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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 570 / 16.3.2012

Kein Ende in Sicht

China Die Dynamik der Streiks ist ungebrochen. ArbeiterInnen organisieren sich ohne Partei und Gewerkschaft

Von Ralf Ruckus

Die Rebellionen im arabischen Raum, die Bewegungen in Spanien und Israel, die Aufstände in Griechenland - daneben erscheinen die Streiks und sozialen Bewegungen in China geordnet und gemäßigt. Die streikenden ArbeiterInnen bei Honda im Sommer 2010 oder die BewohnerInnen von Wukan, die Ende 2011 ihr Dorf besetzten, kämpften lediglich für höhere Löhne bzw. gegen Korruption und Landraub. Doch die Dynamik hinter den sozialen Auseinandersetzungen in China ist immens und kann die Welt verändern, zumal dann, wenn sie mit den Rebellionen in anderen Regionen zusammenkommen.

Beverly Silver schrieb 2003 in ihrem Buch »Forces of Labor« (siehe Kasten), dass künftig größere Wellen von Arbeiterunruhen in China wahrscheinlich seien. In den folgenden Jahren nahmen Streiks und Arbeiterkämpfe in den neuen Industrien und Sonderwirtschaftszonen Chinas tatsächlich stark zu. Der Streik bei Honda und die nachfolgenden Streikwelle im Sommer 2010 scheinen Silvers These erneut zu bestätigen: Wo immer das Kapital hingeht, die Arbeitskämpfe folgen.

Die Streikwelle 2010 hat die Klassenbeziehungen in China nicht grundlegend verändert, aber die Debatte über das chinesische Niedriglohn- und Exportmodell, über Tarifverhandlungen und einen größeren Einfluss der Gewerkschaften neu befeuert. Eine wichtige Frage wird sein, ob die »linken« Teile der KP und AktivistInnen außerhalb der Partei mit ihren Versuchen, neue unabhängige Gewerkschaften aufzubauen oder eine Reform der existierenden (Staats-)Gewerkschaften durchzusetzen, Erfolg haben werden. Beide Varianten würden den Einfluss autonomer Organisationsformen, die hinter den aktuellen Streiks stehen, untergraben. Statt auf die Gewerkschaftskarte zu setzen, sollte die Linke die autonomen Kämpfe und die Fähigkeit der ArbeiterInnen, die Produktion zu stören und Druck »von unten« zu erzeugen, unterstützen.

Von der Planwirtschaft zur gelenkten Marktwirtschaft

In den letzten 30 Jahren hat China den Übergang von einem autoritären Staat mit einer staatlichen Planwirtschaft zu einem autoritären Staat mit einer staatlich gelenkten Marktwirtschaft erlebt. Anders als die Sowjetunion begann die Kommunistische Partei China schon in den späten 1970ern mit Reformen; die Einparteienherrschaft überstand die nachfolgende Transformation. In der ersten Reformphase in den 1980er Jahren orchestrierte der Staat den weiteren industriellen Aufbau, indem er Sonderwirtschaftszonen etablierte, Joint-Ventures mit ausländischen Unternehmen gründete, Migration in die Industrieregionen in Gang setzte und Arbeiterwiderstand unterdrückte.

In der zweiten Phase, den 1990er Jahren, schuf das Regime einen arbeitsgesetzlichen Rahmen und restrukturierte und rationalisierte die Staatsunternehmen, die fortan als profit-orientierte Unternehmen geführt wurden. In den späten 1990ern wagte das Regime dann die massenhafte Schließung von Staatsunternehmen und Massenentlassungen - und zerstörte die »Eiserne Reisschale«, die lebenslange Arbeitsstelle mit einer Reihe von Sozialleistungen, die einem Teil der städtischen ArbeiterInnen im Maoismus gewährt worden war.

All dies geschah nicht ohne Widerstand. Im Jahr 1989 wurde die Tian'anmen-Bewegung, die nicht nur eine StudentInnen- und Demokratiebewegung sondern ebenso ein allgemeiner Aufstand mit Beteiligung vieler ArbeiterInnen war, militärisch zerschlagen. Die Gewalt, die die Regierung hierbei einsetzte, wirkte zunächst einschüchternd. Trotzdem kam es Ende der 1990er zu massenhaften Protesten der städtischen ArbeiterInnen: Demonstrationen, Streiks, Rathausbesetzungen, Straßenblockaden - vor allem im Rostgürtel, den Zentren der staatlichen Schwerindustrie, Ölindustrie, usw. in Zentral- und Nordostchina. Auch die Bauernkämpfe nahmen in den späten 1990er Jahren zu.

In der dritten Phase der Reformen in den 2000ern versuchte die Regierung deshalb trotz andauernder krasser Ausbeutung und Einkommensunterschiede, Arbeiterinteressen besser zu integrieren. Sie führte (spärliche) Wohlfahrtsmaßnahmen ein und ließ Lohnsteigerungen zu. Die neuen ArbeitsmigrantInnen, die seit den 1980ern in die Städte und Industriezonen - den sogenannten Sonnengürtel in den südöstlichen und östlichen Provinzen - zogen, wollten der Armut und Langeweile auf dem Land entkommen, junge Frauen auch der Kontrolle durch die patriarchale Familie. In den Städten setzten sie sich gegen Diskriminierung und Ausbeutung zur Wehr.

China erlebt seitdem die Zersetzung einer alten (städtischen) Arbeiterklasse und die Schaffung einer neuen (migrantischen) Arbeiterklasse. Dieser Prozess folgt einem historisch wiederkehrenden Muster von Industrialisierung und Kapitalexpansion, Migration und Arbeiterkämpfen/Klassenneuzusammensetzung. Er lief ganz ähnlich in den USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, im Italien der 1950er und 1960er und in Südkorea in den 1970er und 1980er Jahren ab.

Formen der Arbeitermacht in China

Ein zweites historisches Muster, das sich durch die Sequenz von Migration und sozialen Kämpfen zieht, zeigt sich in China ebenfalls: Wie in den anderen genannten Ländern hat erst die zweite Generation der MigrantInnen Massenkämpfe und Streiks organisiert. Sie ist auch nicht mehr vom Tian'anmen-Trauma geprägt. Das ist der Hintergrund für die zunehmenden Wanderarbeiterkämpfe ab 2003. (Siehe auch ak 540, Juni 2009)

Hinter den Kämpfen stehen objektive Probleme (schlechte Arbeitsbedingungen, beengte Wohnheime, schlechtes Kantinenessen), subjektive Aspekte (enttäuschte Hoffnungen, Erniedrigung, Wut, Hass) und spezielle Formen von Arbeitermacht. Beverly Silver unterscheidet drei Formen: Produktionsmacht, Marktmacht und Organisationsmacht. Immer mehr ArbeitsmigrantInnen in China lernen, diese Formen einzusetzen.

In einigen Industrien ist die Produktionsmacht besonders ausgeprägt, vor allem in längeren Produktionsketten oder Just-in-time-Bereichen wie der Autoindustrie. ArbeiterInnen bei Honda und anderen Autoherstellern haben es geschafft, nicht nur ihre eigene Fabrik sondern die gesamte Produktionskette lahmzulegen. Textil- und BauarbeiterInnen haben oft keine Möglichkeit, ganze Produktionsbereiche zu beeinträchtigen. Aber sie nutzen den Liefer- und Übergabedruck ihrer Bosse aus und streiken kurz vor solchen Terminen.

Die Marktmacht vieler ArbeiterInnen wurde in China in den letzten Jahren gestärkt, insbesondere in Guangdong und anderen Provinzen, in denen Arbeitskräfte knapp sind. Die ArbeiterInnen (gelernte wie ungelernte) haben das ausgenutzt, insbesondere durch häufiges Jobhopping zu Stellen mit besseren Bedingungen. Sie nehmen aber auch eher Entlassungen in Kauf, weil es relativ leicht ist, eine neue Stelle zu finden.

Chinesische ArbeiterInnen haben Organisationsmacht, wenn auch nicht in der Art und Weise, die linke BeobachterInnen erwarten mögen. Die Staatsgewerkschaften in China sind eine Massenorganisation der KP und stehen an der Seite der Unternehmensleitungen und Behörden. Sie wollen Streiks verhindern und wenden sich gegen jede Art unabhängiger Arbeiterorganisierung. In den letzten Jahren gab es in China mehr Streiks, Kundgebungen, Demonstrationen, Straßenblockaden und Krawalle von ArbeiterInnen als in den meisten anderen Ländern der Welt, und alle sind von den ArbeiterInnen selbst organisiert.

Die Streikwelle 2010 und andere aktuelle Kämpfe

Herausstechendes Beispiel für die aktuellen Arbeitskämpfe ist der Streik im Honda-Getriebewerk in Foshan, Provinz Guangdong, im Mai/Juni 2010. (Siehe den Artikel von Wang Kan auf Seite 27) Nach zwei Wochen - für chinesische Verhältnisse ein sehr langer Streik - unterschrieben die ArbeiterInnen einen Vertrag, der ihnen deutliche Lohnerhöhungen sicherte. Ihr Zusammenhalt war umso erstaunlicher, als sie in zwei Gruppen geteilt sind, in fest Angestellte und PraktikantInnen. Eine solche Teilung der Beschäftigten ist in chinesischen Fabriken mittlerweile weit verbreitet, oft verhindert sie gemeinsame Kämpfe. Der Streik in Foshan löste eine ganze Welle weiterer Streiks aus. Es war die größte Streikmobilisierung der migrantischen Arbeiterklasse in China bisher.

Diese Streikwelle währte nur kurz, sie beruhte unter anderem auf der speziellen Produktionsmacht der AutoarbeiterInnen. Aber auch 2010 und 2011 gingen die Streiks weiter, im letzten Quartal 2011 nahmen sie erneut zu. So streikten im November 2011 an einem Tag Pepsi-Cola-ArbeiterInnen in fünf verschiedenen Standorten, es gab mehrere große Streiks in der Elektronikindustrie in Guangdong und Shanghai, in der Textil- und der Schuhindustrie, Streiks von TaxifahrerInnen usw. (1)

Daneben gingen auch die städtischen und ländlichen Aufstände weiter, wie der Riot in Zengcheng im Sommer 2011 oder der Aufstand in Wukan. Streiks werden gewöhnlich von ArbeiterInnen in mittleren oder großen Fabriken oder anderen MassenarbeiterInnen mit einer gewissen Organisationsmacht (Bau, Hafen, Transport) organisiert und richten sich meist gegen eine Firma. ArbeiterInnen in kleinen Unternehmen, Arbeitslose, informell Beschäftigte oder Scheinselbständige haben wenig Chancen, erfolgreich Streiks zu organisieren. Ihre Krawalle sind Ausbrüche proletarischer Wut, oft werden sie durch Polizeiübergriffe ausgelöst. Hunderte oder gar Tausende greifen dann Polizeistationen und Behördengebäude an und bringen ihre allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Diese Aktionen sind eine Form des »Verhandelns durch Randale«.

Die Ausweichstrategien des Kapitals

Um die Versuche des Kapitals zu beschreiben, Arbeiterkämpfen auszuweichen und Profitabilität wie Legitimität zu sichern, prägte Beverly Silver den Begriff der »Fixes«. Sie unterscheidet vier dieser vorübergehend wirksamen, provisorischen Lösungen: den räumlichen, den technologischen, den finanziellen und den Produkt-Fix. Der räumliche Fix wird in China vor allem von Unternehmen der Niedriglohnsektoren wie der Textil- und Schuhindustrie angewandt. Diese haben in den letzten Jahren Fabriken ins chinesische Hinterland oder nach Vietnam verlagert. Einige Industrien können jedoch kaum verlagert werden, weil sie auf hohe Investitionen und industrielle Cluster angewiesen sind.

Der technologische Fix, der Einsatz neuer Technologien, die menschliche Arbeitskraft ersetzen, und neuer Arbeitsweisen, bei der gelernte ArbeiterInnen durch ungelernte ersetzt werden, spielt in China bisher noch keine große Rolle. Die menschliche Arbeitskraft ist weiterhin so »billig«, dass ein großer Teil der Produktion arbeitsintensiv bleibt. Wenn die Kämpfe weitergehen, wird es aber technologische Veränderungen geben.

Der Produkt-Fix beschreibt die Versuche des Kapitals, von der Produktion einer Ware zu der einer anderen zu wechseln. In China gibt es noch keine breite Flucht des Kapitals aus Industrien mit vielen Streiks. Aber auf der Suche nach höheren Profiten wird in höherwertige Produktion investiert: Kapitalgüter, Autos, Hochgeschwindigkeitszüge, grüne Technologien. Die Wirtschaft ist aber weiterhin in großem Maße von den Billiglohn-Exportindustrien abhängig, und es ist fraglich, ob China eine neue Leitindustrie entwickeln und aufbauen kann, die ihr einen Vorteil vor anderen kapitalistischen Ländern einbringt.

Den finanziellen Fix, die Flucht des Kapitals aus Produktion und Handel in Spekulation und Bankgeschäfte, gibt es in China noch nicht, weil das chinesische und ausländische Kapital dort noch billige Arbeitskraft vorfinden und die erwarteten Profite machen. (2)

Eine weitere Strategie, die Silver nicht zu den Fixes zählt, sind Grenzziehungen. Diese benutzt das Kapital, um Kämpfe der ArbeiterInnen zu verhindern oder zu schwächen. In China stehen die Haushaltsregistrierungsgesetze (»Hukou«) im Mittelpunkt dieser Strategie. Die Gesetze werden zur Diskriminierung der WanderarbeiterInnen eingesetzt, darüber hinaus bilden sie die Grundlage für Ausgrenzungen nach Herkunft, Gender und Alter. Wegen der zunehmenden Wanderarbeiterkämpfe greift das Kapital auf Strategien zur Spaltung der Belegschaften in (besser entlohnte und abgesicherte) Festangestellte auf der einen und befristete ArbeiterInnen, ZeitarbeiterInnen oder PraktikantInnen auf der anderen Seite zurück.

Chinas flexible Einparteiendiktatur

China ist eine Einparteiendiktatur, aber trotz der autoritären Herrschaft und weit verbreiteten Korruption hat sich das System als flexibel und anpassungsfähig herausgestellt. Es lässt Wandel zu, ohne die Kontrolle abzugeben. Eine Kontrolle des Alltags durch die Massenorganisationen der Partei findet kaum noch statt, doch der Staat greift vehement ein, wenn es zu politischer oder gewerkschaftlicher Organisierung kommt. Streiks, Demonstrationen und ähnliche Aktivitäten gelten als illegal, und die Regierung zögert nicht, die Polizei einzusetzen.

Das Regime weiß aber, dass es die Unzufriedenheit nicht nur unterdrücken kann. Wenn bei Streiks ArbeiterInnen und Management keine Lösung finden, greift der lokale Staat ein, verlangt eine schnelle Beilegung des Konflikts und damit auch Zugeständnisse vom Kapital. Seit den 1990er Jahren hat die Regierung ein System von Arbeitsgesetzen, Beschwerde- und Schlichtungsorganen geschaffen, um Konflikte zu regulieren.

Solange die ArbeiterInnen rein ökonomische Ziele verfolgen und ihre Forderungen in geordneter Weise vorbringen, werden selbst Streiks geduldet. Sollten sie aber die politische Ordnung herausfordern, Sicherheitskräfte angreifen und - wie die Regierung das formuliert - die »soziale Stabilität gefährden«, dann wird das vom Staat unterdrückt. Wie bei einem Kessel kochenden Wassers hebt die Regierung ab und zu den Deckel an, um Dampf abzulassen und eine Explosion zu verhindern.

Neue Gewerkschaften oder Gewerkschaftsreform?

Die Streikwelle 2010 und die Selbstmordserie beim Elektronikkonzern Foxconn haben zu einer erneuten Diskussion über die Zukunft der Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen in China geführt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden, illegalen Proteste der ArbeiterInnen stellen sich alle Beteiligten Fragen nach unabhängigen Gewerkschaften und Tarifverhandlungen. Sollten die Streiks andauern und der soziale Druck weiter wachsen, könnte das zu einer harten Reaktion des Staates führen, aber auch zu mehr Raum für Formen der Arbeitervertretung. Kapital und Staat wollen wissen, was ArbeiterInnen wollen, wie sie sich organisieren, und vor allem wollen sie eine Instanz, mit der sie verhandeln können und die die Einhaltung von Abschlüssen gegen die ArbeiterInnen durchsetzt. Die Frage ist, wie sich die Linke dazu stellt.

Derzeit hat die Linke (in China und außerhalb) zwei Vorschläge. Der eine wird von ArbeiteraktivistInnen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und linken AkademikerInnen vorgebracht. Sie fordern die Gründung unabhängiger Gewerkschaften und regelmäßige Tarifverhandlungen, zuweilen auch Menschenrechte und westliche Demokratie. Neue Gewerkschaften sollen aus den Streikkomitees und Selbstorganisierungsformen hervorgehen und von Kapital und Staat als Arbeitervertretungsorgane anerkannt werden. Der andere Vorschlag kommt von NGOs, AkademikerInnen, Vertretern der offiziellen Gewerkschaften und aus dem Staatsapparat: Den existierenden Gewerkschaften (ACFTU) sollen mehr Raum und Unabhängigkeit von Partei und Staat gewährt werden, damit ArbeiterInnen sie als ihre Vertretungsorgane anerkennen.

Hinter diesen Vorschlägen stehen zwei unterschiedliche Motivationen. StaatsgewerkschafterInnen, staatliche VertreterInnen und einige NGOs wollen die Arbeiterkämpfe durch Gewerkschaften befrieden; ArbeiteraktivistInnen, Linke und einige andere NGOs hoffen dagegen, die Entwicklung der Arbeiterkämpfe in China durch Gewerkschaften zu fördern. NGO-AktivistInnen und AkademikerInnen unterstützen die Vergewerkschaftlichung auch deshalb, weil sie von westlichen Geldgebern (etwa Gewerkschaften und Kirchen) finanziert werden, sich Karrieremöglichkeiten in künftigen Institutionen erhoffen und sich unter chinesischen Linken der Mythos hält, dass das Land durch eine Phase der Demokratisierung und Sozialpartnerschaft muss, bevor ArbeiterInnen gegen den Kapitalismus an sich kämpfen können.

Die Vergewerkschaftlichung der sozialen Kämpfe in China - ob mit neuen unabhängigen oder reformierten alten Gewerkschaften - wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur Kanalisierung und Schwächung der Klassenauseinandersetzung führen. Arbeitermacht, die Verbesserungen durchsetzen und Errungenschaften verteidigen kann, entsteht durch die Fähigkeit, den Produktions- und Akkumulationsprozess zu stoppen. Diese Fähigkeit entsteht immer wieder neu in den täglichen Auseinandersetzungen und sozialen Organisationsformen. Große Institutionen wie Gewerkschaften nehmen diesen Organisationsformen die Initiative und Kampfkraft. Historisch entstanden Gewerkschaften eher am Ende von Kampfzyklen, also erst nachdem Kämpfe und Bewegungen von unten stattfanden.

Wie organisieren sich die ArbeiterInnen?

Das führt uns zur Frage, ob die gegenwärtigen Arbeiterkämpfe in China das Potenzial haben, radikale gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Die Streiks und andere Kämpfe in China werden von den ArbeiterInnen selbst organisiert. Familienbande und Herkunftsnetzwerke spielen für diese Organisierung eine Rolle, wenn auch weniger als noch vor einigen Jahren. Viele MigrantInnen kommen in Gruppen zusammen, die aus FreundInnen aus mehreren Provinzen bestehen. Sie treffen sich in den Wohnheimen, in Berufsschulen, in den Wanderarbeiterdörfern außerhalb der großen Städte.

Viele Kämpfe beschränken sich weiter auf eine Abteilung oder eine Fabrik, aber es gibt immer mehr Fälle, in denen sich Konflikte in andere Abteilungen, Fabriken, Firmen, Industriezonen oder gar Provinzen ausbreiten. Es kommt zu Nachahmerstreiks, Dominostreiks (nach und nach streiken ArbeiterInnen in verschiedenen Fabriken in einer Zone) und koordinierten Streiks in mehreren Werken eines Unternehmens.

Arbeitermilitante, die Erfahrungen in vielen Streiks gesammelt haben, geben diese an andere weiter. Sie wissen, wie im Wohnheim für einen Streik mobilisiert wird, wie Flugblätter verteilt werden, was für eine Demonstration gebraucht wird, wer eine Presseerklärung bekommen soll. Wir erleben die Entstehung einer Arbeiterklasse, ohne zentralisierte, formalisierte, offizielle, öffentliche Organisation und Repräsentierung - weil der Staat genau das verhindert.

Sicher gibt es eine Reihe von Problemen. So ist es zum Beispiel schwierig, über Fragen der Organisierung zu kommunizieren und einen Austausch mit AktivistInnen (innerhalb und außerhalb Chinas) herzustellen. Aber da es keine vermittelnde Gewerkschaftsstruktur gibt, konnten bisher Dynamiken verhindert werden, die andere Kampfzyklen und ihre Vergewerkschaftlichung begleitet haben: Zentralisierung, Bürokratisierung, Kooptierung.

Es ist unklar, in welchem Maße die Streiks und Proteste die kapitalistische Entwicklung und die staatliche Herrschaft in China tatsächlich bedrohen. Können diese Kämpfe sich weiter entwickeln und zu einem Bruch in und mit den kapitalistischen Ausbeutungsbeziehungen führen? Für Antworten auf diese Fragen sind genauere Analysen der Kämpfe in China nötig - und ein Blick auf den globalen Kontext.

Die globale Dimension der chinesischen Kämpfe

Die Kämpfe in China könnten das Ende des Billiglohnmodells einleiten, das nicht nur auf Ausbeutung und Elend der ArbeiterInnen in China beruht, sondern auch billige Konsumgüter für Menschen in anderen Teilen der Welt bedeutet. Das ermöglichte es dem Kapital, dort die Löhne und Sozialleistungen zu kürzen.

Steigende Löhne in China könnten zu Preissteigerungen in Europa und anderswo führen. Um Standortlogik und Rassismus zu verhindern, ist es nötig, auch die Kämpfe außerhalb Chinas zu stärken. Nur gleichzeitige Streiks in China und anderswo können eine »ungleiche« Entwicklung verhindern. Anders gesagt: Wer von Europa aus mit den Kämpfen der chinesischen ArbeiterInnen solidarisch sein will, muss auch in Europa für höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen kämpfen.

Die große linke Erzählung von Arbeiterkämpfen, die Gewerkschaften brauchen, und politischen Kämpfen, die eine Partei bedingen, die dann die Macht im Staate übernimmt, ist trotz all der »sozialistischen« Erfahrungen der letzten Jahrzehnte noch erstaunlich lebendig. Doch sie gehört auf die Müllhalde der Geschichte. Die chinesischen ArbeiterInnen mit ihrem »Klassenkampf ohne Klassenorganisation« (Chris Chan) können einen Weg zeigen, der die kapitalistischen Ausbeutungsbeziehungen zersetzt und radikale Veränderungen erzwingt - ohne die staatliche Macht zu übernehmen.

Ralf Ruckus mag keinen Chinakitsch und übersetzt gerade Texte zu den Protesten beim Apple-Hersteller Foxconn.

Anmerkungen:

1) Eine Liste aktueller Streiks gibt es auf chinastrikes.crowdmap.com

2) China ist trotzdem Teil der globalen Finanzialisierung des Kapitals, u.a. weil es der größte Gläubiger der USA ist.

Forces of Labor

Wo immer das Kapital hingeht, die Kämpfe folgen. Das ist die zentrale These der Studie von Beverly Silver, in der sie globale Arbeitskämpfe aus den letzten 140 Jahren auswertet und auf ihre politischen Folgen untersucht. Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2005.