Lage in Haiti weiter fatal
Von Andrea Steinke
Am 12. Januar 2012 jährte sich der Tag, an dem in Haiti die Erde bebte, zum zweiten Mal. Das Beben kostete ca. 250.000 Menschen das Leben, zerstörte weite Teile der Hauptstadt Port-au-Prince und umliegender Städte und machte 1,5 Millionen Menschen obdachlos - eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Nach wenigen Wochen im Fokus der Aufmerksamkeit ist die einstige Perle der Antillen längst wieder aus den Medien verschwunden.
Wie bei anderen großen Katastrophen der jüngsten Vergangenheit - etwa dem Tsunami in Südostasien 2004 oder Hurrikan Katrina in New Orleans 2005 - folgte die eigentliche Katastrophe erst nach der Naturgewalt. Ein Erdbeben ist nicht nur die unmittelbare Entladung der Spannung zwischen zwei tektonischen Platten, die mehr oder minder verheerende Auswirkungen hat. Es ist keine »natürliche« Katastrophe. Denn das haitianische Goudougoudou - wie die lautmalerische Umschreibung für »Erdbeben« auf dem westlichen Teil der Karibikinsel Hispaniola lautet - legte auch sozio-politische und sozio-ökonomische Ungleichheiten frei, die Haiti mit dem Rest der Welt verbindet.
Die einst reichste Kolonie der Welt bezahlte einen hohen Preis für ihre Unabhängigkeit von Frankreich. Die erfolgreiche Revolution afrikanischer SklavInnen, die ihresgleichen in der Weltgeschichte sucht, war ein nicht zu tolerierendes Ereignis, stellte sie doch die für natürlich gehaltene Hegemonie des weißen Mannes der damaligen Zeit, den Status quo der kolonialen Mächte, grundlegend in Frage.
In den folgenden zwei Jahrhunderten waren Krisen Haitis ständiger Begleiter. Zu Beginn waren es die drohende Wiederherstellung der Sklaverei und wirtschaftliche Isolation, die das Schicksal der Republik prägten. Es folgten despotische Herrscher und die wiederholte Besetzung durch die USA. Schließlich führten neoliberale Reformen im 20. Jahrhundert zu einer massiven Landflucht und zur Entstehung von großen Slums im Raum Port-au-Prince. Auch die in ein humanitäres Gewand gekleideten Interventionen der Gegenwart trugen ihren Teil dazu bei, dass aus der gewinnbringendsten Kolonie das »ärmste Land der westlichen Hemisphäre« wurde.
Das Erdbeben, das Haiti Anfang 2010 erschütterte, beendete jegliche Hoffnung, das Land könne sich in naher Zukunft vom medialen Singsang des »gescheiterten Staates« und der Lebensmittelkrisen befreien. Die ohnehin begrenzte Infrastruktur lag in Trümmern. Die UN-Mission Minustah war aufgrund eigener Verluste kaum in der Lage, auf die Auswirkungen der Katastrophe zu reagieren. Laut dem jüngsten UN-Bericht haben bislang lediglich 43 Prozent der versprochen 4,59 Milliarden US-Dollar an Katastrophen- und Aufbauhilfe das Land erreicht.
Schon vor dem Beben beherbergte das Land um die 10.000 Hilfsorganisationen. Mit der Welle an Hilfsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft stieg die Zahl weiter an. Heute hat die »Republik der NGOs« die höchste Pro-Kopf-Rate an Nichtregierungsorganisationen der Welt. Die Zahl ändert allerdings nicht viel an Haitis Schicksal. Viele, die mit Haitis Lage vertraut sind, klagen die unzähligen NGOs als ursächlichen Teil des Problems an. Es gibt kein System der Kontrolle; die Hilfsmaßnahmen sind untereinander nur unzureichend koordiniert.
Humanitäre Gentrifizierung
Nach letzten Zahlen leben derzeit noch 520.000 Menschen in den Flüchtlingscamps. Das sind rund fünf Prozent der haitianischen Bevölkerung - Binnenflüchtlinge, die keine Möglichkeit haben, an einem anderen Ort zu leben. Die Mehrzahl der Camps verfügt weder über Toiletten noch über sauberes Wasser. Dennoch wird BewohnerInnen von offizieller Seite oft vorgeworfen, sie würden die Versorgungsstruktur ausnutzen. Sie seien illegitime SozialschmarotzerInnen, die nur kämen, wenn eine der NGOs Verteilungen vornähme.
PrivateigentümerInnen forcieren die von Polizei und bewaffneten Schergen vollzogenen, meist gewaltsamen Räumungen der Camps. Gerechtfertigt werden sie mit Unsicherheit, Prostitution und Diebstahl, denen die BewohnerInnen ausgesetzt seien. Die Räumungen seien damit nur zu ihrem Besten. Diese Blame-the-victim-Strategie negiert die Unfähigkeit der verschiedenen Akteure und klagt stattdessen jene an, die sich mit den harten Konsequenzen sozialer Ungleichheiten arrangieren müssen, um zu überleben.
Der Vorwurf der illegitimen Campnutzung wird von einer Studie entkräftet, die der Anthropologe Mark Schuller im vergangenen Sommer in diversen Flüchtlingscamps durchführte. Demnach würden über 90 Prozent der BewohnerInnen die Camps umgehend verlassen, hätten sie eine Alternative. 80 Prozent waren vor dem Beben MieterInnen, verfügen also nicht über eigenes Land. Ungeklärte Landrechte sind eines der gravierendsten Probleme des Wiederaufbaus in Haiti. Nach dem Beben sind die Mietpreise für intakte Gebäude in der Hauptstadt rasant in die Höhe geschossen. Die steigende Zahl an zahlungskräftigeren UN- und NGO-MitarbeiterInnen führt zusätzlich zu einer Art »humanitärer Gentrifizierung«.
Das Mandat vieler NGOs ist humanitär und damit kurzfristiger Natur. Ihre Verträge laufen aus oder sind schon längst ausgelaufen. Mit ihnen endet auch die Versorgung der Camps. Keine Institution füllt die Lücke, die hier entsteht. Im Oktober 2011 hatten nur sechs Prozent der Camps Zugang zu Wasser. Im darauf folgenden November hat die haitianische Regierung Wasserlieferung in die Camps per Dekret unterbunden.
Vor allem die Cholera-Epidemie erschwert zusätzlich die Lage in Haiti und besonders in den Camps. Im Oktober 2010 wurde das Bakterium vibrio cholerae von nepalesischen UN-Soldaten eingeschleppt. Bis Ende 2011 hatte die mit Kochsalzlösung, Antibiotika und sauberem Trinkwasser eigentlich einfach zu behandelnde Krankheit rund 7.000 Todesopfer gefordert. Mehr als eine halbe Million haben sich bislang infiziert - jene Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Täglich kommen 200 Neuinfektionen hinzu. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Andrea Steinke ist Ethnologin und promoviert am Lateinamerikainstitut Berlin über religiöse Hilfsorganisationen in Haiti nach dem Beben.