Wo steht die Revolution in Ägypten?
International Das Bündnis mit der Armee war eine Schimäre
Von Pedram Shahyar
Am 25. Januar war der erste Jahrestag des erfolgreichen Aufstandes in Ägypten gegen die Diktatur Mubaraks. Dies war das zentrale Ereignis des arabischen Frühlings: Nachdem die Revolte, die in Tunesien begann, Ägypten erreicht hatte, wurde deutlich, dass es sich nicht um ein einzelnes Ereignis handelte, sondern um eine Welle, die die ganze Region verändern und große Teile der Welt begeistern sollte. Am Jahrestag war der Tahrir-Platz, die Ikone des arabischen Frühlings, genau wie vor einem Jahr überfüllt mit einer gigantischen Menge. Die zweite Welle der ägyptischen Revolution rollt in diesen Tagen in voller Wucht, und die Weltöffentlichkeit schaut wieder zu, aber dieses Mal mehr besorgt als begeistert.
Die Nachrichten der letzten Monate sorgten für Ernüchterung. Die Armee, die nach dem Sturz Mubaraks unter der begeisterten Zustimmung der Bevölkerung die politische Macht an sich gerissen hatte, ging zunehmend brutal und mit den Methoden des alten Regimes gegen die DemonstrantInnen und sozialen Bewegungen vor. Es gab Festnahmen von BloggerInnen, Folter an AktivistInnen, dutzende Tote bei einer koptischen Demonstration, Tote auf dem Tahrir-Platz, und das Massaker im Stadion von Port Said an den revolutionären Ultras.
Wurde die Revolution von der Armee vereinnahmt?
Im Westen überwiegt der Eindruck, dass in Ägypten eine Präsidialdiktatur durch eine Militärregierung ausgetauscht wurde und es kaum Grund zum Jubeln gibt. Doch diese Sicht greift zu kurz. Ja, die Revolution ist nicht vollendet, ihre Forderungen sind nicht gänzlich eingelöst, das war aber noch nirgendwo ein Jahr nach einer Revolution der Fall. Revolution als eine radikale Umwälzung einer gesellschaftlichen Ordnung braucht ein großes Ereignis wie den 25. Januar 2011 und die folgenden 18 Tage. Aber dieses Ereignis ersetzt nicht den langen, schwierigen Prozess, den eine revolutionäre Transformation mit sich bringt. In dieser Situation befindet sich Ägypten: in einem offenen Prozess der radikalen Veränderung.
Sieht man sich die Realität der ägyptischen Gesellschaft an, dann ist es bemerkenswert, wie viel die Revolution in einem Jahr verändern konnte. Ägypten hatte seine Rolle, die es in den 1950er bis in den 1970er Jahre als politische, kulturelle und soziale Avantgarde der arabischen Welt spielte, schon lange eingebüßt. Politisch war das Land fest im Griff der Diktatur. Die Religion dominierte die Alltagskultur, gepaart mit einer starken sozialen Kontrolle, nicht nur durch den Staat, sondern auch zwischen den Menschen. Dissidentes Handeln oder Verhalten wurde ausgrenzt und bestraft. Die progressive Dissidenz begann sich erst ab dem 2000er Jahr wieder mit zarten Blüten zu entfalten.
Schon jetzt hat die Revolution Dinge umgestoßen, die kaum für möglich gehalten wurden. Noch nie hatten die Menschen in diesem Land die Erfahrung gemacht, eine Regierung ändern, geschweige denn stürzen zu können. Dabei war es nicht »das Volk«, sondern eine aktive und entschlossene Menge, die es verstand, mit unglaublicher Entschlossenheit und Opferbereitschaft den Polizeistaat zu brechen und mit dem symbolischen Kapital der Revolution im Rücken in der Periode danach immer wieder den regierenden Block vor sich her zu treiben.
Die Allmacht der Herrscher und die Ohnmacht der Massen wurden widerlegt. Diese Erfahrung ist nachhaltig, weil politisch repressive Organe durch den Aufstand entlarvt wurden und ihre Macht beschnitten wurde. Auch wenn die Armee, die Polizei und ihre alten politischen Apparate weiterhin existieren, ist deren Macht nicht mehr vergleichbar mit der vor dem 25. Januar 2011. Sie haben die totale Kontrolle über das Verhalten der Menschen verloren. Die ägyptische Gesellschaft hat sich Freiräume geschaffen, mit all den Potenzialen, die der erfolgreiche Aufstand bietet, aber auch mit all den damit verbundenen Problemen.
Aber auch auf der institutionellen Ebene wurden viele wichtige Forderungen der RevolutionärInnen schon jetzt erfüllt: Die alte Staatssicherheit wurde aufgelöst, eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, in der moderate Islamisten im Block mit konservativen Liberalen der bestimmende politische Faktor sind. Radikale Islamisten stellen die größere rechte und Liberale und Sozialisten die kleinere linke Opposition dar. Ende Januar 2012 wurde dann der seit 30 Jahren währende Ausnahmezustand aufgehoben.
Bewegungen sind ein politischer Faktor geworden
Neben diesen institutionellen Veränderungen gibt es politisch kulturelle Umbrüche, die für den Fortgang der revolutionären Entwicklung von großer Bedeutung sind. Es entwickeln sich autonome soziale Bewegungen und eine vielfältige Opposition, die nicht nur die Regierung unter Druck setzen können, sondern auch in den Nachbarschaften und Betrieben zu einem wichtigen politischen Faktor geworden sind.
Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die koptische Dissidenz. Waren die zehn Prozent christlicher ÄgypterInnen immer extrem loyal gegenüber ihren Bischöfen, die ihrerseits politisch apathisch immer die Nähe zu den Herrschern und der Armee gesucht haben, so entwickelte sich in den letzten Monaten eine aktivistische und agile Bewegung der koptischen Jugend. Die Symbolfigur der »Maspiro-Jugend« wurde Mina Danial, der 23-jährige Sozialist und koptische Aktivist, der während der Demonstration in Maspiro Anfang Oktober von der Armee umgebracht wurde.
»Das Volk, die Armee sind eine Hand«, hallte es in den Straßen Ägyptens in den Tagen des Aufstandes. Doch dieses Bündnis war eine Schimäre. Die Armee war immer ein zentraler Bestandteil des alten Regimes und seit dem Beginn der 1950er ein dominanter Faktor in der ägyptischen Politik. Der nationale Befreiungsdiskurs gab ihr eine historisch ungebrochene Popularität: Die Armee war eine unantastbare Instanz der Nation, worauf die neuen Machthaber nach der Revolution aufbauen konnten. Neben der historischen Popularität, die sie hatte, war sie zudem die einzige zentrale Struktur, die die Möglichkeit hatte, die Transformation zu einer demokratischen Ordnung zu sichern. Diese Unantastbarkeit ist nun vorbei. Zunehmend wurde klar, dass die Armeeführung (SCAF) ihre Machtposition institutionalisieren will. Die Militärs sind politisch nicht weitsichtig und klug genug zu sehen, dass die Grundlagen einer Militärregierung verloren sind und dass die Menschen von ihnen zwar die Sicherung der Transformation, aber nicht die Übernahme der Herrschaft erwarten. So verspielte die Armee ihre Jahrzehnte währende Popularität bei vielen ÄgypterInnen binnen weniger Monate.
Der Versuch der SCAF, im November ihre dominante Rolle in der Politik in der neuen Verfassung festzuschreiben und in Ägypten ein ähnliches System wie in Pakistan zu installieren - dort steht die Arme über den politischen Institutionen - eröffnete das neue Kapitel der ägyptischen Revolution: Die zweite Welle der Revolte begann, als das feste Band zwischen der SCAF und den Islamisten brüchig wurde. Die erste Mobilisierung der Islamisten seit Monaten entglitt der Kontrolle der Armee völlig und führte zu einer bis heute andauernden Besetzung des Tahrir-Platzes.
Waren die direkten Proteste gegen die Armeeführung noch im Oktober 2011 auf einige hundert Menschen beschränkt, sind die Armeeführung und das Vorgehen der Armee jetzt die zentralen Kritikpunkte der DemonstrantInnen. So richtete sich auch die Wut über die Katastrophe im Stadion von Port Said, die eine faschistoide Signatur in sich trug, direkt gegen die SCAF. In den Tagen nach Port Said, als Anti-SCAF-Demonstrationen von ägyptischen Fußballnationalspielern angeführt wurden, entpuppte sich der Ruf der SCAF als Vertreter einer schweigenden Mehrheit als Schimäre. Durch die blutigen Auseinandersetzungen mit den DemonstrantInnen ist das Vertrauen in das Militär zerstört worden.
Das Militär wird nicht verschwinden, aber es ist davon auszugehen, dass es mehr Macht abgeben muss, als seine Führung wollte.
Pedram Shahyar ist Aktivist und war seit Februar 2011 viermal in Kairo. Er betreibt den Blog pedram-shahyar.org.