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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 570 / 16.3.2012

Im Zweifel für den Zweifel

Diskussion Eine Montage zu den Möglichkeiten linker Geschichtspolitik

Vom AutorInnenkollektiv Loukanikos and friends

Die Sphäre von Mythos und Geschichte kann als Sphäre gesellschaftlich-politischer Kämpfe, als Politik selbst verstanden werden, heißt es in dem Buch »Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation«. Den AutorInnen geht es dabei nicht zuletzt um die Kritik am Mythos, bestenfalls um dessen Dekonstruktion. Ein weites Feld, wie im letzten Kapitel des Buches deutlich wird. Statt eines Schlusswortes endet es mit einer »offenen Montage«. Schlaglichtartig wechseln hier die verschiedenen Sichtweisen, die wir in einer stark gekürzten Version wiedergeben.

Wenn man davon ausgeht: es gibt eine hegemoniale Erzählung und diese ist mythisch. Und dann gibt es eine Gegenerzählung. Ist die automatisch nichtmythisch? Was macht sie den als hegemonial kritisierten Erzählungen strukturell ähnlich und wie vermeidet man so eine Ähnlichkeit? Kommen wir dann nicht zu diesem postmodernen Schnickschnack von vielen kleinen Erzählungen, die dann aber nichts mehr aussagen?

Es herrscht in der Linken die Annahme vor, dass die Vergangenheit im herrschenden Diskurs nach Maßgabe der politischen Eliten ausgeblendet wird und deswegen ausgegraben und dem Mythos entgegengehalten werden muss. Es stellt sich hier das Problem 1: Die Gefahr der Instrumentalisierung und Homogenisierung von Vergangenheit durch die Konstruktion einer linken »Gegen-Tradition«. Außerdem gibt es Problem 2: Die Einordnung des von linker Seite Ausgegrabenen ins »Kontinuum« (Walter Benjamin), d.h. hier in die herrschende Sicht auf die Geschichte.

Ein wichtiger Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die Figur der Basiserzählung. In einem spezifischen nationalen Kontext werden einzelne Versatzstücke miteinander verknüpft - und die Basiserzählung ist die gemeinsame Klammer dafür. Sie ist eine flexible Struktur, die zwar gewisse dominierende Grundlinien hat, in die aber zugleich auftauchende Widersprüche wieder integriert werden können.

Eine Erkenntnis, die man auf jede Gegenwart übertragen kann, ist: dass es sich lohnt zu kämpfen. Wenn es keine Bewegung gegeben hätte in Dresden, dann wäre wahrscheinlich das Geschichtsbild heute immer noch so wie vor zehn Jahren. Oder noch schlimmer. Ich würde sagen: Es ist immer besser, es zu versuchen, als es sein zu lassen.

Es geht nicht gar so sehr um die Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart, sondern um die Verortung in der Gegenwart, darum, sich immer auf gegenwärtige Verhältnisse und Kämpfe zu beziehen. Geschichte wird in der Gegenwart gemacht, Antworten lassen sich nur in der Gegenwart finden.

Spannend wird es in dem Moment, wo du irgendwie eine ähnliche Struktur hast, auf die du dich beziehst in der Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die mit der Gegenwart nichts zu tun hat, außer, dass sie irgendwie schon länger her ist - das ist ja langweilig. Und dieses Beispiel bei Benjamin mit den Jakobinern - das Aufregende an der Geschichte der Französischen Revolution ist ja, aus einer marxistischen Geschichtsperspektive heraus, dass sich da bestimmte Klassenfraktionen das erste Mal offen konstituiert haben - das ist schon eine Art von struktureller Kontinuität einer sich entwickelnden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die bei allen Veränderungen, die sie durchgemacht hat, immer auch eine Gemeinsamkeit haben muss. Was sind die Strukturen, die es damals gab, die es heute auch gibt.

Dazu fällt mir Chakrabarty ein: Sein Vorschlag ist, Vergangenheit und Gegenwart eben nicht en bloc zu diskutieren. Also nicht die Entität Gegenwart in ein Verhältnis zu setzen zur Entität Vergangenheit, sondern eher die Verwobenheit zu betonen, auch von Möglichkeiten in der Gegenwart mit den Möglichkeiten in der Vergangenheit. Er verweist damit auf eine Heterogenität von sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart, die sich immer jeweilig entsprechen.

Wenn man sagt, es wird keine Gegenerzählung entwickelt, sondern störende Momente dem Kontinuum entgegengehalten, ist die Frage: Wie behalten diese Fragmente ihre politische Sprengkraft? Sind sie »stark« genug, um gegen ein scheinbar konsistentes herrschendes Geschichtsbild anzustinken? Und ist das nicht eigentlich postmoderner Scheiß, die sogenannten kleinen Erzählungen?

Ich würde Gegenerzählung eher als eine Meta-Erzählung verstehen. Wenn man z.B. sagt, die Klassenkämpfe in der Bi-Zone nach 1945 waren Teil der überall noch lebendigen westeuropäischen Arbeiterklasse und des Strebens nach Selbstbestimmung und Kommunismus ... Das wäre eine mythisierende Gegenerzählung, die das integriert in eine starke, vom einzelnen Ereignis abstrahierende Erzählung. Etwas »dem Kontinuum entgegen halten« würde bedeuten, geschichtliche Momente zu erforschen und sie so darzustellen, dass sie der Haupterzählung widersprechen. Und das wäre ja in dem Fall: es gab Proteste, es gab Widerstand.

Wenn ich erstmal nur auf der Ebene von Erzählungen bleibe, dann machen diese dekonstruktivistischen Ansätze Sinn: alles auseinander pflücken, möglichst viel Distanz wahren, keine linearen Erzählungen, die Abhängigkeiten herstellen, sondern alles hat seinen eigenen Raum und kann darin so mikromäßig herumfloaten als geschichtliches Ereignis. Man versucht, sich immer selbst zu kritisieren und möglichst keine große Erzählung herzustellen. Und dann aber sitze ich im Kolloquium und es werden zwei Doktorarbeiten vorgestellt von Leuten, die akademisch in so einem antiideologischen Kontext sozialisiert sind und Mikrogeschichte machen. Da geht es um einzelne Leute und einzelne Handlungsräume in einzelnen Situationen - also apolitisch, heruntergebrochen, »das war eine Person in einem bestimmten Machtverhältnis und die konnte das und das erwarten«. Dann wird gefragt: Was ist denn das Spezifische? Und es gibt keine Antwort, weil sie sich in diesem Mikroding total verloren haben. Sie haben keinen Begriff mehr davon, was da eigentlich passiert und warum es dort passiert und woanders nicht. Das will ich auch nicht. Also nicht irgendwelche kleinen Sachen beschreiben, denen man irgendwie gerecht wird, ethisch, moralisch, aber im Grunde genommen macht man nicht mehr als ein Archiv. Politisch hat das keinen Nutzwert, und auch erkenntnismäßig nicht. Wenn ich die Welt verstehen will, dann bringt mir das gar nichts.

Ich denke was man immer im Kopf haben muss, wenn man sich mit dem Mythos beschäftigt oder ihm etwas Störendes entgegen setzen will, ist seine Bildhaftigkeit. Solche mythischen Bilder oder Symbole haben eine große Macht und Wirkung. Sie synthetisieren, was man in einer nüchternen Denkweise so gar nicht zusammenbringen kann. Das heißt, wenn man gegen den Mythos arbeiten will, dann bekämpft man auch immer die Macht des Symbols. Und das ist eben auch ein großes Problem bei der Mythos-Kritik, da hat man es immer auch mit diesem sehr wirkmächtigen, bildhaften Element zu tun.

Was ich wichtig finde ist, dass wir uns hier nicht festbeißen an Mythen als bloße schlagwortartige Einzelerzählungen à la Hitler und Autobahn, sondern auch den Begriff von Mythos als einer Grundstruktur im Kopf haben - als naturalisierende Wahrnehmung von Gesellschaft und Geschichte. Die dann darauf hinausläuft: So wie Geschichte verlaufen ist, hat sie verlaufen müssen. Und so, wie die Gegenwart ist, muss sie sein. Das ist eine grundlegende Auffassung, die erstmal gar nicht so schillernd-mythisch auftritt, die aber vielleicht gerade deshalb viel schwieriger zu hinterfragen und zu destabilisieren ist. Also genau diese scheinbar naturhafte Linearität, diese sinnhafte Anordnung von Vergangenheit und Gegenwart, vor der die abgebrochenen Momente verblassen.

Die Frage wäre dann ja: Was genau bekämpfe ich? Kann ich überhaupt die einzelne mythische Kampagne bekämpfen, wenn diese grundlegende Auffassung noch steht, also wenn die im Alltagsverstand noch wirkmächtig ist? Kann ich das, kann ich das nicht? Weil ich notwendig verlieren muss, solange diese Grundauffassung im Hintergrund wabert? Und solange die nationale Basiserzählung noch intakt ist?

Es gibt immer diese zwei Perspektiven, nämlich zum einen die Perspektive des politischen Aktivisten, der eine bessere Gesellschaftsordnung anstrebt und die bestehende kritisiert, und die des Historikers. Häufig dient Geschichte ja politischen AktivistInnen oder sozialen Bewegungen als Ressource, um sich in sozialen, politischen Konflikten zu verorten, Argumentationspotenzial zu haben gegenüber dem politischen Gegner und um sich zu identifizieren.

Mein Interesse wäre, eine Geschichtspolitik zu entwickeln, die nicht nur nicht-mythisch ist, sondern eben auch emanzipatorisch in dem Sinne, dass man miteinander redet und nicht jemanden zuschwallert. Also nicht: Nimm jetzt hier meinen Mythos an, guck mal hier, stimmt doch alles. Sondern, dass man sich selbst verständigt: Ok, auch in der Geschichte hat es immer menschliche Unzulänglichkeiten gegeben und die müssen wir aufnehmen, weil wir eine menschliche Gesellschaft wollen, die eben auch solche Unzulänglichkeiten sowohl in Vergangenheit als auch in der Gegenwart mit einbezieht.

Viele Leute identifizieren gerade als Problem der Linken, dass es keine Gegenerzählung gibt. Das ist eine strategische Frage: Können wir uns als hybride Subjekte begreifen und trotzdem kämpfen? Oder geht das gar nicht? Müssen wir uns nicht irgendwie auf eine kollektive Identität, die mythische Züge tragen mag, einlassen, wenn wir überhaupt in Auseinandersetzungen gehen wollen?

Ich frage mich, ob ein Schreiben ohne Mythos eigentlich geht. Oder das Auslassen von Mythos überhaupt - also ob man sich dafür tatsächlich entscheiden kann. Denn das ist ja eine Frage von Objektivität: entweder ich mache das oder ich mache das nicht. Aber ich glaube, tatsächlich bewegt man sich immer dazwischen. Oder vielleicht sogar eher zu der Seite hin: Es geht nicht wirklich ohne Mythos, weil du immer dein Bild dazu im Kopf hast.

Kann man tatsächlich Geschichte von unten aufrollen? Mit Benjamin ließe sich sagen: Das, was die bürgerliche Geschichtsschreibung auszeichnet, ist unter anderem eine Linearität. Und die von unten aufzurollen, wäre doch auch eine Linearität. Oder es wäre dann nicht Geschichte. Geschichte kann ja nicht erzählt werden im Sinne von: Leute haben ihr Leben gelebt und sind zur Arbeit gegangen. Oder die hatten einen Bauernhof. Und dann hatten sie eine Tante und irgendwann sind sie tot. Das ist ja nicht Geschichte. Und dann stellt sich die Frage: Ist Geschichte nicht immer eine Linearisierung? Was erzählt man denn dann, wenn man es nicht linear erzählen will?

Mir stellt sich die Frage, wo das dann endet mit den ganzen Mikrogeschichten und Mikroperspektiven. Am Ende steht die Frage: So what? Wenn man keine größeren Bezüge mehr herstellt, weil das dann vielleicht mythisierend wäre und man das nicht einordnen will in einen sinnhaften Zusammenhang - erscheint das dann vielleicht nicht alles irgendwann total irrelevant? Weil es einem nicht dabei hilft, sich einen Begriff von der Welt zu machen oder sich politisch damit auseinanderzusetzen.

In der Lösung des Rätsels, das die politische Situation der Gegenwart stellt, kommen die Fragen nach dem Zustand der Gegenwart und die Fragen nach dem Zustand der Vergangenheit zusammen: das »Jetzt der Erkennbarkeit«. Es ist nur diese Konfrontation, die geschichtspolitisch Sinn macht, eine, die weder das Heute als geschichtsloses Ding begreift, noch der Geschichte andichtet, sie könne Antworten bieten, wenn sie allein auf weiter Flur ist.

Der Text ist ein stark gekürzter Vorabdruck aus: Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen, Till Sträter (Hg.): Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation. Westfälisches Dampfboot, Münster Mai 2012. 200 Seiten, 19,90 EUR.

Die AutorInnen

fragen nach der Funktionalisierung der Vergangenheit für die Politik der Gegenwart. Ausgangspunkt ist eine Kritik der aktuellen Konjunktur des Begriffs der »Erinnerung«, der die Vorstellung eines unmittelbaren und authentischen Bezugs auf Vergangenheit suggeriert. Es werden ausgewählte Aspekte der deutschen und spanischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht, darunter die spanische »Erinnerungsbewegung«, der Dresden-Mythos, der Gründungsmythos »Soziale Marktwirtschaft« und der Blick der »Berliner Republik« auf die DDR. Das Buch erscheint im Mai im Verlag Westfälisches Dampfboot.