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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 571 / 20.4.2012

Man muss die Piraten nicht hassen

Deutschland Die Speerspitze der »kreativen Klasse« will nicht mehr nur spielen, sie will ihr Kapital gewinnbringend einsetzen

Von Katja Kullmann

Die PiratInnen sind weniger ein politisches, als vielmehr ein soziales Phänomen: Sie fungieren als Interessenclub für das neue, erstarkende, bislang oft prekär entlohnte WLan-Bürgertum. Ihre Wahlerfolge bei der »kreativen Klasse« sind jedenfalls plausibel - und das Gegenteil einer Revolution.

Bei der Piratenpartei handelt es sich um eines der faszinierendsten Missverständnisse unserer aufgeregten Tage. Und das Missverständnis basiert ganz wesentlich auf der Betrachtungsweise. Denn wer sich mit den PiratInnen beschäftigt, hat es nicht mit einem neuen politischen, sondern mit einem neuen sozialen Typus zu tun. Nicht als Partei sind die PiratInnen interessant, sondern als Speerspitze einer bestimmten Klasse, einer neu sich definierenden Gesellschaftsschicht, die sich gerade erst selbst kennenlernt, die augenblicklich ihre Reichtümer, Schwächen und Chancen sortiert und die - vorläufig noch etwas stümperhaft, niedlich bis kindisch, womöglich unschuldig - nun erstmals über sich und ihre Interessen spricht.

Die einen verklären sie zu RebellInnen: »Endlich ein paar Leute, die sympathisch sind und es anders machen wollen!« Die anderen schimpfen die PiratInnen eine Horde von BlenderInnen. Und einige der begabtesten PiratInnen bekennen sich ganz offen, beinahe schon entwaffnend zugänglich, zu beidem - sowohl zur performativen Authentizität als auch zum programmatischen Vakuum: »Bin ich ehrlich und sage, dass ich keine Idee habe, oder stelle ich mich vor die Presse und sondere Sprachregelungen ab?« (1) Der achselzuckend vorgetragene Piratenstolz wurzelt in der Formel: »Na und? Wir sind noch jung! Guckt euch doch selber an!« Eben jener Trotz grundschülerhaften Stils kennzeichnet das piratistische Wutbürgertum. Er findet seinen Resonanzraum in einem nicht unbedeutenden Teil der Neuen Mitte - einer Masse, die sich als Zufallshorde funkelnder VollindividualistInnen begreift und die man in ihrer Massenhaftigkeit vielleicht nicht unterschätzen sollte.

Die Piratenpartei entzaubern

Man muss die PiratInnen entzaubern beziehungsweise entdämonisieren, um sie zu verstehen. Weder sind sie RebellInnen noch BlenderInnen. Weder sind sie wild, noch lügen sie. Strategische Schärfe ist von ihnen nicht zu erwarten, sie sind nicht intellektuell, eher kaufmännisch gepolt. Was ihnen zu komplex erscheint, wird mit der Vorsilbe »post« versehen und für überholt erklärt und heißt dann zum Beispiel »postgender«. Es geht ihnen vorrangig um Verfahrensweisen, Techniken, Distributionsvarianten, ganz im Stile einer übereifrigen Abteilungsleitung - nicht um Ideen, sondern um Transportwege für Ideen. Und schon gar nicht sprechen hier »die da unten« oder gar das »Antiestablishment«. (2) Eher meldet sich das next Oben zu Wort, das mutmaßliche Establishment von Morgen. Es ist die aufziehende neue (Klein)Unternehmerelite, die sich hier erstmals unter einem allgemeinverständlichen Logo versammelt.

So neu ist diese Elite, dass sie sich selbst (noch) nicht als solche erkennt oder benennt, so neu, dass sie auch von anderen (noch) nicht als solche gelesen wird. Die aufkommende Elite ist jung, derzeit nicht erkennbar wohlhabend, gibt sich hierarchiemüde, zeigt sich hervorragend ausgebildet und virtuos im Bastlerbusiness. Sie wirkt studentisch, also auf plausible Art unerfahren, und herzergreifend fehlerhaft. Selbstbestimmung ist ihr Abendgebet, wobei sie sich allerdings oftmals aus mehr oder minder bequem geerbten Ressourcen finanziert, über die altmittelständische Elternkohorte, über das Sponsoring von aufgeschlossenen Großkonzernen oder über die Rudimente des Sozialstaats. Es ist eine zwischenfinanzierte, jungerwachsene Übergangsmitte in Lauerstellung.

Schäfchen alsbald ins Trockene bringen

Statt Utopien (sie hassen dieses Wort) zu entwerfen oder die unterschiedlichen sozialen Räume zu vermessen, die der neoliberale Brachialkapitalismus in überraschender Klarheit freigelegt hat, interessieren sie sich überwiegend für ihren eigenen (medien)belesenen Raum, den sie folgerichtig zum Hauptthema und zum place to be erklärt haben.

Es sind die BloggerInnen, TwitterInnen, Flickr-MeisterfotografInnen, DaWanda-KunsthandwerkerInnen, ProgrammiererInnen, OnlinehändlerInnen, -journalistInnen und -beraterInnen, das eBay-Kleingewerbe und das freigesetzte digitale Projektmanagement, die scheinselbstständigen Socialmediabeauftragten, die Stütze beziehenden RemixkomponistInnen und VideocutterInnen, FernstudentInnen und App-EntwicklerInnen, die die PiratInnen im Visier haben. Zwar leiden all diese Leute aktuell noch unter einem gewissen Prekariatstrauma, doch ahnen einige von ihnen sehr präzise, dass sie eines Tages zu den ganz großen GewinnerInnen der kommenden Zeit zählen könnten. Es ist, in Geist und Seele, dieselbe Klientel, die einst, in den 1980er Jahren, als die Automobilindustrie boomte, Kraftfahrzeugerlebnishäuser gegründet, zehn Jahre später Werbeagenturen und Marktforschungsbüros und weitere zehn Jahre später die ersten Coffee-to-go-Theken eröffnet hat, exakt die Schicht, die einen untrüglichen Riecher für Chancen hat und darauf aus ist, ihre Schäfchen alsbald ins Trockene zu bringen - was ein durch und durch legitimes Ziel in der freien Marktwirtschaft ist. Man muss sie dafür bestimmt nicht hassen.

Es sind die Leute, die der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida vor knapp einem Jahrzehnt als »creative class« bezeichnet hat - eine Schicht, die kein historisches Imagevorbild hat und noch dabei ist, sich zu sammeln und zu formieren, oder vielmehr: sich zu formatieren. Man könnte von einem neuartigen Bürgertum sprechen, das noch nicht eindeutig als solches identifiziert werden kann. Es ist längst gezeugt, aber es liegt als unterernährtes Frühchen noch im Brutkasten. Nun ringt es um die Lebensbedingungen, die es endlich zu Kräften kommen lassen. Dieses neue Bürgertum wirkt auf den ersten Blick roher, ungeschliffener, uneindeutiger als das alte, auch, weil es sich mit verhältnismäßig neuen Produktionsweisen beschäftigt, die bis heute ein Hauch von Abenteuer umweht: das Micropreneurwesen, das Sharewareprinzip, die digitalisierte Manufakturwirtschaft. Und es verfügt eben (noch) nicht über den ökonomischen Unterbau, der ihm einen Elitenrang unzweifelhaft zuweisen würde. Sein Rohstoff, sein Reichtum und sein Knowhow sind weich, bislang schwer fassbar und noch nicht kostendeckend entlohnt: Bildung und Benehmen, Codes und Charme, Distinktionsgeschick und Ad-hoc-Cleverness.

Postangestellte Mittelstandsvision

Und ganz wie es einst das Handelsbürgertum im 15. bis 17. Jahrhundert getan hat, eine zu Beginn der Renaissance noch unterschätzte gesellschaftliche Gruppe und Kraft, so formuliert das neue digitale Bürgertum jetzt erst einmal noch etwas ungewiss und stotternd die Bedingungen, die es zu seinem Aufstieg braucht. Damals, vor vier-, fünfhundert Jahren, waren es im Wesentlichen die Zollfreiheit und der Ausbau der Handelswege - heute sind es, so wie es das Grundsatzprogramm der PiratInnen umreißt, die Abschaffung des Urheberrechts und ein »freies« Internet. »In der Tat existiert eine Vielzahl von innovativen Geschäftskonzepten, welche die freie Verfügbarkeit bewusst zu ihrem Vorteil nutzen und Urheber unabhängiger von bestehenden Marktstrukturen machen können«, heißt es bei den PiratInnen. Die kreative Klasse will nicht mehr nur spielen, sie will die Geschäfte nun in vollem Umfang aufnehmen und ihr Kapital gewinnbringend einsetzen. Die Forderung hinter allem »Transparenztüll« lautet im Kern: Freie Fahrt für freie BürgerInnen. Das, was früher einmal »Aufsteigertraum« genannt wurde, steht auch für die Nachfahren unverändert als Hoffnung am Horizont - nur dass die Hoffnung sich heute auf die Formel »digitales Existenzgründerwunder« konzentriert. Es ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als die postangestellte Variante der klassischen Mittelstandsvision.

Liquid Democracy heißt das Schlüsseltool der PiratInnen, ein Softwareprogramm, mit dem akkreditierte NutzerInnen in Foren diskutieren und über Parteianträge abstimmen können. »Liquid Democracy« ist grundsätzlich leer. Es ist nichts als eine Onlinepinnwand. Auf ihr kann es um das bedingungslose Grundeinkommen gehen oder um die Abschaffung der Zeitumstellung von Winter- zu Sommerzeit. »Direkte Demokratie« nennen die PiratInnen das - und schüren das Misstrauen an der parlamentarischen Demokratie. Statt »Fraktionsdisziplin« und »Parteiendruck« fordern sie die Stärkung von Einzelpersonen (was Korruption und Lobbyismus selbstverständlich erleichtert). Sie proklamieren eine bürgerliche Gegenwehr gegen den »Überwachungsstaat« - und lesen ihre Berliner Wahlantrittsrede vor der Bundespressekonferenz allen Ernstes von einem Applecomputer ab. Von den Idealen der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit -, die Grundlage einer jeder modernen demokratischen Verfassung sind, findet sich nur eines in ihrem Grundsatzprogramm. 44 Mal kommt dort der Begriff »Freiheit« beziehungsweise »Freiheitlichkeit« vor. Immerhin acht Mal ist von den Segnungen der »Individualität« die Rede. Ein einziges Mal taucht das Wort »Solidarität« auf.

»Im Netz haben unsere Vorstellungen über elementare Merkmale unserer realen Welt keine Gültigkeit. Begriffe wie Raum, Zeit, Nähe, Territorium, Identität, Gewalt, Ressourcen, Freiheit, Arbeit und Eigentum haben im Netz gänzlich andere Bedeutung. Das Netz wird von anderen Gesetzmäßigkeiten bestimmt«, heißt es bei den PiratInnen. Ihre Ideologie - die keine sehr neue ist, denn sie stammt aus den 1990er Jahren des vergangenen Jahrtausends - lautet: Die Ära der Ideologien ist vorüber. »Where do you want to go today?«, fragte Bill Gates in einer Microsoftkampagne schon vor ungefähr zwei Dekaden. Nun, endlich, fließen digitaler Marketingsprech und Politik als handliches Mashup organisch zusammen.

Unterdessen diskutieren, demonstrieren, protestieren weltweit gerade die Menschen, viele, überall. Und es sind nicht die Alten, die da auf die sprichwörtliche Straße gehen. Eine große Zahl von ihnen ist sogar jünger als das allerallerjüngste Mitglied der PiratInnen. Sie streiten um Gerechtigkeit und Fairness, sie nehmen ein fürchterlich altmodisches Wort wie »Umverteilung« in ihre Münder, sie wehren sich gegen eine Segregation der Städte und ein weiteres Auseinanderdriften der sogenannten sozialen Schere - es sind wirklich viele, und wirklich überall. Dem WLAN-Bürgertum fällt zu all dem wenig bis nichts ein. Es interessiert sich vor allem für das Zukunftspotenzial seines je individuellen 24-Zoll-Horizonts. Wie gesagt: Man muss sie dafür nicht hassen.

Katja Kullmann beschäftigt sich als Essayistin und Buchautorin mit Politik, Geschlechterfragen und neuen Arbeitswelten.

Dieser überarbeitete Text ist - in längerer Fassung - in »Die Piratenpartei - Alles klar zum Entern?« (Bloomsbury, Berlin 2011) erschienen.

Anmerkungen:

1) Christopher Lauer von den Berliner Piraten im Herbst 2011 bei n-tv, im Gespräch mit dem TV-Journalisten Heiner Bremer und der stellvertretenden Generalsekretärin der CSU, Dorothee Bär.

2) So der Politologe Gerd Langguth im Nachrichtenmagazin Stern (43/2011).