Nicht in diesem Memorandum-Ton
International In Griechenland bildet sich überall Widerstand - ein Reisebericht
Erste Eindrücke auf der Fahrt vom Flughafen zur Athener Innenstadt: riesige leere Werbetafeln, als hätte es dem Kapitalismus die Sprache verschlagen. Auf der kurzen Taxifahrt vom Syntagma-Platz zum Stadtteil Exarchia kommt der Taxifahrer schnell zur Sache: Tiraden gegen die faulen Staatsangestellten, die großen Parteien PASOK und ND und die deutschen und französischen Blutsauger. Einwände und Nachfragen unerwünscht.
Außerdem erzählt er, die Offenlegung der Schweizer Konten, auf denen Milliarden der griechischen Bourgeoisie lagern, werde nicht von der Schweizer Seite blockiert, sondern von der politischen Klasse des Landes. Am Ende knöpft er uns den doppelten Fahrpreis ab - das bleibt ein Einzelfall.
In der Woche vor der Abstimmung über das zweite Memorandum folgt eine Demo der anderen. 48 Stunden Generalstreik: Strikt getrennt marschieren meist Mitglieder der kommunistischen oder Basisgewerkschaften. In grimmiger Routine rufen sie die einstudierten Parolen. Die Musik beschränkt sich auf historische Partisanen- und Protestlieder. Soundsystems mit aktueller Musik gibt es nicht.
Ausgeprägt ist die Kultur der obszönen Beschimpfung. Eine Beschimpfung mit explizit linkem Gestus lautet: »Ihr seid nicht die Söhne von Arbeitern, sondern die Hunde der Ausbeuter!« Oft treten auch einzelne Leute hervor und beschimpfen PolizistInnen und PolitikerInnen im Freestyle.
Es fällt nicht schwer, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Ausnahmslos alle lehnen das Memorandum ab und hassen die eigene und die deutsche Regierung. Der biedere Apotheker, bei dem wir uns mit Maalox eindecken, dem säurebindenden Wirkstoff gegen Tränengas, fragt freundlich-sarkastisch: »Wieso habt ihr der Merkel nicht gesagt, sie soll uns in Ruhe lassen?« Wir antworten: »Haben wir, aber sie hört nicht auf uns.« Beim Kauf der Gasmasken gibt es eine ausführliche Fachberatung. Der ältere Herr meint, die Masken für acht Euro reichten für ca. sechs Demos - und wir bekommen Rabatt. Die Gasmasken sind Teil der Normalität im Ausnahmezustand. Auf der großen Demo stellen sich alle mit Gasmasken in den Tränengasnebel und rufen Sprüche wie: »Ihr verkauft, ihr verkauft, ihr werdet im Knast landen!« Oder »Bullen, Schweine, Mörder!« - Frauen in Pelzmänteln genau so wie zottelige Anarchos.
Am Samstagvormittag sehen wir, wie sich in einer Seitenstraße Polizisten der verhassten Motorradeinheit Zeus mit einem Trupp anarchomäßig gekleideter Typen freundschaftlich abklatschen.
Niemand von denen, die wir treffen, zweifelt daran, dass ein großer Teil der zu erwartenden Randale auf das Konto von Agents Provocateurs gehen wird. Diese erstmal verschwörungstheoretisch anmutende Annahme wird mittlerweile auch in Blogs der konservativen Nea Dimokratia diskutiert. Auf Youtube kursieren Videos dieser »parastaatlichen Kräfte«, wie man sie hier seit längerem nennt. Ein Mitglied der Performance-Gruppe Blitz erzählt uns, wie er in der Nacht der Demo Hooligans der verfeindeten Hauptstadt-Clubs gemeinsam zündeln sah. Viele Leute sagen, dass lediglich die Zerstörung an den Banken auf das Konto anarchistischer Gruppen geht.
Die Leute von Real Democracy, die letzten Sommer die Besetzung des Syntagma-Platzes organisierten und den Protest von politischen Organisationen frei hielten, erzählen uns von den Umständen, unter denen das erste Memorandum zustande kam. Das über 2.000 Seiten lange Papier sei den PolitikerInnen erst am Abend vor der Abstimmung vorgelegt worden. Anschließend gaben Abgeordnete vor laufenden Kameras zu, sie wüssten nicht, für was sie da gestimmt haben.
Abends, als wir nochmal eine Runde durch die Innenstadt machen, sind die Straßen gespenstisch leer.
Die jungen PolizistInnen vor dem Parlament, die den ganzen Tag über beschimpft und beleidigt wurden, stehen leger auf ihre Schilder gestützt. Wir fragen sie, wie sich das anfühlt und was sie bei der Großdemonstration am Sonntag erwarten. Schlimmer als im Sommer 2011 könne es nicht kommen, antworten sie. Die Einschnitte - in ihrem Fall weitere 15 Prozent Lohnkürzungen - seien doch notwendig, um die griechische Wirtschaft wieder konkurrenzfähig zu machen. Weil wir Deutschen das schon hinter uns haben, ginge es uns jetzt doch so gut, oder? Anscheinend gibt es auf den Polizeischulen ideologisches Training.
Sonntag, der 12. Februar, Tag der Abstimmung über das Memorandum. Kurz nach 17.30 Uhr beginnt die Polizei ohne erkennbaren Anlass mit der ersten Tränengasattacke. Mit einiger Gelassenheit weicht ein Teil der Menge auf die untere Ebene des Syntagma-Platzes aus. So geht es die nächsten zehn Stunden weiter: Tränengasattacken, Hin-und-Her-Wogen riesiger Menschenmengen. Wechselnde Kampfschauplätze in und um das Stadtzentrum. Brennende Barrikaden, debattierende Menschen aller politischen Ausrichtungen. Schmährufe, Sprechchöre.
Dazwischen wir, das Schwabinggrad Ballett. Wir paradieren als Politsekte mit dröhnenden elektronischen Sitars, »Fuck«-Fahne und rosa-orangen Gewändern, auf denen Sprüche stehen: »Destroika«, »Chicago Boys, Rot in Hell!« oder »Hands off the people's property!« Mehr als einmal werden wir misstrauisch gefragt, was es mit dieser Sitarmusik auf sich hat. Musik und Straßenkampf gehören hier einfach nicht zusammen. Je mehr wir vom Kampfgeschehen gezeichnet sind, um so mehr Sympathie schlägt uns entgegen. Offensichtlich sind wir die einzigen TeilnehmerInnen dieser Demonstration, die sich als Nicht-Griechen zu erkennen geben. Man fragt uns immer wieder, was wir ausgerechnet als Deutsche auf dieser Demo machen. Neben vereinzelten Anfeindungen bedanken sich unzählige Leute für die solidarische Geste.
Gegen zwei Uhr morgens laufen wir durch eine Trümmerlandschaft zum Hotel. 45 brennende Gebäude wird die Polizei vermelden. Am nächsten Tag glänzen die tagelang verrammelten Glasfassaden der großen Hotels wieder, als sei ein böser Spuk vorbei. Die Leute sagen: Jetzt fängt der Spuk erst richtig an!
Mediale Gleichschaltung
Die 43 PolitikerInnen der Regierungsparteien, die bei dem Referendum mit Nein gestimmt haben, werden aus ihren Parteien ausgeschlossen. Die Polizei gibt die Zahl der DemonstrantInnen mit 80.000 an. Andere sprechen von einer Million Menschen, der größten Demonstration seit der Ablösung der Junta. Das griechische Fernsehen zeigt keine Bilder des über Stunden voll besetzten Syntagma-Platzes und der Hunderttausende Menschen, die noch lange nach der Räumung in den umliegenden Straßen unterwegs sind. Stattdessen werden tagelang immer die gleichen Bilder der Zerstörung und des brennenden Kinos gezeigt.
Eine Eigenheit der griechischen Berichterstattung ist, dass der Bildschirm stets geteilt ist - auf der einen Seite die Randale, auf der anderen empörte gutgeschminkte Moderatorinnen mit teuren Frisuren.
Tatsächlich bleibt die mediale Gleichschaltung Griechenlands in der hiesigen Öffentlichkeit weitgehend unerwähnt. Wir besuchen das Verlagshaus der linksliberalen Zeitung Eleftherotypia, die Anfang des Jahres ihr Erscheinen einstellte. Babis Agrolabos, Politikredakteur und einer von 800 Angestellten, die seit Monaten auf ihre Löhne warten, sagt, dass kritische, unabhängige Positionen aus den Massenmedien verschwinden. Das Verlagsgebäude ist verwaist, Heizung, Telefon und Internet sind abgestellt, doch ein Teil der Redaktion harrt aus: Sie kämpfen dafür, die Zeitung kollektiv und in Eigenregie herausbringen zu können.
Eleftherotypia, die es seit 1975 gibt, ist die einzige unabhängige Tageszeitung des Landes. Unabhängig bedeutet in Griechenland, dass das Medium nicht einem großen Unternehmer gehört. Schon vor der Krise dienten die TV-Sender und Zeitungen ihren Eigentümern dazu, auf die Politik in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen. Heute hat diese Verfilzung zur Folge, dass Alternativen zum Spardiktat massenmedial gar nicht erst erörtert werden. Für diese Art von Zensur braucht es kein Propagandaministerium, es reicht die Angst der griechischen Oligarchie vor der Staatspleite.
Die Krise bereitet den Boden für Rassismus
Wie diese oligarchische Mediendiktatur funktioniert, zeigt auch der Streik bei Elliniki Chalyvourgia. (Vgl. ak 568) Seit dem 31. Oktober 2011 sind rund 300 ArbeiterInnen des Stahlwerks im Ausstand - doch es gibt so gut wie keine Berichterstattung in den großen Medien. Die Unternehmensführung will den Lohn um 40 Prozent kürzen und die Arbeitszeit komplett flexibilisieren - eine direkte Folge der griechischen Sparbeschlüsse, wie uns die Streikposten erzählen, die wir am Werktor interviewen. Der Unternehmer hat die Produktion nach Volos in das zweite Werk verlagert und lehnt Verhandlungen ab. Eine Lösung ist nicht in Sicht, die Streikenden halten sich mit Lebensmittelspenden und dem Verkauf von Solidaritätscoupons über Wasser.
Maria Delli, die Frau eines Stahlarbeiters, die sich mit anderen Frauen zusammengetan hat, erzählt vom Unterstützungsnetzwerk: LehrerInnen helfen mit Gratis-Nachhilfe, ÄrztInnen mit unentgeltlicher Behandlung. »Wir sind die Vorhut der kommenden Arbeitskämpfe«, sagt Delli. »Wenn sie in der Schwerindustrie Monatslöhne von 600 Euro durchsetzen können, was sollen dann die Supermarktangestellten sagen?« Alle, die wir nach den Erfolgsaussichten und Perspektiven der Proteste fragen, zucken mit den Achseln: »Es gibt keine Alternative.« Ausgerechnet dieser Satz, der seit den Achtzigern unter dem Kürzel »T.I.N.A.« oder »There is no alternative« den neoliberalen Rollback begleitet hat!
Auf dem Rückweg in die Innenstadt sitzen vor allem MigrantInnen im Bus. Von ihnen ist am wenigsten in dieser Krise die Rede. Dabei trifft es sie am härtesten. Viele haben auf dem Bau gearbeitet oder Alte und Kranke gepflegt. Nun wird aber nicht mehr gebaut. Und viele GriechInnen können es sich nicht mehr leisten für die Pflege ihrer Angehörigen zu bezahlen. »Ohne Job kannst du keine Sozialversicherung mehr bezahlen und verlierst deinen Aufenthaltsstatus. So werden viele illegalisert«, erzählt Nasim, der seit acht Jahren in Athen lebt.
Rassismus habe es in Griechenland zwar schon immer gegeben, aber die wirtschaftliche Krise bringe auch eine politische und soziale Krise mit sich, die den Boden für Rassismus bereite. »Der letzte Sommer war der härteste für Migranten«, berichtet Nasim. Die Lage in der Athener Innenstadt war täglich das Hauptthema in den Medien. Ständig gab es Razzien, und die faschistische Partei Chrysi Avgi (»Goldene Morgenröte«) organisierte Pogrome gegen MigrantInnen, bei denen die Polizei zusah. Viele haben das Zentrum verlassen und leben nun in anderen Stadtteilen, viele wollen weg.
Kollektive Selbstorganisation
Wir hören immer wieder: Die Leute nehmen es den linken Parteien übel, dass sie die Verantwortung für den Regierungssturz an die außerparlamentarische Protestbewegung delegieren, anstatt ihm auch eine parlamentarische Perspektive zu geben. »Viele Menschen, Linke, aber auch Nicht-Linke, die jetzt nach links schauen, wollen, dass die sich einigen«, sagt zum Beispiel Alexandra Pavlou, die in Exarchia Stadtteilversammlungen mit organisiert. Die im Parlament vertretenen linken Parteien - die Kommunistische Partei KKE und das Linksbündnis Syriza sowie deren gemäßigte Abspaltung Dimokratiki Aristera (Dimar) - könnten laut Umfragen derzeit auf 42 Prozent oder mehr kommen und könnten die Regierung stellen, wenn sie gemeinsam antreten würden. Doch einig scheinen sich die Parteien einzig darin zu sein, dass sie alle gegen das Memorandum sind.
Hauptknackpunkt ist die Frage, wie man es mit dem Pleitegehen hält. Die KKE ist derzeit die einzige Partei, die einen Austritt aus der Eurozone und die Rückkehr zur Drachme befürwortet. Die Dimokratiki Aristera (Dimar), die laut aktuellen Umfragen mit bis zu 20 Prozent der Stimmen rechnen kann und somit zweitstärkste Partei wäre, ist für Eurobonds, einen schlankeren Staat und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit griechischer Unternehmen. Das Linksbündnis Syriza fordert einen Großteil der Schulden zu streichen und die mächtigsten Banken zu verstaatlichen. Die Zahl derer, die einen Austritt aus dem Euro wollen, steigt ständig, auch außerhalb des linken Spektrums.
Auf lokalen Versammlungen, die seit der Besetzung des Syntagma-Platzes im Sommer 2011 überall in Athen und im ganzen Land stattfinden, haben die Leute längst begonnen, Maßnahmen gegen das Spardiktat zu organisieren. Auf der Stadtteilversammlung in Exarchia, die wir besuchen, besprechen sie einen Boykott der neuen Sondersteuer, die mit der Stromrechnung gezahlt werden muss. Wer nicht zahlt, dem wird der Strom abgeklemmt, lautet die Drohung der Finanzbehörde. Für diesen Fall wappnen sich die neuen lokalen Netzwerke. Alexandra sagt: »Wir haben kollektiv ein Handy gekauft, das kann man anrufen, wenn der Strom gekappt wird - dann kommt ein Elektriker und klemmt ihn wieder an. Wir kleben einen Aufkleber von der Vollversammlung auf den Zählerkasten, damit niemand alleine dasteht. Es gibt viele Familien mit Kindern, die keinen Strom haben, weil sie ihn nicht bezahlen können. Und es werden immer mehr.«
Es liegt eine große Aufgewühltheit in der Luft von Athen. Und neben aller Ratlosigkeit auch die Ahnung eines großen Umbruchs: Alle scheinen überall und immer zu debattieren, dass eine andere Gesellschaft aus der Asche der Krise entstehen muss und wie man sie aufbauen könnte. Offensichtlich hält man die gerade beschlossene Übergabe der Souveränität an den supranationalen finanz-technokratischen Apparat für irreal. Sie ist es auch - um so mehr angesichts des sich überall bildenden Widerstands.
Das Schwabinggrad Ballet ist ein perfomativ-interventionistisches Einsatzkommando aus Hamburg. Infos unter schwabinggrad-ballett.posterous.com.