Das Schlüsseljahrzehnt des Neonazismus
Rechte Ein Rückblick auf die 1990er Jahre zeigt die lange Tradition rechter Gewalt
Von Maria Teppke
Leipzig Ende November 1989. Nur zwei Wochen nach der Maueröffnung hatte sich die Montagsdemonstration auf dem Ring um die Innenstadt in ein Meer schwarz-rot-goldener Fahnen verwandelt. Stimmung, Reden und Flugblätter nahmen eine aggressiv nationalistische Tonlage an. Parolen wie »Rote aus der Demo raus.« und »Kommunisten an die Laterne« machten die Runde. Unter den Teilnehmenden fanden sich nunmehr offen auftretende Neonazis, die Reichskriegsfahnen schwenkten und den Hitlergruß zeigten.
Am 6. Dezember 1989 setzte die DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow eine Generalamnestie in Kraft. Diese schloss StraftäterInnen ein, die wegen rechter und rassistischer Taten verurteilt worden waren. Unmittelbar nach der Maueröffnung hatten Emissäre aus verschiedenen Spektren der bundesdeutschen extremen Rechten die Lage in Leipzig und anderen Städten der DDR sondiert. Seit Ende der 1980er Jahre hatten militante Neonazis in der DDR informelle Netzwerke gebildet, die über freigekaufte ehemalige politische Häftlinge mehr als nur sporadische Kontakte in die Bundesrepublik hatten. Auf die Dynamik des Zerfalls der DDR nahm die extreme Rechte keinen prägenden Einfluss, profitierte jedoch ungemein von ihr. Stets war die Realität den Planspielen westdeutscher Neonazis und ihrer ostdeutschen Kameraden ein Stück voraus.
In dem entstehenden Vakuum zwischen dem Autoritätsverfall der DDR-Institutionen in ihrer Agonie und den sich nur sehr langsam etablierenden neuen staatlichen Strukturen erlangten Neonazis eine Aktionsfreiheit, von der die westdeutschen klandestinen Kaderstrukturen um Michael Kühnen ebenso fasziniert wie überfordert waren. Neonazistische Hausbesetzungen, sanktionslose Übergriffe auf MigrantInnen und rabiate »Deutschland-erwache«-Demonstrationen vor historischer Kulisse in Dresden und Ostberlin, öffentliche Auschwitz Leugnung unter den Augen der internationalen Presse und einer tatenlosen Polizei - alles schien plötzlich möglich. Für alternative Jugendliche, MigrantInnen, Obdachlose und Homosexuelle hatte der gewalttätige Selbstermächtigungsrausch der Neonazis in den kommenden Jahren fatale Folgen: Punks wurden mit Gehwegplatten beworfen, türkische Menschen verbrannt, Obdachlose gefoltert. Die um ihr internationales Image besorgte Politik beließ es bei Symbolpolitik. Lichterketten und amtliche Kampagnen gegen »Ausländerhass« änderten nichts an der rechten Gewaltbereitschaft und einer latent rassistischen Grundstimmung in der Bevölkerung.
Dennoch gelang es den Neonazis in den folgenden Jahren nicht, die Masse gewaltbereiter, rassistisch motivierter Jugendlicher und junger Erwachsener in Ostdeutschland organisatorisch zu integrieren oder steuernden Einfluss auf die rassistische Pogromwelle der Jahre 1990 bis 1993 zu nehmen.
Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR war die gesellschaftliche Skepsis gegenüber der Etablierung des Verfassungsschutzes in Ostdeutschland zunächst groß. Eines der Hauptargumente für das rasche Etablieren des Inlandsgeheimdienstes im Jahr 1991 in den neuen Ländern war der Verweis auf die Herausforderung des Rechtsextremismus. (1) In der Folgezeit warben die Verfassungsschutzämter in der rechten Szene massiv V-Leute an, die nicht nur tragende, sondern führende Rollen in der Szene innehatten. Das dabei zumindest in der Anfangsphase auf Aktenbestände und ehemalige »Informelle Mitarbeiter« des MfS in der Neonaziszene zurückgegriffen wurde, erscheint nicht generell ausgeschlossen. Denn zumindest in den Jahren 1990/92 benötigte man zum Strukturaufbau der Sicherheitsbehörden in den neuen Ländern die Expertise ehemaliger FunktionsträgerInnen des DDR-Sicherheitsapparates.
Resonanzraum Asyldebatte
Der gesellschaftliche Resonanzraum der sich von Osten her epidemisch im Land ausbreitenden rechten Gewalt war die in Westdeutschland geführte sogenannte Asyldebatte. Seit 1986 drängte die konservativ-liberale Bonner Koalition unter Helmut Kohl auf eine Verschärfung des Asylrechts und damit auf eine auch durch die SPD-Opposition zustimmungspflichtige Grundgesetzänderung. Sekundiert wurde der Regierung von den Medien, in denen mit bildlichen und sprachlichen »Das Boot ist voll«-Metaphern eine angebliche »Asylantenflut« beklagt wurde. Von diesen in Wellen medial vorgetragenen rassistischen Kampagnen profitierten zunächst die Republikaner bei den Westberliner Senatswahlen des Jahres 1987 und bei den darauffolgenden Europawahlen 1989. Doch als wahrer - im Wortsinne - Brandbeschleuniger erwiesen sich die Pogrome von Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992. Vor der bundesweiten rassistischen Mobilisierung knickt die SPD schließlich ein. Ob aus Kalkül oder Unfähigkeit: Sowohl in Hoyerswerda als auch in Rostock wichen Polizei und Justiz vor der rassistischen Gewalt zurück. Beide Fanale rassistischer Gewalt und die sie begleitende Welle von Brandanschlägen und rassistischen Morden mündeten schließlich in einer Novelle des Asylgesetzes im Jahr 1993.
Die Änderung des Asylrechts kann die neonazistische Szene durchaus als eigenen Erfolg gesellschaftspolitischer Intervention verbuchen. Doch mit ihr schwindet das mobilisierende Thema Asyl von der politischen Agenda. In der Folgezeit stabilisierte sich die Zahl der rechten Gewaltaten auf hohem Niveau. Die Verbote neonazistischer Organisationsstrukturen und der Verlust ihres zentralen Agitationsthemas hatte den Kern der Szene zwar nicht zerschlagen, jedoch geschwächt. Radikalisiert von der scheinbar unumschränkten Handlungsmacht der frühen 1990er Jahre suchte man nach verbotsresistenten Organisationsformen, die es ermöglichen sollten, Konzepte wie jenes der »national befreiten Zonen« Wirklichkeit werden zu lassen und sich in den Regionen zu verankern. Zu den politisch-organisatorischen Optionen, die zur Mitte der 1990er Jahre in der Neonaziszene zur Debatte standen, gehörte auch der Gang in den Untergrund. Breit wird in der Szene die Aufnahme des bewaffneten Kampfes diskutiert. Nur in diesem Kontext ist die Entstehung der Zwickauer Zelle verstehbar. (2)
Von der Szene zur Bewegung
Als legales Organisationsmodell kristallisierte sich das Konzept »Freie Nationalisten« als tragfähig heraus. In diesem agierten regionale neonazistische Gruppen, ihrer Selbstbezeichnung nach »Kameradschaften« genannt, als informell-hierarchische Personenzusammenschlüsse ohne formaljuristische Verfasstheit als Partei oder Verein, die sich weniger durch organisatorische als durch hohe personelle Kontinuität der Funktionsträger, amalgamierte ideologische Geschlossenheit und eine über Kampagnen hergestellte Verbindlichkeit definierten. Organisatorischer Motor und Impulsgeber dieses Konzepts waren Neonazialtkader wie Christian Worch, Thomas Wulff oder Steffen Hupka.
Zum Ende der 1990er Jahre existierten in allen Regionen Ostdeutschlands neonazistische Gruppierungen, die aufgrund ihrer regionalen Verankerung und organisatorisch-politischen Kontinuität zu einem territorialen sozialräumlichen Faktor in Kommunen und Regionen aufstiegen und alternative Jugendkulturen verdrängten.
Der Wiederaufstieg der NPD ab Mitte der 1990er Jahre gab der Szene die Konstitution einer Bewegung zurück. Die Dynamik der Neonaziszene wirkte für die totgeglaubte NPD wie ein Jungbrunnen. Durch die in ihre Reihen aufgenommenen Nazikader erhielt sie Anschluss an die rechte Jugendkultur und erschloss sich neue Zielgruppen. Am Ende der 1990er Jahre stand die »nationale Bewegung« besser da als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. In den Regionen Ostdeutschland fest etabliert, setzte sie zum Sprung in die Landesparlamente und zur Durchdringung der Alltagskultur an. Das Ergebnis ist bekannt: Organisierte neonazistische Gewalt und legale parlamentarische Repräsentanz scheinen fest aufeinander bezogen.
Maria Teppke ist Kunsthistorikerin und lebt in Leipzig.
Eine längere Fassung des Artikels erscheint in LOTTA - antifaschistische Zeitung aus NRW, Nr. 46.
Anmerkungen:
1) Vgl. Frank Jansen: Zwischen Nähe und Distanz. Erfahrungen eines Journalisten im Umgang mit dem Verfassungsschutz. In: Thomas Grumke, Armin Pfahl-Traughber (Hg.): Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft: Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes. Budrich Verlag, Opladen 2010, S. 60-66.
2) Vgl. Björn Collins Artikel »Sie kamen nicht aus dem Nichts« in ak 567.
Kaltland
»Wir waren keine Sozialarbeiter. Rückblickend denke ich, da hätte man ansetzen, da hätte man was machen sollen. Wenigstens ihnen die weißen Ärsche versohlen. Denn so ist es ja immer gewesen, in den Neunzigern. Wenn die in der Mehrheit waren, dann haben sie zugeschlagen. Wenn wir in der Mehrheit waren, dann haben wir - geredet.« Das gilt wahrscheinlich nicht für alle. Manche waren angesichts der erdrückenden Übermacht der Neonazis einfach gezwungen zurückzuschlagen. Aber viele dürften sich in dieser Quintessenz des Ich-Erzählers in Andreas Krenzkes Kurzgeschichte »Mehr Heavy Metal« wiedererkennen.
Der Lesebühnen-Autor Andreas Krenzke ist einer von 42 AutorInnen der Sammlung »Kaltland«. Sie enthält literarische Texte, Erinnerungen, Berichte und Reflexionen unter anderem von Volker Braun, Roger Willemsen, Alexander Osang, Jutta Dittfurth, Schorsch Kamerun, Alexander Kluge oder Michael Wildenhain. Die Texte kreisen alle um ein Thema, das man »in den bislang erschienenen Romanen und Erzählbänden über die Wende- und Nachwendezeit meist vergeblich sucht«, wie die HerausgeberInnen in ihrem Vorwort feststellen. Und so wird beim Lesen die Atmosphäre dieser Zeit wieder lebendig, die Präsenz, Brutalität und Alltäglichkeit von Nazigewalt, als Skinheads mit gestrecktem Arm durch die Dörfer fuhren und brave BürgerInnen Pogrome an Grillbuden wie Volksfeste feierten, Linke, Flüchtlinge und MigrantInnen ihres Lebens nicht sicher waren.
Der Untertitel des Erzählbands »Sammlung wider das Vergessen« ist Programm: Im Zentrum stehen der »entfachte Ausländerhass im wiedervereinigten Deutschland« und seine Opfer. Mit einer Konkretisierung stimmt das auch: Vor allem geht es um den Neonaziterror im Osten, die »völkische« Verarbeitung der gesellschaftlichen Umwälzungen in der ehemaligen DDR. Mölln, Solingen, Mannheim-Schönau kommen - wenn überhaupt - nur am Rande vor. Diese Leerstelle schmälert den analytischen Gewinn. Dass das Buch gleichwohl notwendig, wichtig und aktuell ist, ist in den letzten Wochen leider erneut deutlich geworden.
Bernd Müller
Karsten Krampitz, Markus Liske, Manja Präkels (Hg.): Kaltland. Eine Sammlung wider das Vergessen. Rotbuch Verlag, Berlin 2011. 287 Seiten, 14,95 EUR.