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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 569 / 17.2.2012

Wir sind die 146 Prozent!

International Wladimir Petrov war von Anfang an bei den Anti-Putin-Protesten dabei. Er sagt, die Bewegung ist diffus, aber entschlossen

Protestbilder aus Russland sahen in den letzten Jahren immer etwas traurig aus: ein Häuflein DemonstrantInnen, umringt von Polizei; irgendwann wurden die Leuten dann festgenommen. Auch die Zusammensetzung der Opposition war schwer zu durchschauen: liberale PolitikerInnen, ein ehemaliger Schachweltmeister und Nazifahnen, in denen das Hakenkreuz durch Hammer und Sichel ersetzt wurden, prägten das Bild. Das hat sich im Dezember 2011 grundlegend geändert. Seitdem meldet auch Russland Massenproteste. Für Anfang März wird mit weiteren Demonstrationen gerechnet. Ein Blick auf die Bewegung.

Interview: Philipp Dickel und Jan Ole Arps

Als Wladimir Putin im Jahr 2000 Boris Jelzin als Präsident ablöste, hatte Russland ein turbulentes Jahrzehnt hinter sich: Auf die Transformationsphase Anfang der 1990er Jahre folgte der Schock der Privatisierung, der viele Kader der alten Sowjetbürokratie sehr schnell sehr reich machte und viele andere sehr arm. Die 1990er waren eine Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs und der ausufernden Kriminalität. Verglichen damit erschienen die stabilen 2000er vielen als Fortschritt. Doch in den letzten Jahren wuchs der Unmut über den autoritären Regierungsstil. Die offensichtlichen Wahlfälschungen im Dezember 2011 trieben die Menschen erstmals seit Jahren wieder massenhaft auf die Straße. Wladimir Petrov, ein Aktivist der Antifa- und Anarchoszene, berichtet von den Protesten.

Wladimir, du warst im Dezember von Anfang an auf der Straße mit dabei. Erzähl uns, wie es losging!

Wladimir Petrov: Ziemlich unspektakulär. Für den 4. Dezember, den Tag der Wahl, war eine Protestversammlung anberaumt. Bürgerrechtler und Leute aus unterschiedlichen NGOs wussten schon vorher, dass es massive Wahlfälschungen geben würde. Am Abend versammelten sich etwa 300 Leute auf einem der zentralen Plätze in Moskau, die üblichen wohlbekannten Aktivisten. Die Polizei löste die Versammlung brutal auf, also alles wie immer. Die Überraschung gab es erst am nächsten Tag.

Was passierte da?

Auch für den 5. Dezember hatten einige Gruppen zum Protest aufgerufen. Es gab aber nur die Erlaubnis für eine Versammlung mit maximal 300 Leuten, was in etwa dem entsprach, womit die Organisatoren rechneten. Doch stattdessen kamen 8.000, der Platz war völlig überfüllt! Die meisten Leute waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration, sie waren sehr zurückhaltend. Es gab ein paar Schlägereien mit der Polizei, als eine Gruppe versuchte, zur Zentralen Wahlkommission zu marschieren. Ungefähr 300 wurden festgenommen, aber dass überhaupt so viele Leute auf der Straße waren, war die große Überraschung.

Das war aber noch nicht der Höhepunkt.

Richtig. Am nächsten Tag demonstrierten nochmal 1.000 Leute auf dem Triumfalnaya Platz. Zu dieser Demonstration kamen auch Putin-Unterstützer, die schon vor der Wahl aus dem ganzen Land nach Moskau gekarrt worden waren. Einige Hundert von Nashi (»Die Unseren«), einer vom Staat gegründeten Jugendorganisation, wollten zeigen, dass es noch junge Leute gibt, die für Putin sind. Auch rechte Fußballhooligans wurden gesichtet. Ihr Auftritt war ein Reinfall. Die Leute haben den Kremltreuen ins Gesicht gespuckt, einige von der »Putin-Jugend« haben Prügel bezogen.

Am 10. Dezember fand dann die bis dahin größte Demonstration mit 80.000 Teilnehmern statt. Die Versammlung war sehr ruhig und friedlich. Aber die Polizei ließ auch Dinge durchgehen, bei denen sie normalerweise sofort eingeschritten wäre: Böller und Feuerwerk, provokante Schilder und Transparente und so was. Es gab eine Menge guter und lustiger Slogans.

Zum Beispiel?

Am Wahlabend hatte ein Sprecher des staatlichen Fernsehens die Ergebnisse der ersten Hochrechnung für den Bezirk Rostow präsentiert: Einiges Russland: 58,99 Prozent. Kommunistische Partei: 32,96 Prozent. Liberaldemokraten: 23,74 Prozent, Gerechtes Russland: 19,41 Prozent, Jabloko: 9,32 Prozent, Patrioten Russlands: 1,46 Prozent, Rechte Sache: 0,59 Prozent. Zusammengezählt ergab das 146 Prozent! Eine beliebte Parole ist seitdem »Wir sind die 146 Prozent!«

Die nächste große Demonstration am 24. Dezember mit 100.000 Leuten lief ähnlich ab, wie zuvor, sehr ruhig, die üblichen Reden. Aber zwei Dinge waren an diesem Tag anders. Fast alle Politiker und Society-Leute, die sich auf der Bühne blicken ließen, wurden ausgebuht. Und um ein Haar wäre es den Nationalisten gelungen, die Bühne zu stürmen. Aber das konnte verhindert werden.

Nach diesem Tag veränderte sich die Rhetorik der Regierung. Medwedjew redete plötzlich von Reformen, und sogar Putin äußerte Verständnis für die Proteste. In den ersten Tagen hatte es nur geheißen, die Demonstranten sind eine kleine Minderheit, Chaoten und Unruhestifter, die Polizei wird sich der Sache annehmen. Als dann 100.000 Leute auf der Straße waren, konnten sie sich das nicht mehr erlauben.

Wer geht auf die Straße?

Vor allem die neue russische Mittelschicht, manchmal auch die »innovative« oder »kreative Klasse« genannt. Die meisten Demonstranten haben ein ordentliches Einkommen, viele ein Auto, sie können sich Reisen leisten etc. Ihr Problem ist nicht die Armut, sondern das Gefühl: »Etwas stimmt nicht mit unserem Land.« Sie wollen die Korruption nicht mehr, sie haben es satt, dass sie jemanden bestechen müssen, damit ihr Kind in den und den Kindergarten kommt. Die wichtigsten Forderungen auf den Demonstrationen sind der Sturz Putins, faire Wahlen und ein Ende der Korruption.

Kannst du etwas über die politischen Organisationen und Vorstellungen sagen, die im Protest eine Rolle spielen?

Der Protest wurde komplett über das Internet organisiert. Nun versuchen zahlreiche liberale Kräfte, die in den 1990ern teilweise zum russischen Establishment gehörten, die Proteste für sich zu nutzen. Diese prowestlichen Politiker sind ziemlich unpopulär, die Leute, die auf der Straße sind, trauen ihnen nicht.

Allerdings gibt es insgesamt kaum weitergehende Vorstellungen. Passend zu unseren »postideologischen« Zeiten lehnen die meisten Leute politische Ideologien ab, über Politisches wird sehr ungern gesprochen. Weder wollen sie eine Revolution, noch wollen sie in irgendeiner Weise Gewalt anwenden. Es reicht ihnen, stundenlang auf dem Platz herumzustehen und Parolen zu rufen, dabei kommen sie sich vor wie Martin Luther King oder Gandhi. Das ist für den Moment auch in Ordnung, aber sie vergessen, dass es Leuten wie Putin nicht im Traum einfällt, ihre Macht aus der Hand zu geben.

Wie aktiv sind rechte Kräfte bei den Demonstrationen?

Sie sind ein Problem. In den letzten Jahren gehörten Neonazis zu den wenigen Gruppen, die immer mal wieder mehrere Tausend Leute zu Aufmärschen mobilisieren konnten. Aber sie hatten nie irgendeine soziale Agenda, nur ihren rassistischen Nazimüll. Bei den aktuellen Protesten versuchen Neonazis, einige Konservative und andere Rassisten, sich als bürgerliche Nationalisten zu präsentieren. Wie die europäischen Rechten rücken sie das »Einwandererproblem« in den Vordergrund. In den Protesten haben sie bisher keinen großen Einfluss, aber das kann sich ändern. Viele bürgerliche Demonstranten fühlen sich unwohl angesichts der zunehmenden Einwanderung. Besonders Migranten aus dem Nordkaukasus, bei denen islamistische Einstellungen verbreitet sind, wecken Misstrauen. Schlaue Politiker wie Alexei Nawalny, ein bekannter Blogger und Anti-Korruptions-Aktivist, versuchen, mit diesen Gefühlen zu spielen. Er nennt sich einen »nationalen Demokraten« und äußert sich besorgt über die Immigrationspolitik und darüber, dass »wir den Kaukasus durchfüttern«, wie er sich ausdrückt.

Und die Linken?

Es gibt Linke, die die Ereignisse kritisieren. »Das ist eine falsche Revolution, da machen wir nicht mit.« Diese Leute sitzen auf ihren Sofas und verfassen Pamphlete, die kein Mensch liest. Das Tragische ist, dass sie sich damit selbst komplett aus dem historischen Prozess, in dem wir stecken, hinausbefördern. Es gibt auch ein paar neomarxistische Gruppen, die zu den Protesten gehen und dort ihre Propaganda verteilen. Aber sie haben es nicht hinbekommen, in den selbstorganisierten Komitees mitzuarbeiten, die seitdem entstanden sind. Manche weigern sich, sich mit liberalen und rechten, nationalistischen Kräften in einen Raum zu setzen und überlassen diesen das Feld. Man darf nicht vergessen: Im Moment ist die Anti-Putin-Stimmung wirklich die einzige gemeinsame Grundlage des Protestmilieus. Und schließlich sind da noch die anarchistischen Gruppen. Auch sie haben versucht, ihre Botschaft zu verbreiten. Aber sie sind - welch eine Ironie! - die unorganisierteste linke Gruppe.

Das heißt, die Linke hat keinen Einfluss auf die Ereignisse?

Nicht wirklich. Ich muss aber auch zugeben, dass die Linken den Leuten nichts anzubieten haben. Wie gesagt, den meisten Demonstranten geht es um freie Wahlen, weniger Korruption und vor allem darum, dass Putin zurücktritt. Wenn du da etwas von freier Bildung, kostenloser Gesundheitsversorgung und progressiver Besteuerung erzählst oder andere soziale Probleme ansprichst, rennst du nicht gerade offene Türen ein. Die Liberalen hüten sich, solche Themen anzusprechen, schließlich werden sie die gleiche antisoziale Politik machen wie die jetzige Regierung, falls sie irgendwann mal an die Macht kommen.

Du sagst, die Leute sind unzufrieden mit der Politik der Regierung. Ist von dieser wachsenden Unzufriedenheit auch im Alltag etwas zu merken? Gibt es zum Beispiel neue Subkulturen? Oder mehr Konflikte im Arbeitsleben?

Die meisten Leute glauben überhaupt nicht an parlamentarische Politik. Seit der Republik von Nowgorod (1) sind sie von der Politik ausgeschlossen! Sie wissen, dass die Entscheidungen woanders gefällt werden; nur sehr naive Menschen aus der Mittelschicht glauben, dass sich alles ändern würde, wenn wir »faire« Wahlen hätten. Das ist natürlich Unsinn, man sieht es ja auch an den Protesten, die überall auf der Welt stattfinden.

Kennst du eigentlich Peter Pomerantsev?

Ja.

Vor einigen Wochen war in der deutschen Ausgabe der Monde diplomatique ein Artikel von ihm zu lesen, in dem er eine Moskauer Gesellschaft der Intrigen, des Opportunismus und der Angst beschreibt. Es klingt ähnlich wie das, was du sagst - und ein wenig klingt es nach Bulgakovs »Meister und Margarita«: die Gesellschaft, dem Spiel undurchsichtiger Mächte ausgeliefert. Pomerantsev geht auf die Möglichkeit ein, Distanz zu den Mächtigen zu wahren. Alles erlaubt, weil es sowieso nichts ändere, am Ende müssten alle das Spiel der Mächtigen mitspielen. Er sagt auch, in Russland sei eine Mischung aus Despotismus und Postmodernismus entstanden, eine libertäre intellektuelle Bewegung sei in ein Instrument der Unterdrückung verwandelt worden. Was sagst du dazu?

Peter lebt in seiner eigenen romantischen, interessanten postmodernen Welt. Es stimmt schon: Der ehemalige Leiter der Präsidialverwaltung, Wladislav Surkow, ist eine faszinierende Person. Er hat das ganze Modell der »gelenkten Demokratie« erfunden. Aber man kann es auch einfacher ausdrücken: Der Großteil der Regierungsmaschinerie ist in den Händen von Idioten, die bloß an ihrem eigenen Vorteil interessiert sind. Sie werden das System, das da gerade zusammenbricht, nicht verteidigen. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, den Leuten ist klar, dass es so nicht weiter geht. Im Grunde ist das Spiel längst aus, im Moment kann nur knallharte Repression Putin noch an der Macht halten, so sehe ich das. Und wenn das passiert, werden wir es wirklich mit einer Gesellschaft der Angst zu tun bekommen - aber ohne jede romantische Note.

Wie geht es jetzt weiter?

Am 4. März sind erstmal Präsidentschaftswahlen. Danach wird es heftige Proteste geben, das ist sicher! Viele Leute werden sehr enttäuscht sein. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass die Leute aggressiver werden und die Proteste militanter. Ich glaube es ist möglich, die Lage zu eskalieren.

Was meinst du, wie wird die Regierung damit umgehen?

Für Putin wäre es wahrscheinlich das Beste, die Präsidentschaftswahlen erst im zweiten Durchgang zu gewinnen. Er hat jetzt angekündigt, Webcams zu installieren, um zu beweisen, dass die Wahlen sauber sind. Trotzdem gibt es keinen Zweifel, dass es wieder Fälschungen geben wird. Wenn er es schlau anstellt, gewinnt er erst im zweiten Wahlgang, das würde nach richtig schön demokratischen Wahlen aussehen. Das könnte die Empörung vielleicht etwas bremsen. Aber wie soll man sich das ausmalen? Die einzige Person, die ebenfalls den zweiten Wahlgang erreichen könnte, ist Gennadij Sjuganow, der Vorsitzende der »Kommunistischen Partei« - die alles Mögliche ist, aber ganz bestimmt nicht links oder kommunistisch. Er hat schon einmal die Wahlen gewonnen, 1996. Aber dann hat er Angst bekommen und die Macht an Jelzin abgetreten. Seitdem spielt er eine groteske Oppositions-Operette, die vor allem dazu gut ist, die Linke zu diskreditieren. Sollte er es irgendwie schaffen, die Wahlen durch Proteststimmen zu gewinnen, weil die Leute für egal wen stimmen, Hauptsache gegen Putin, wird er sicher zugunsten Putins verzichten. Aber vielleicht spart sich die Regierung das ganze Theater und löst die Sache mit Gewalt, so wie üblich.

So oder so bin ich überzeugt, dass Putins Ende näher rückt. Vielleicht hat er noch ein oder zwei Jahre. Aber auf jeden Fall wird es blutig werden.

Irgendwann mussten wir diese Frage ja stellen: Siehst du einen Zusammenhang zwischen den russischen Protesten und der weltweiten Protestwelle von 2011, den arabischen Revolutionen usw.?

Es gibt genau drei Verbindungen: erstens das Internet, das es vielen Leuten ermöglicht hat, miteinander zu kommunizieren und zu Protesten zu mobilisieren. Zweitens ist durch die Kämpfe, die es in den letzten Jahren in anderen Ländern gegeben hat, auch in Russland der Protest in Mode gekommen. Und die dritte Verbindung besteht in der weltweiten Wirtschaftskrise, die im Moment alle Kämpfe miteinander in Beziehung setzt, ob wir es wollen oder nicht.

Anmerkung:

1) Die Nowgoroder Republik war ein einflussreicher russischer Staat des Mittelalters. Sie existierte zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert.

Wladimir Petrov

lebt in Moskau und ist seit mehreren Jahren in der russischen Antifaszene aktiv. Er hat sich in der Bewegung für den Khimki Wald engagiert, einer der größten Ökologiekampagnen seit dem Ende der Sowjetunion, und arbeitet an dem anarchistischen Videomagazin Burevestnik TV mit. Die Filme kann man auf YouTube ansehen.